Politik

Die Hysterie um Nowitschok und das Gift der Theresa May

Lesezeit: 6 min
17.04.2018 01:08
Peter Vonnahme, früherer Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, sieht eine gefährliche Preisgabe rechtsstaatlicher Prinzipien im Fall des angeblich vergifteten Doppelspions Sergej Skripal.
Die Hysterie um Nowitschok und das Gift der Theresa May

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Nur wenige Stunden nach dem Giftanschlag auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal beschuldigte die britische Regierungschefin Theresa May Russland als Urheber des Verbrechens. Ihr Außenminister Boris Johnson ging noch einen Schritt weiter und machte den russischen Präsidenten Putin persönlich verantwortlich. Es sei „äußert wahrscheinlich“, dass dieser die Anwendung des Nervengifts angeordnet habe, sagte Johnson. Begleitend hierzu wies die britische Regierung 23 russische Diplomaten aus und drohte weitere Sanktionen an. In blinder Bündnistreue unterstützten die USA, Frankreich, Deutschland sowie 21 weitere EU- und NATO-Staaten das britische Vorgehen und verwiesen in einer Gemeinschaftsaktion 140 russische Diplomaten des Landes.

All das ist erfolgt, obwohl keine Belege für die Vorwürfe vorgelegt worden sind. Ein Großteil der deutschen Zeitungen und Rundfunk- und Fernsehanstalten versagten – wieder einmal – kläglich. Sie ergriffen Partei gegen Russland und vergaßen, dass sie zu Sorgfalt, Objektivität und Wahrhaftigkeit verpflichtet sind.

Das Geschehen erinnert fatal an die Vorverurteilungen Russlands beim Absturz der malaysischen Passagiermaschine MH17 im Juli 2014 in der Ostukraine (vgl. dazu Vonnahme).Nach dem Bericht einer internationalen Untersuchungskommission steht die Absturzursache fest. Die zentrale Frage, wer dafür die Verantwortung trägt, ist jedoch nach wie vor ungeklärt.

Konflikt mit Russland gewollt

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Konflikt mit Russland gewollt ist.

Paul Schreyer schrieb in Telepolis: „Die Anti-Russland-Hysterie hat sich zu einer waschechten Paranoia ausgewachsen, gegen die zunehmend selbst absurdeste Verschwörungstheorien harmlos erscheinen."

Nunmehr veröffentlichte das Forschungszentrum Porton Down des britischen Verteidigungsministeriums seinen Untersuchungsbericht zum Giftanschlag von Salisbury. Danach hat das Militärlabor keine Beweise dafür gefunden, dass das beim Anschlag auf Sergej Skripal verwendete Nervengift in Russland hergestellt worden ist. „Wir konnten es als Nowitschok identifizieren“, sagte der Leiter des Labors, Gary Aitkenhead. Zur Klärung der Herkunft des Nervengiftes wären noch weitere Informationen nötig, die jedoch nur der Regierung zugänglich seien. Theresa May hat diese Informationen nicht geliefert. Hat sie Angst vor dem Ergebnis?

Ergänzend zum Laborbericht schrieb der frühere britische Botschafter Craig Murray auf Rubikon: „Es ist schlicht eine Tatsache, dass Russland nicht das einzige Land ist, das das Nervengift hergestellt haben könnte: Dutzende wären dazu in der Lage. Es könnte auch von vielen nichtstaatlichen Akteuren gefertigt worden sein. (…) Boris Johnson hat gelogen, was die sichere Herkunft des Nervengiftes angeht, (...).“

Der ehemalige EU-Kommissar Günther Verheugen sagte in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen vom 27. März 2018: „Die Argumentation im Fall Skripal erinnert mich ein bisschen an eine Urteilsverkündung nach dem Motto: Die Tat war dem Beschuldigten zwar nicht nachzuweisen, aber es war ihm zuzutrauen.“

In dubio pro reo

Großbritannien und seine willfährigen Unterstützer müssen sich fragen lassen, ob ihre Vorgehensweise mit den rechtsstaatlichen Prinzipien, auf die sie sich immer berufen, vereinbar ist. In Rechtsstaaten gilt nämlich das Prinzip der Unschuldsvermutung (in dubio pro reo). Ein Beschuldigter muss nicht beweisen, dass er unschuldig ist (was aus logischen Gründen auch gar nicht möglich ist). Vielmehr haben die Ankläger die Beweislast. Beweise für die behauptete Täterschaft Russlands bzw. Putins haben May, Johnson & Co. bis heute nicht vorgelegt. Haben sie die Welt getäuscht?

