Politik

Falsche Zahlen machen Renten-Reform zur Farce

Lesezeit: 6 min
23.07.2018 00:36
Die Renten-Reform der Bundesregierung kann nicht halten, was sie verspricht.
Falsche Zahlen machen Renten-Reform zur Farce

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Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat den Entwurf einer Renten-Reform vorgelegt, der im Herbst diskutiert und beschlossen werden soll. Die Ankündigung klang nach einer Beruhigung der derzeitigen und künftigen Rentner: Die Relation „Rente zu Aktiveinkommen“, die im politisch-bürokratischen Kauderwelsch „Sicherheitsniveau“ heißt, werde bis 2025 nicht unter 48 Prozent sinken, die Beiträge würden nicht über 20 Prozent des Einkommens steigen, die benachteiligten Mütter bekommen mehr, auf die Bezieher geringer Einkommen wird geachtet. Diese Botschaften als Beruhigung der Öffentlichkeit zu akzeptieren, ist angesichts der Tatsachen schwer.

Die trügerische Hoffnung, bis zum Ende der Legislaturperiode ohne Renten-Krise durchzukommen

Die Aktion des Arbeitsministers ist schon verständlich:

Die Analysen der Renten-Entwicklung zeigen auf, dass unter den derzeit geltenden, gesetzlichen Bedingungen die Ersatzrate weit unter 48 Prozent zu sinken droht. Allerdings erst in der Zeit nach 2025 und für diese Zeit bietet auch Herr Heil keine Antwort.

Der Beitragssatz liegt derzeit bei 18,6 Prozent und würde unter den aktuellen Vorgaben bis 2025 sukzessive auf 19,8 Prozent steigen. Einen Deckel bei 20 Prozent als Reform anzupreisen, ist nicht sehr überzeugend. Im Gegenteil: Auf Deutsch übersetzt heißt das, dass die Beiträge schon sehr bald auf 20 Prozent ansteigen werden und nicht erst schrittweise bis nach 2025.

Um das Sicherheitsniveau bei 48 Prozent zu halten, wird eine Anhebung der Beiträge auf 20 Prozent nicht genügen. Dies ergibt sich bereits aus den gegenwärtigen Bedingungen. Ab 2022 werden zudem sehr viel mehr Baby-Boomer aus den starken Geburtenjahren der fünfziger und sechziger Jahre in die Rente drängen, wodurch eine dramatische Verschärfung der Lage zustande kommen muss.

Also wird der Ruf nach zusätzlichen Zahlungen des Bundes immer lauter werden. Vorerst sind in der Reform nur moderate Erhöhungen des Bundeszuschusses angesprochen, die so unrealistisch sind wie die Deckelung der Beiträge. Hier wird die Hoffnung deutlich, jedenfalls die derzeitige Legislaturperiode bis 2021 und vielleicht sogar auch die nächste von 2021 bis 2025 zu überstehen.

Ein Blick auf die Lage des Budgets wirft aber viele Zweifel auf, ob der Staat für einen Geldsegen sorgen wird.

Eine Rechnung, die man nur ohne den Wirt Finanzminister anstellen kann

Es gibt allerdings eine Rechnung, die tatsächlich den Finanzminister in die Pflicht nehmen würde:

  • Die seit 2009 betriebene Zinspolitik hat die Belastung des Budgets dramatisch gesenkt: Zwischen 2003 und 2008 entfielen 14 Prozent der Gesamtausgaben auf Zinsen für Schulden, 2017 waren es nur mehr 5,4 Prozent. Müsste der Bund Zinsen zahlen wie früher, wären 2017 um 28 Mrd. Euro mehr aufzuwenden gewesen ­ statt der tatsächlich bezahlten 17,6 Mrd. Euro beachtliche 45,6 Mrd. Euro.
  • Man könnte also argumentieren, dass mit diesen 28 Mrd. Euro das Renten-Problem leicht zu lösen wäre.
  • Das Argument hätte auch Gewicht: Die Rentenreform 2001 ging davon aus, dass die gesetzliche Rente nur einen Teil der Altersvorsorge trägt und dass kapitalgedeckte Produkte, von der Lebensversicherung bis zur steuerlich großzügig geförderten Riester-Rente, für die notwendige Ergänzung sorgen würde.
  • Durch die niedrigen Zinsen, die den Finanzministern seit 2009 kräftig bei der Erstellung der Bundeshaushalte geholfen haben, kamen allerdings alle kapitalgedeckten Vorsorge-Produkte unter Druck.
  • Es wäre also nur recht und billig, würde der Staat zahlen:

    • Die Rentenreform 2001 hat für geringere Renten gesorgt, die indirekt den Staat entlasten,
    • und die niedrigen Zinsen haben dem Staat genützt und den Rentnern geschadet.

Hinter der Null-Defizit-Fassade wachsen die Probleme des Staates

Diese schöne Rechnung kann keinen deutschen Finanzminister, von welcher Partei er kommen mag, überzeugen.

