Politik

Caritas: Renten-Erhöhung darf nicht nur reichen Rentnern nützen

Lesezeit: 4 min
27.02.2017 01:07
Georg Cremer, Generalsekretär der Deutschen Caritas, warnt vor einer falschen Debatte um die Renten: Eine Rentenerhöhung bevorzuge reiche Rentner, während arme Alte benachteiligt werden.
Caritas: Renten-Erhöhung darf nicht nur reichen Rentnern nützen

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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Herr Cremer, die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, immer mehr Menschen steht der soziale Abstieg bevor, der Sozialstaat wird ausgehöhlt, der Wind, der uns ins Gesicht bläst, wird rauer und kälter. Stimmt diese Bild?

Georg Cremer: Nein, so stimmt das nicht. Die Einkommensungleichheit ist heute höher als in den Jahren nach der Wiedervereinigung, das stimmt. Aber der Anstieg der Ungleichheit war in den Jahren zwischen 1998 und 2005, danach ist die Schere nicht weiter auseinandergegangen. Die Regierung Kohl hatte hohe Einigungskosten ist den Lohnnebenkosten versteckt, die Öffnung der Märkte in Osteuropa bedrohte Jobs in Deutschland, die Arbeitslosigkeit war auf dem Rekordhoch. In dieser Situation akzeptierten Gewerkschaften und Betriebsräte Zugeständnisse bei den Löhnen. Dies führte dazu, dass die Erwerbseinkommen ungleicher wurden. Die Armutsrisikoquote ist in diesen Jahren dann auch tatsächlich von 11 auf 15 Prozent angestiegen. Seit 2005 hat sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt allerdings verbessert. Die Einkommensungleichheit ist seit etwa 10 Jahren einigermaßen stabil. Es ist also nicht so, dass alles kontinuierlich immer schlimmer wird. Es hat sich allerdings auch nicht die Hoffnung erfüllt, dass die Armutsrisikoquote wieder zurückgeht. Bei allen Problemen, die wir natürlich angehen müssen, wir sind nicht im Niedergang.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie kommt es dann, dass sich in der Bevölkerung ein Gefühl der Verunsicherung breit macht? Oder täuscht der Eindruck?

Georg Cremer: In einer Allensbach-Umfrage sagen rund 75 Prozent der 30- bis 59-Jährigen, es ginge ihnen gut oder sehr gut, gleichzeitig sagen zwei Drittel, die wirtschaftlichen Verhältnisse seien ungerecht. Die Stimmungslage scheint gemischt zu sein. Es gibt die Neigung, unter anderem bei Medien und Sozialverbänden, die Verhältnisse schlechter zu reden als sie sind. Je dramatischer die Darstellung der Lage, desto mehr Aufmerksamkeit. Doch ich mahne dazu, mit der Rhetorik auf dem Teppich zu bleiben. Dieser permanente Untergangsdiskurs kann populistische Kräfte stärken

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Meinen Sie damit die AFD?

Georg Cremer: Vor dem Referendum zum Brexit war ich sehr zuversichtlich, dass sich die Briten für den Verbleib in der EU entscheiden würden. Ich wurde eines Schlechteren belehrt. Einen Wahlsieg von Donald Trump in den USA hatte ich nicht für möglich gehalten. Doch nun ist er Präsident. Jetzt stehen die Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich an. Ganz so zuversichtlich bin ich inzwischen nicht mehr, dass das gut geht. Ein paar vermeintlich identitätsstiftende Formeln, etwas Sozialpopulismus und das Versprechen, durch Abschottung in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit zurückkehren zu können, scheint heutzutage zu verfangen. Auch in Deutschland – auch wenn hierzulande die AfD derzeit keine Chance hat, mitzuregieren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sind denn die etablierten Parteien frei von sozialpopulistischen Attitüden?