Auf den Giftanschlag Skripal angewendet bedeutet Unschuldsvermutung: Selbst wenn man – dem Laborbericht folgend – davon ausgeht, dass beim Mordversuch Nowitschok verwendet wurde und dass dieses Gift in den 70er Jahren in der ehemaligen Sowjetunion entwickelt wurde, ist man juristisch nicht viel weiter. Denn es steht weder fest, dass Russland das Gift im Jahre 2018 noch hatte, noch ist bekannt, wieviele andere Staaten und Organisationen gleichfalls über Nowitschok verfügen. Und selbst, wenn man wüsste, dass das in Salisbury eingesetzte Gift seinen Ursprung in Russland hatte, würde das nicht bedeuten, dass der Giftanschlag dem Staat Russland bzw. seinem Präsidenten anzulasten ist. Das wäre selbst dann noch nicht möglich, wenn ein russischer Staatsbürger als Täter überführt werden könnte. Denn der Präsident ist naturgemäß nicht für alle Straftaten seiner Landsleute persönlich verantwortlich. Für die Verfolgung des Verbrechens wären wie in allen Kriminalfällen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte zuständig. Erst dann, wenn die Ermittlungen ergäben, dass der Verbrecher im Auftrag Russlands oder gar des russischen Präsidenten gehandelt hat, läge eine Straftat mit internationalen Auswirkungen vor. Frühestens beim Nachweis einer solchen politischen Verwicklung wären Premierministerin und Außenminister am Zuge und Beschuldigungen und Sanktionen gegen Russland vertretbar.

Vergiftung des Denkens

Die Vorstellung, dass Putin oder Russland im Zweifel immer verantwortlich sind, ist rechtlich unhaltbar. Sie beruht auf einer Vergiftung des Denkens. Die aggressive Propaganda des Westens gegen Russland hat in den letzten Jahren geradezu hysterische Ausmaße angenommen. Sie deutet auf eine choreographierte Kampagne hin, die Russland als Schurkenstaat und internationalen Paria verunglimpfen will. Trotz berechtigter Kritik an Teilaspekten der russischen Politik ist die gegenwärtige Hetze verantwortungslos, denn sie treibt die Welt in einen neuen Kalten Krieg.

In der gemeinsamen Erklärung Deutschlands, Frankreichs und der USA heißt es: „Wir teilen die Einschätzung des Vereinigten Königreichs, dass es keine plausible alternative Erklärung gibt.“ Diese Begründung macht in ihrer Schlichtheit sprachlos.

Welcher Richter, der Herr seiner Sinne ist, würde eine des Gattenmordes angeklagte Ehefrau mit der lapidaren Begründung verurteilen, dass sie – und nur sie – wegen ihrer krankhaften Eifersucht als Mörderin in Betracht komme; weitere Erklärungen für den Mordfall müssten gar nicht erst erwogen werden. Beim Skripal-Verbrechen verfuhren die westlichen Staaten aber genau nach diesem Muster. Doch schon bei flüchtigem Nachdenken ergeben sich zahlreiche Tatvarianten, die nichts mit Russland zu tun haben: vom eifersüchtigen Nebenbuhler bis zum geldgierigen Oligarchen, vom mafiösen Untergrundkämpfer bis zum Geheimdienstagenten irgendeines Landes. Mordmotive finden sich überall – wenn man der kriminalistischen Phantasie Raum gibt. Bezugsquellen für Nowitschok offensichtlich auch.

Was spricht für die Täterschaft Putins?

Abgesehen davon, welches Motiv sollte Putin haben, einen Ex-Agenten, der vor fast 10 Jahren ausgetauscht (begnadigt) worden ist, jetzt ermorden zu lassen? Eine Antwort auf diese Frage steht aus. Doch angenommen, Putin hätte ein Mordmotiv, wie wahrscheinlich wäre dann ein Giftanschlag ausgerechnet mit Nowitschok? Jeder Trottel könnte sich ausmalen, dass der Verdacht unweigerlich in Richtung Russland gelenkt würde. Wieviel unverfänglicher wäre hingegen ein anonymer Schuss aus dem Hinterhalt, ein „Sturz“ in den U-Bahn-Schacht oder von einer Felsenklippe? Und weiter, warum in Gottes Namen sollte Putin nur wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl, bei der er laut Umfragen uneinholbar vorne lag, einen Mordauftrag für einen mittlerweile bedeutungslosen Ex-Agenten in Großbritannien geben? Welchen Nutzen hätte er davon gehabt? Und schließlich, welchen Sinn hätte es, wenige Monate vor der für Russland so wichtigen Fußball-WM einen Giftmord anzuordnen, wohl wissend, dass damit den westlichen Bemühungen für einen WM-Boykott neuer Auftrieb verliehen wird? Kann man sich ernsthaft vorstellen, dass der Schachspieler und gewiefte Taktiker Putin so töricht ist?

Cui bono?