  • Der Bundeszuschuss an die Rentenanstalt wächst auch ohne Reform und nähert sich bereits der 100-Mrd.Marke.
  • Im Jahr 2017 entsprach der Zuschuss mit 90,9 Mrd. Euro bereits 28 Prozent der Gesamtausgaben des Staates.
  • Die vom Arbeitsminister angekündigte Renten-Reform wird den Zuschussbedarf zusätzlich erhöhen.
  • Dass das Budget 2017 mit einem Plus von rund 5 Mrd. Euro schließen konnte, ist mehreren Faktoren zu danken, die in Kürze wergfallen.

    • Auf die niedrigen Zinsen wurde schon verwiesen. Derzeit ist aber bereits ein Anstieg der Zinsen zu beobachten. Das in diesem Bereich durch die Zinspolitik entstandene Ruhekissen hält nicht mehr lange.
    • 2017 half dem Staat die starke Konjunktur, die das Steueraufkommen wachsen ließ. Im ersten Halbjahr 2018 machten sich schon deutliche Abschwächungstendenzen bemerkbar. Der nun ausgebrochene Handelskrieg mit den USA wird die Wirtschaftsentwicklung zusätzlich bremsen.
    • Die Regierung hat bereits dem Druck der USA nachgegeben und sich bereit erklärt, die Beiträge zur NATO anzuheben.
    • Durch den Austritt Großbritanniens aus der EU fehlen 10 Prozent des EU-Budgets. Die Fehlbeträge und zusätzliche Aufwendungen müssen von den verbleibenden Mitgliedstaaten getragen werden und da ist Deutschland als reichste Volkswirtschaft der Union besonders gefordert.

Fazit: Der Eindruck, dass der Staat ein Füllhorn über die Rentenanstalt ergießen könnte, trügt. Also müssen sich die Beitragszahler - die Unternehmen und die Arbeitnehmer - auf höhere Beiträge einstellen. Die aktuellen 18,6 Prozent werden nach der geltenden Rechtslage und bei Umsetzung der geplanten Reform jedenfalls steigen, aber auch der Deckel von 20 Prozent wird nicht halten.

Immer mehr Ältere arbeiten, aber noch bei weitem nicht genug um das Pensionssystem zu sichern

Die einzig wirksame Lösung des Renten-Problems besteht im späteren Renteneintritt. Dieser ist allerdings nur möglich, wenn entsprechende Voraussetzungen geschaffen werden.

Die Menschen müssten arbeiten bis 70 als selbstverständlich empfinden und sich dann noch auf im Schnitt mindestens 10 Jahre Pension freuen. Wenn der Renteneintritt in der Bevölkerung mit etwa 60 als richtig und mit den gesetzlich in Deutschland bis 2031 auf 67 ansteigenden Jahren als Fron empfunden wird, kann man die Fähigkeiten der über 60jährigen nicht mobilisieren.

Vor allem aber funktioniert „Länger-arbeiten“ nur, wenn die Unternehmungen die Arbeitnehmer von 15 bis 70 als tatsächlich voll einsetzbar verstehen. Mit Altersteilzeit-Modellen, die oft begriffen werden als „Lassen wir doch die Alten gnadenhalber noch ein paar Handgriffe machen!“, wird das Problem nicht gelöst.

Beide, Unternehmer wie Arbeitnehmer, sind also gefordert, neue Marktbedingungen zu schaffen. Die Politik hätte durch einen Abbau der Bürokratie und eine Senkung der Steuern diesen Prozess zu erleichtern. Hätte.

Die Statistiken weisen für Deutschland eine im internationalen Vergleich hohe Beschäftigungsquote der älteren Arbeitnehmer aus. Dieser Faktor darf aber nicht überschätzt werden.Im Jahr 2002, also ein Jahr nachdem die Rentenreform 2001 beschlossen wurde, war der Arbeitseifer vieler älterer Arbeitnehmer besonders gering: Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an den 55 bis 60-jährigen betrug 43,2 Prozent, bei den 60 bis 65-jährigen waren es sogar nur 12,9 Prozent. Bis 2016 stieg der Anteil der Arbeitenden an den 55 bis 60-jährigen auf 60,3 Prozent. Die Quote bei den 60 bis 65-jährigen erreichte 38,2 Prozent.

Die Lage hat sich also gebessert, allerdings bei weitem nicht ausreichend um die Kosten des Renten-Systems zu entlasten. 65-jährige Männer werden im Schnitt noch etwa 17 Jahre und 65-jährige Frauen noch rund Jahre Rente beziehen. Bei der Betrachtung dieser Daten ist zu berücksichtigen, dass das System darauf ausgelegt war, etwa fünf Jahre Rente zu zahlen und man derzeit davon ausgeht, dass aufgrund der gestiegenen Wirtschaftsleistung sogar zehn Jahre finanzierbar sind. Nachdem die Rentendauer etwa zwanzig Jahre beträgt, doppelt so lange wie die Finanzierbarkeit, sind alle gefordert, soweit dies gesundheitlich möglich ist, deutlich länger zu arbeiten und später in Pension zu gehen.