Georg Cremer: Unter den im Bundestag vertretenen Parteien ist der Ton meist weitgehend akzeptabel. Ich hoffe das bleibt so. Aber auch bei uns kann das Thema Armut missbraucht werden. Ein Beispiel ist die aktuelle Rentendebatte. Es wird über eine Rentenerhöhung diskutiert. Das ist natürlich eine legitime Frage für einen Bundestagswahlkampf. Nicht legitim ist es aber, dies als Teil des Kampfes gegen Altersarmut zu verkaufen. Denn von einer Erhöhung des Rentenniveaus von 2 oder 3 Prozent würden die Bezieher von höheren Renten naturgemäß am meisten profitieren. Menschen, die auf eine Grundsicherung im Alter angewiesen sind, hätten davon gar nichts, weil die kleine Rentenerhöhung bei der Berechnung der Grundsicherung wieder vollständig in Abzug gebracht würde. Alten Armen darf nicht alles abgezogen werden, was sie sich mühsam erarbeitet haben. Um ihnen wirklich zu helfen, muss man auch die Beträge von Hartz IV und Grundsicherung anheben. Sie sind auf Kante genäht. Die Caritas plädiert aufgrund ihrer Berechnungen für eine Erhöhung um 60-80 Euro. Das wären dann für einen Alleinstehenden 464 bzw. 484 Euro zuzüglich der Kosten der Unterkunft. Dann hätten Grundsicherungsempfänger etwas mehr Flexibilität. Laut Bundesverfassungsgericht ist bei jedem ein „Mindestmaß an Teilhabe“ zu wahren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Glauben Sie denn, dass sich Altersarmut in Zukunft zu einem größeren Problem auswachsen wird?

Georg Cremer: Es gibt Bevölkerungsgruppen, die davon betroffen sein werden, insbesondere Langzeitarbeitslose und nicht abgesicherte Soloselbständige. Auch wer in seinem Berufsleben immer nur zum Mindestlohn arbeitet, ist im Alter auf ergänzende Grundsicherung angewiesen und damit nicht besser gestellt als jemand, der nie eingezahlt hat. Dieses Gerechtigkeitsdefizit muss man angehen. Präventiv wirkt auch bessere Bildung. Je besser Menschen ausgebildet sind, desto geringer ist das Risiko, dass sie lange arbeitslos sind.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was ist mit all denen, die im Niedriglohnsektor arbeiten? Haben sie mehr Geld zur Verfügung als diejenigen, die nicht erwerbstätig sind?

Georg Cremer: Die Zuverdienstregeln bei Hartz IV sorgen dafür, dass der, der Vollzeit arbeitet,  300 Euro, und wenn ein Kind bei ihm lebt 330 Euro mehr in der Tasche hat als ein Bezieher von Arbeitslosengeld, der nicht arbeitet. Es ist zwingend notwendig, dass ein gewisser Abstand gewahrt bleibt. Das darf aber nicht die einzige Antwort auf den Niedriglohnsektor sein. Unser Hauptproblem ist, dass der wachsende Dienstleistungssektor nur sehr ungenügend gewerkschaftlich organisiert ist.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie ist die Lage in anderen Ländern der EU? Aus Griechenland beispielsweise hört man ja wenig Ermutigendes.

Georg Cremer: Wir brauchen eine soziale Mindestsicherung in allen Mitgliedsstaaten. Die sollte sich  am Lebensstandard der einzelnen Länder orientieren. Allerdings sind wir davon noch weit entfernt.

 ***

Georg Cremer, Jahrgang 1952, ist seit 2000 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes e. V. und dort im Vorstand für Sozialpolitik zuständig. Der habilitierte Volkswirt lehrt als apl. Professor an der Universität Freiburg.

In seinem Buch „Armut in Deutschland“ räumt Georg Cremer mit einigen verbreiteten Irrtümern und Fehlinterpretationen auf und zeigt, wo die Probleme wirklich liegen. Er legt dar, wo der Sozialstaat sich selbst im Weg steht, und plädiert für einen breiten Ansatz der Armutspolitik.

Die Armutsdebatte in Deutschland nützt den Armen nicht. Sie bietet keine Orientierung darüber, wie Armut wirksam zu bekämpfen ist. Die Superlative der Skandalisierung rütteln nicht auf, sondern stumpfen ab. Und sie befördern die Angst in der Mitte der Gesellschaft, die sich ohnehin bereits im Abstieg wähnt. Das schadet den Armen, denn gegen der Widerstand der Mitte ist Menschen am Rande der Gesellschaft nicht wirksamn zu helfen. Das Buch wirft einen nüchternen Blick auf die Problemzonen und Herausforderungen der Armutspolitik.

Georg Cremer: „Armut in Deutschland“. C.H. Beck Verlag, 271 Seiten, 16,95€. Bestellen Sie das Buch hier direkt beim Verlag.

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