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Die rücksichtlose Globalisierung wird zum Verhängnis für Europa

Lesezeit: 5 min
05.08.2014 01:28
Die Globalisierung ist zu einem Wettbewerb um die niedrigsten Löhne und die schlechtesten sozialen Standards verkommen. Es geht nicht mehr um fairen Wettbewerb, sondern die Ausbeutung der Arbeiter. Die traditionellen Werte Europas wurden von einem internationalen Einheitsbrei abgelöst. Nun droht die Globalisierung, Europa selbst in den Abgrund zu reißen.
Die rücksichtlose Globalisierung wird zum Verhängnis für Europa

Kultur und Lebensstil der gesamten westlichen Welt beruhen auf dem unschätzbaren historischen Vermächtnis Griechenlands, Italiens, Spaniens, Frankreichs, Hollands, Deutschlands/Österreichs, Großbritanniens und weniger anderer europäischer Länder. Aus dessen Tiefe und bunter Vielseitigkeit sind beide entstanden und immer wieder zur Blüte gelangt. Doch heute werden sie immer mehr von einem flachen, globalen Einheitsformat bedroht.

Dieses Einheitsformat, das Kulturen und Lebensstile gleichschaltet, geht vor allem aus fünf Globalisierungszentralen hervor, die diese Entwicklung rücksichtslos vorantreiben: Washington/NewYork, London, Berlin/Frankfurt, Brüssel/EU und immer mehr Peking/Schanghai. Große Multis und Verbände der Industrie und Finanzwirtschaft treiben in diesem Sinne die Regierungen vor sich her. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler und das Gros der Journalisten leisten begeisterte Hilfsdienste, ohne die Entwicklung richtig einzuordnen zu wollen. Die neue Einheitssuppe wird überall ausgegeben. Sie allein soll Wachstum und Glück der Völker garantieren. Trotz aller Finanz- und Wirtschaftskrisen bleibt es dieselbe Suppe. Wer das zu Ende denkt, möchte sich erbrechen.

Man kann es auch als ein Netz bezeichnen, in dem wir alle gefangen und unserer demokratischer Rechte weitgehend enteignet sind (Abbildung).

So steigt der Weltexport seit vielen Jahren weit stärker als die Weltwirtschaftsleistung insgesamt (Abb. 18265). Die Weltindustrieproduktion konzentriert sich dabei immer mehr auf die Standorte mit den niedrigsten Lohnkosten, miesesten Sozialsystemen und der geringsten Repräsentanz von Gewerkschaften und oft auf zugleich höchst undemokratische Systeme, wie das chinesische. An einen fairen Wettbewerb ist unter solchen Verhältnissen nicht mehr zu denken.

Die deutsche Industrie agiert in diesem Netz als neoliberaler Verstärker in mehrfacher Weise: Sie kauft billige Vorprodukte in Osteuropa ein, um sie in ihre Exportwaren einzubauen, exportiert auf der Basis unsozial ausgebremster deutscher Löhne und rüstet den Billigstexporteur und Exportweltmeister China mit Maschinen und Anlagen zum Export auf, wobei dort das Fehlen gewerkschaftlicher Gegenmacht, eines garantierten Streikrechts sowie überhaupt demokratischer Rechte der chinesischen Wanderarbeitnehmer von den eigenen Machthabern brutal ausgenützt wird.

In wenigen Jahren seit 1990 ist der Anteil Kerneuropas in Gestalt der heutigen Eurozone am Weltexport von 38 % auf nur noch 25 % gefallen und fällt weiter und das selbst unter Einschluß des exportstarken Deutschlands; alle entwickelten Industrieländer zusammen bestreiten nur noch wenig mehr als 60 % (Abb. 18428). Was hier wegfällt, geht im Wesentlichen nach Asien und in dessen Billigststandorte.