Notwendig sind realistische Daten über die Einkommen der Älteren

Die Zunahme der Beschäftigung unter den älteren Arbeitnehmern ist nur zum Teil auf ein stärkeres Engagement zurückzuführen. Eine wesentliche Rolle spielt die unbefriedigende Einkommenssituation der Älteren.

  • Grundsätzlich ist festzuhalten, dass mehr als die Hälfte der derzeit Aktiven eine Zusatzvorsorge haben. Dazu hat maßgeblich die Rentenreform 2001 beigetragen, die zwar die Entwicklung der gesetzlichen Rente gebremst, aber den Aufbau einer ergänzenden Vorsorge stark gefördert hat. Allerdings gerieten, wie erwähnt, diese Produkte durch die niedrigen Zinsen unter Druck.
  • Aber auch für die Aktiven gilt: 47 Prozent werden neben der gesetzlichen Rente kein Einkommen haben.
  • Und die Situation der derzeitigen Rentner schildert der „Alterssicherungsbericht“ des Arbeitsministeriums:

    • 65 Prozent der 65- Jährigen und Älteren haben nur eine Rente aus einem System, bei 60 Prozent ist das die Gesetzliche Rentenversicherung.
    • 17 Prozent haben außerdem einen Bezug aus der Betrieblichen Altersvorsorge, wobei von etwa 500 netto auszugehen ist.
    • 13 Prozent erhalten Leistungen aus der Zusatzversorgung des öffentlichen Diensts, die in etwa 290 Euro netto im Schnitt betragen.

Womit die Frage nach der Höhe der Einkommen der Rentner in den Vordergrund rückt:

Wieder aus dem Alterssicherungsbericht: „Im Jahr 2015 erhielten 90 Prozent der 65- Jährigen und Älteren eine Versichertenrente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung. Bezogen auf alle Bezieherinnen und Bezieher ergibt sich in diesem System eine durchschnittliche Leistungshöhe von 960 Euro brutto und 861 Euro netto im Monat.“

Altersarmut wird von den verschiedenen, internationalen Institutionen unterschiedlich definiert. Aber in allen Fällen liegen die ausgewiesenen Renten-Beträge knapp am oder schon unter dem Wechsel zur Altersarmut.

Ohne Zusatzeinkommen, ohne sonstige Sozialhilfen, ohne das Zusammenleben mehrerer Rentner in einem Haushalt oder in Gemeinschaft mit Familienmitgliedern droht somit vielen Älteren tatsächlich Not.

Die Tatsache, dass nur 3,1 Prozent die Grundsicherung im Alter in Anspruch nehmen, ist kein Beweis, dass Altersarmut kein Problem wäre.

Die Politik ist also gefordert, Maßnahmen für die Ärmsten zu setzen. Dies wird auch mit der angekündigten Renten-Reform versprochen, wobei aber schon jetzt angesichts der geschilderten Budgetdaten nicht mit übermäßig hohen Beträgen zu rechnen ist. Auch geht es nicht nur um die Ärmsten, die von der Altersarmut bedroht werden. Die Bezieher höherer Einkommen, die gemäß dem Konzept der Rentenreform 2001 ergänzende Produkte gezeichnet haben, sehen sich durch die Folgen der niedrigen Zinsen um einen Teil ihrer Sparleistung gebracht.

Die Schimäre „Sicherungsniveau“ sorgt nur für Verwirrung

Hilfreich wäre für die öffentliche Diskussion der Abschied vom Begriff des „Sicherungsniveaus“ und von plakativ geäußerten Sätzen wie „48 Prozent“ oder „Nicht unter 48 Prozent“.

Mit „Sicherungsniveau“ ist die so genannte „Standardrente“ gemeint, die zur Anwendung kommt, wenn man 45 Jahre hindurch das „Durchschnittseinkommen“ bezogen hat. Also ein theoretischer Wert, der naturgemäß nur bei wenigen zutrifft.

Dazu kommt, dass bei der Rente wie beim Durchschnittseinkommen nur die Sozialabgaben, aber nicht die Steuer abgezogen wird. Somit wird nicht die Netto-Rente, der einzige für die Rentner interessante Wert, ausgewiesen.

Die seit 2005 geltende, neue, komplizierte und laufend steigende Besteuerung der Renten bewirkt, dass jeder Einzelfall zu besonderen Ergebnissen führt.

Somit kommt es zu den unterschiedlichsten Netto-Werten, die man nach Belieben missbrauchen kann – für den Beweis, dass es den Alten ohnehin gut geht genauso wie für den Beweis, dass die Altersarmut katastrophale Ausmaße angenommen hat.

Statt also die nächste Renten-Reform wieder auf der Basis von Schimären zu starten, sollten realistische Daten verwendet werden, die die Sozialversicherung und die Finanz erstellen müssten. Vor allem aber ist jede Reform zum Scheitern verurteilt, wenn die Bürger die Einstellung zur Arbeit im Alter nicht ändern, die Unternehmen nicht den Älteren attraktive Perspektiven eröffnen und der Staat, womit auch die EU-Behörden mitgemeint sind, nicht den Menschen größere Freiräume eröffnet.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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