Politik

Pro Asyl erwartet neue Flüchtlingsbewegung aus der Türkei

Lesezeit: 4 min
20.07.2016 17:54
In Bayern und Mazedonien wurden Flüchtlinge aufgegriffen, die aus der Türkei gekommen sein sollen. Pro Asyl warnt vor einer neuer Flüchtlingsbewegung. Die Bundesregierung ist „zutiefst besorgt“. Es ist nicht bekannt, ob die Bundesregierung Vorsorge getroffen hat, um internationale und islamistische Söldner aus Syrien rechtzeitig zu identifizieren. Maßnahmen zum Schutz der deutschen Grenze sind nicht geplant.
Pro Asyl erwartet neue Flüchtlingsbewegung aus der Türkei

Mehr zum Thema:  
Europa >
Benachrichtigung über neue Artikel:  
Europa  

Die Polizei hat in Bayern acht minderjährige Afghanen aus einem verschlossenen Lkw-Auflieger befreit. Der Lkw-Fahrer konnte sich demnach nicht erklären, wie oder wann die acht Jugendlichen auf seinen Lkw kamen. Er habe den verplombten Auflieger in der Türkei übernommen und sei über Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich bis nach Deutschland ausschließlich selbst gefahren. Die Polizei hielt die Angaben für glaubhaft und ließ den Mann weiterfahren.

Der bulgarische Fahrer hatte während einer Pause auf der Rastanlage Samerberg Nord an der Autobahn 8 am Dienstagnachmittag Klopfgeräusche aus dem verplombten Auflieger seines Fahrzeugs gehört und selbst die Behörden verständigt, wie die Bundespolizei am Mittwoch in München mitteilte. Die Minderjährigen kamen demnach in die Obhut des Rosenheimer Jugendamts.

Die jungen Männer gaben an, sie seien in Serbien mit verbundenen Augen in den Lkw gebracht worden. An die Schleusung zuvor könnten sie sich nicht genau erinnern, weil sie während des Transports bis nach Serbien immer wieder mit einer betäubenden Substanz besprüht worden seien und deshalb mitunter mehrere Stunden lang das Bewusstsein verloren hätten.

Die mazedonische Polizei hat laut AFP bei einem Großeinsatz 19 mutmaßliche Schlepper festgenommen, darunter fünf Polizisten. Die Schlepper hätten seit 2015 gegen Zahlung von 500 bis 1000 Euro pro Flüchtling mindestens 559 Menschen illegal durchs Land geschleust, teilte Innenminister Mitko Cavkov am Mittwoch in Skopje mit. Sie würden wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Amtsmissbrauchs angeklagt.

Die Polizeioperation erstreckte sich auf 24 Ortschaften, die fünf festgenommenen Polizisten waren in Veles im Einsatz. Vier Verdächtige werden noch gesucht. Über die sogenannte Balkanroute kamen seit 2015 hunderttausende Flüchtlinge von der Türkei über Griechenland und Mazedonien nach Nordwesteuropa. Seit März ist die Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland weitgehend abgeriegelt.

Kleineren Gruppen von Flüchtlingen aus Afghanistan, dem Irak und aus Syrien gelingt es aber weiterhin, nach Westeuropa durchzukommen. Serbien hat zur Verstärkung des Grenzschutzes inzwischen die Armee mobilisiert. Auch in Mazedonien und Ungarn sind die Streitkräfte im Einsatz.

Die Bundesregierung hat das Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nach dem gescheiterten Militärputsch scharf kritisiert. "Fast täglich kommen neue Maßnahmen hinzu, die einem rechtsstaatlichen Vorgehen widersprechen, die das Gebot der Verhältnismäßigkeit außer Acht lassen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin laut AFP. Es gebe "gar keinen Zweifel", dass die Entwicklung in der Türkei "zutiefst besorgniserregend" sei, sagte Seibert. Der Regierungssprecher erinnerte daran, dass sich die türkische Bevölkerung in der übergroßen Mehrheit gegen den Umsturzversuch des Militärs gestellt habe. "Diese Menschen verdienen es doch allesamt, dass ihnen der Rechtsstaat erhalten bleibt", sagte er.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe ihre Besorgnis in einem Telefonat mit Erdogan am Montag persönlich zum Ausdruck gebracht.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl rechnet wegen der Lage in der Türkei mit der Zuwanderung von Flüchtlingen aus dem Land. „Wenn sich die Lage weiter verschlechtert und die Hexenjagd gegen jegliche Opposition in der Türkei weitergeht, dann wird es eine Flüchtlingsbewegung Richtung Europa geben“, sagte der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl, Bernd Mesovic der Neuen Osnabrücker Zeitung.

In diesem Fall rechnet Mesovic damit, dass Deutschland aufgrund der vielen hierzulande bereits lebenden Menschen türkischer Abstammung eines der Ziele sein könnte. „Hier gibt es ja bereits eine türkische Gemeinde, die türkische Bürger anziehen wird“, sagte er. Allerdings könne es sein, dass bis zu einer größeren Fluchtbewegung noch einige Zeit vergeht: „Solange Menschen Hoffnung auf Veränderung haben, bleiben sie in ihrem Land.“

Sollte Erdogan wirklich wie derzeit diskutiert in der Türkei die Todesstrafe wieder einführen, wäre dies ein weiteres Signal für eine Abkehr von den Menschenrechten, warnte Mesovic. Schon jetzt sei die Türkei „kein sicherer Herkunftsstaat und missachtet die Menschenrechte“. Der Pro Asyl-Vize forderte daher von der EU, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu kündigen. Die EU dürfe in der Flüchtlingspolitik nicht mit Autokraten zusammenarbeiten.