Bei nüchterner Überlegung unter Beachtung der bewährten kriminalistischen Fragestellung, wem nützt die Tat (cui bono?), werden andere Interessenlagen und andere Profiteure des Mordanschlags sichtbar:

  • Naheliegend wäre beispielsweise ein kalkuliertes innenpolitisches Manöver der britischen Regierung, um vom Brexit-Desaster abzulenken (das ist gelungen!).
  • Denkbar wäre auch ein Versuch, den Putin-Wahlkampf negativ zu beeinflussen (das wäre allerdings gründlich misslungen!).
  • Schließlich könnte auch die Vorstellung eine Rolle gespielt haben, man könne Putin durch ständige Provokationen und Verdächtigungen zu einer unbedachten Gegenrektion veranlassen, um dadurch einen Anlass für zusätzliche Wirtschaftssanktionen zu bekommen.
  • Letztlich ist auch nicht auszuschließen, dass der Giftanschlag auf Skripal Teil eines langfristig angelegten Plans mit dem Ziel ist, Russland wirtschaftlich, politisch und militärisch zu destabilisieren. Der Gedanke eines regime change ist ein bewährtes Mittel US-amerikanischer Hegemonialpolitik. Ein solches Bemühen ist auch mit Blick auf Russland plausibel (Nafeez Ahmed auf Rubikon).

    Dieses Szenario findet sich auch im Klassiker der US-Langzeitstrategie, dem Buch DIE EINZIGE WELTMACHT des langjährigen US-Präsidentenberaters Zbigniew Brzezinski, Beltz Quadriga Verlag, 4. Aufl., 2001.

Ich will nicht missverstanden werden. Die hier angedeuteten Denkmodelle sind spekulativ und nicht beweisbar, aber sie sind logisch nicht ausschließbar. Damit fällt die britische Arbeitshypothese, es gebe für den Skripal-Giftanschlag außer der russischen Täterschaft keine plausible Erklärung, krachend in sich zusammen.

Zurückhaltung geboten

Zusammenfassend bedeutet das, dass die von Theresa May und Boris Johnson erhobenen Schuldzuweisungen an Russland und Putin zumindest voreilig und leichtfertig waren. Wahrscheinlich sind sie sogar bellizistisch.

Für die Unterstützerstaaten, insbesondere auch für Deutschland, wäre Zurückhaltung geboten gewesen. Zum einen steht es Deutschland aus seiner historischen Verantwortung nicht zu, sich gegenüber Russland überheblich und oberlehrerhaft zu gebärden. Zum anderen sollte das Wissen darüber, dass die USA und Großbritannien die internationale Staatengemeinschaft schon mehrfach im Vorfeld von (beabsichtigten) Kriegen hinters Licht geführt haben, zu Vorsicht mahnen. So behauptete beispielsweise der britische Premier Tony Blair im September 2002, dass der Irak über ein biologisches und chemisches Arsenal verfüge, das Saddam Hussein innerhalb von 45 Minuten aktivieren könne. Das war eine Lüge. Kurze Zeit später begann der verheerende Irakkrieg.

Weitere Beispiele propagandistischer kriegsvorbereitender Lügen sind der „Tonkin-Zwischenfall“ (1964), die „Brutkastenlüge“ (1991), der sogenannte „Hufeisenplan“ (1999) und die „Yellowcake-Lüge“ (2003). Ist das alles vergessen?

Gerechtes Russlandbild

Es ist an der Zeit, zu einem vernünftigen Umgang mit Russland zurückzufinden. Das Zerrbild, das heutige Russland sei primär ein friedloser, unglaubhafter und inhumaner – eben „kommunistischer“ – Nachfolgestaat der Sowjetunion muss überwunden werden. Es ist dies ein Stereotyp, der durch die Geschichte der letzten Jahre nicht gedeckt wird.

Genauso verkehrt ist es, „den Westen“ für prinzipiell friedliebend, menschenfreundlich und gerecht zu halten und ihn zur Richtschnur für die Welt zu machen. Hilfreich wäre es, bei Beurteilungen von Konflikten stets die gleichen Maßstäbe anzulegen. Dann wären Fehleinschätzungen und gefährliche Zuspitzungen wie beim Skripal-Verbrechen vermeidbar. Überdies ist es absolut sinnlos, wegen eines ungeklärten Verbrechens den Weltfrieden in Gefahr zu bringen. Die praktizierte Eskalationspolitik dient weder deutschen noch europäischen Interessen. Feststeht nämlich, dass eine gedeihliche Zukunft Europas nicht gegen, sondern nur mit Russland möglich ist.

***

Peter Vonnahme war bis zu seiner Ruhestandsversetzung 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Er ist Mitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA). Von 1995 bis 2001 war er Mitglied des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung (NRV). In den vergangenen Jahren war er publizistisch tätig.

 

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