Im Finanzbereich sieht es noch vernetzter aus. Die grenzüberschreitenden Finanzströme in entwickelte Industrieländer sind bis zum Ausbruch der Finanzkrise auf 25 % der jährlichen Wirtschaftsleistung dieses Raumes gestiegen (Abb. 18426), werden sich aber nach Ende der Krise wieder erholen. Dabei hat ihre Volatilität, also Unberechenbarkeit, immer mehr zugenommen (Abb. 18425). Allein der Weltwährungshandel pro Tag ist auf über 3,9 Billionen US$ expandiert, fast das 20-Fache der täglichen Wirtschaftsleistung der Welt, der Handel mit Wettpapieren auf Währungen und Zinsen sogar auf 9,4 Billionen US$, das 45-Fache der täglichen Weltwirtschaftsleistung (Abb. 18427). Das sind schon gespenstische Dimensionen, die das menschliche Vorstellungsvermögen sprengen.

Schon diese Entwicklung in Wirtschaft und Finanzen drückt ängsteschürend gewaltig auf traditionelle Kulturen und Lebensstile. Doch global vernetzt ist nun auch der Kulturbereich selbst. Die USA dominieren nach einer Übersicht der UNESCO die weltweite Produktion und den Handel mit modernen Kulturgütern. Dieser Handel hat sich über die achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts etwa vervierfacht und nimmt weiter zu. Mehr als die Hälfte der fünfzig weltgrößten Produzenten von audiovisuellen Produkten sitzen in USA, und 85 Prozent aller in der Welt gedrehten Filme entstehen in Hollywood. Zum ersten Mal überholten schon 1996 Kulturgüter die klassischen amerikanischen Exportprodukte, wie Kraftfahrzeuge, Agrargüter, Flugzeuge oder Rüstungsgüter. An der Spitze der audiovisuellen Produktion stehen mit AOL-TimeWarner, Disney und News Corporation riesige Konglomerate. Gleichzeitig beherrschen die USA die Technologien, die hinter der Verbreitung von Kulturgütern stehen, vor allem das Internet und das Satellitenfernsehen. Von den vierzehn Top-Internetunternehmen sollen dreizehn amerikanische sein, das vierzehnte britisch. Amerikanische Unternehmen sollen fast zwei Drittel des globalen Geschäfts mit Informationstechnologie und drei Viertel dessen mit Software besetzt haben.

Global beherrschen nach Prof. Bernd Hamm in seinem Essay von 2007 „Medienmacht - wie und zu wessen Nutzen unser Bewußtsein gemacht wird“ nur sechs große Medienkonzerne heute den Weltmarkt: AOL Time Warner, Disney, Vivendi, Viacom, Bertelsmann und die News Corporation - ein riesiger Apparat zur Gehirnwäsche und Gleichschaltung der Kulturen.

Am deutlichsten sichtbar wird diese kulturelle Gleichschaltung in den Eßgewohnheiten, die um den Globus herum sehr stark von den gleichen amerikanischen Fast-Food-Ketten bestimmt werden. Sebst Frankreich, das auf seine Küche immer stolz war, unterwirft sich in Teilen diesem „malbouffe“.

Die meisten von uns zappeln nun - meist ohne es zu wissen - in diesem vielfach geknüpften globalen Netz und bedienen die Tretmühle, an die sie gekettet sind, immer schneller. Hätten diese Verhältnisse schon in früheren Jahrhunderten bestanden, hätte in Europa die uns noch immer, wenn auch abnehmend prägende Kultur gar nicht erst entstehen können.

Doch die Globalisierer drängen noch weiter. Eine weitere große Welthandelsrunde, die die Grenzen für Waren der Multis und für oft gedumpte Produkte noch weiter aufreißen soll, wird seit Jahren in der Welthandelsorganisation betrieben. Über ein allumfassendes Abkommen zwischen der EU und den USA, das die Interessen investierender Multis über elementare Rechte der Bürger, wie im Umweltbereich, stellen soll, wird demnächst verhandelt. Die EU soll noch weiter ausgedehnt werden, worauf der restliche Teil des Balkans, die Türkei und auch noch die Ukraine warten - noch einmal 132 Millionen Menschen aus miesesten Sozialverhältnissen mit billigster Arbeit mehr (Abb. 18405).