Die UN hatten bereits Monate vor dem Putsch gegen den EU-Deal protestiert. Er ist das Kernstück der Strategie von Merkel, um die Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten von der EU fernzuhalten. Die Kämpfe in Syrien nahmen nach den Erfolgen der syrischen Armee in dieser Woche erneut zu: Die USA und Frankreich flogen verstärkt Luftangriffe. Die syrische Regierung fordert die West-Allianz auf, sich mit der syrischen Armee abzusprechen.

Politiker von Grünen und Linken riefen Merkel dazu auf, Verfolgten in der Türkei Asyl anzubieten. "Die Bundesregierung ist gut beraten, politisch Verfolgten aus der Türkei Schutzperspektiven in Deutschland zu bieten", sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck der "Huffington Post".

Die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke sagte dem Onlineportal: "Das Mindeste, was die Bundesregierung jetzt zur Schadensbegrenzung beitragen kann, ist es, den Opfern des AKP-Regimes Asyl anzubieten." Die Ereignisse der letzten Tage sollten der Bundesregierung "ein für alle Mal verdeutlicht haben, dass Erdogans Türkei kein sicherer Herkunftsstaat ist".

Ob die Identität der aus der Türkei einreisenden Personen zweifelsfrei festgestellt werden kann ist unklar. Erst vor wenigen Tagen hatte Bundeskanzlerin Merkel eingeräumt, dass die Terror-Miliz bereits jetzt Kämpfer unter die Flüchtlinge schmuggle. Nachdem sich die Lage der islamistischen und internationalen Söldner durch die militärischen Erfolge der syrischen Regierung in Aleppo verschlechtert, ist damit zu rechnen, dass viele der Söldner versuchen werden, das Land zu verlassen. Es ist unklar, ob die deutschen Behörden Kenntnis über die Identität der Einreisenden haben. Eine Schließung der deutschen Grenzen, um die Einreisen ordnungsgemäß überprüft werden können, wird aktuell nicht in Erwägung gezogen. Lediglich Bayern hatte am Dienstag eine Begrenzung des Zuzugs gefordert.

Die Bundesregierung warnt davor, nach dem Zug-Attentat bei Würzburg Flüchtlinge unter einen Generalverdacht zu stellen. "Die grausame Tat eines Einzelnen kann nicht eine Gruppe von vielen Tausend diskreditieren", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in Berlin. Bei den Anschlägen in jüngster Zeit wie etwa in Paris, Brüssel und Nizza seien die Täter in den meisten Fälle keine Flüchtlinge gewesen, sondern zum Teil in Europa geboren oder lebten schon sehr lange Zeit dort.

Bundesinnenminister Thomas de Maiziere sagte, die Anschlagsgefahr sei unabhängig von den Flüchtlingen hoch. Allerdings könne man auch nicht sagen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und Terrorismus gebe. Hinweise zu angeblichen Kontakten von Migranten zu Terrororganisationen hätten sich in den allermeisten Fällen als falsch herausgestellt.

Wie das Zusammenleben der von Erdogan Vertriebenen mit der sehr starken Gruppe der Erdogan-Anhänger in Deutschland funktionieren wird, ist unklar. Die Union fürchtet Auseinandersetzungen der rivalisierenden Gruppen und hat alle Deutsch-Türken zur Loyalität mit Deutschland aufgefordert. 

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..


Mehr zum Thema:  
Europa >

DWN
Politik
Politik Verfassungsgericht stärken: Mehrheit der Parteien auf dem Weg zur Einigung?
28.03.2024

Das Verfassungsgericht soll gestärkt werden - gegen etwaige knappe Mehrheiten im Bundestag in aller Zukunft. Eine Einigung zeichnet sich...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Deutschlands maue Wirtschaftslage verhärtet sich
28.03.2024

Das DIW-Konjunkturbarometer enttäuscht und signalisiert dauerhafte wirtschaftliche Stagnation. Unterdessen blieb der erhoffte...

DWN
Politik
Politik Corona-Aufarbeitung: Lauterbach will RKI-Protokolle weitgehend entschwärzen
28.03.2024

Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat angekündigt, dass einige der geschwärzten Stellen in den Corona-Protokollen des RKI aus der...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Brückeneinsturz in Baltimore trifft Importgeschäft der deutschen Autobauer
28.03.2024

Baltimore ist eine wichtige Drehscheibe für die deutschen Autobauer. Der Brückeneinsturz in einem der wichtigsten Häfen der...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft „Made in Germany“ ist wieder gefragt - deutsche Exporte steigen deutlich
28.03.2024

Der Außenhandel in Deutschland hat wider Erwarten zu Jahresbeginn deutlich Fahrt aufgenommen. Insgesamt verließen Waren im Wert von 135,6...

DWN
Finanzen
Finanzen Der Ukraine-Krieg macht's möglich: Euro-Bonds durch die Hintertür
28.03.2024

Die EU-Kommission versucht, mehr Macht an sich zu ziehen. Das Mittel der Wahl hierfür könnten gemeinsame Anleihen, sogenannte Euro-Bonds,...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Osterfreude und EM-Fieber: Hoffnungsschimmer für Einzelhandel
28.03.2024

Das Ostergeschäft verspricht eine Wende für den deutschen Einzelhandel - nach einem düsteren Februar. Wird die Frühlingshoffnung die...

DWN
Immobilien
Immobilien Immobilienkrise für Banken noch nicht überwunden
28.03.2024

Die deutschen (Pfandbrief-)Banken sind stark im Gewerbeimmobilien-Geschäft engagiert. Das macht sie anfällig für Preisrückgänge in dem...