Der Kultur und traditionellen Lebensstil störende bis vernichtende Effekt der Hyperglobalisierung kommt zusätzlich aus den damit verbundenen systemischen Unsicherheiten, die im Tempo des Globalisierungsprozesses gewachsen sind. Waren früher nationale Volkswirtschaften und Sozialsysteme noch gegen äußere Schocks wenigstens teilweise schützbar, so ist in der Hyperglobalisierung solcher Schutz nicht mehr möglich. Globale systemische Risiken haben überwältigende Proportionen angenommen, von Finanzkrisen, wie der noch anhaltenden, über Unterbrechungen der globalen Versorgungsketten durch Erdbeben und Überflutungen (siehe Japan und Tailand in 2011) bis zu pandemischen Krankheiten und Brüchen in den globalen Umweltsystemen. Eine drohende Zinssteigerung in USA läßt die Börsen auch in Europa abstürzen. Selbst politische Krisen, wie die in der Ukraine, können durch Wirtschaftssanktionen sehr schnell unerwartete und nicht berechenbare globale Dimensionen annehmen. Überall fehlt es an einem vernünftigen Management des Globalisierungsprozesses. Unsere an MBA-Schmieden ausgebildeten Manager und erst recht die von der Wirtschaft abhängigen und oft von ihr finanzierten politischen Eliten sind dafür wenig geeignet.

Diese Form von Globalisierung hat sicher einigen Ländern, wie China, genützt. Den Massen an Bevölkerung in den entwickelten Industrieländern und auch in Deutschland hat sie dagegen wegen des Konkurrenzdrucks aus den Niedrigstlohnländern schlechtere Sozialverhältnisse, geringere Löhne, unsicherere Arbeitsverhältnisse und ein belastenderes Leben gebracht. Der Mangel an Massen-Einkommen wurde zeitweise bis zur Krise durch Öffnen der Kreditschleusen und niedrige Zinsen der Notenbanken überbrückt. Und dennoch ging das Wirtschaftswachstum immer weiter zurück (Abb. 15837, 14871). In dieser Lage sicherten die wohlhabenden Kreise ihre Pfründe und schraubten die Aufstiegsmobilität immer mehr gegen Null. Sollen sich die so betroffenen Mehrheiten wirklich für eine solche Globalisierung begeistern?

Selbst glühende Befürworter der Globalisierung, wie der Oxford Professor für Globalisierung und Entwicklung, Ian Goldin, fordern inzwischen ein weit besseres Management der Globalisierung ein. Dazu Goldin:

„Die Globalisierung ist es wert, verteidigt zu werden, denn sie ist die Quelle des größten Fortschritts, den die Welt erlebt hat. Aber sie muss sorgfältig gemanaged werden, weil sie sonst von den Kräften systemischen Risikos, das sie freigesetzt hat, überwältigt wird. Die Regierungen müssen sich darauf konzentrieren, eine widerstandsfähige Globalisierung aufzubauen, die besser gemanaged ist und Schocks besser aushalten kann.“

Man kann allerdings zweifeln, ob die Regierungen solchem Rat nachkommen. Am Ende werden sich nur starke populistische Gegenbewegungen, wie sie jetzt ansatzweise in einigen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich, in Stellung gehen, diesen ausufernden Entwicklungen einer Hyperglobalisierung noch entgegenstellen und damit Kultur und Lebensstil des alten Europas wenigstens in Teilen seiner Reste bewahren können. Es ist schier unglaublich, wie blind unsere politische Elite für unsere nicht an der Börse gehandelten Werte geworden ist. Man kann diese Form von Globalisierung auch als die Pest unserer Tage bezeichnen.

Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäisc

he Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.

Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.

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