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„Amerikaner wollen Irak und Syrien als Nationalstaaten zerstören“

Lesezeit: 5 min
19.10.2014 00:09
Die US-Strategie für den Nahen Osten zielt nach Ansicht des Menschenrechtler Martin Dolzer auf eine Zerschlagung von Syrien und dem Irak als selbständige Nationalstaaten ab. Dadurch könnten die Amerikaner willfährige Kleinstaaten schaffen, die ihnen den Zugang zu den Öl-Vorkommen sichern. Der IS scheint allerdings außer Kontrolle geraten zu sein.
„Amerikaner wollen Irak und Syrien als Nationalstaaten zerstören“

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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie sieht die strategische Situation in Nordsyrien aus?

Martin Dolzer: In Nordsyrien Rojava (Westkurdistan) leben auf drei nicht zusammenhängende Kantone, Cizire, Kobane und Afrin verteilt rund 6 Millionen Menschen, darunter 4 Millionen Kurden. Die Bevölkerung hat sich in demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen organisiert. Araber, Kurden, assyrische Christen, Eziden, Tschetschenen, Armenier, Turkmenen und weitere Bevölkerungs- und Religionsgruppen leben respektvoll zusammen und gestalten gemeinsam in Räten und mit Hilfe von regionalen Übergangsregierungen die Gesellschaft. Neben basisdemokratischer Teilhabe am Leben, mehrsprachiger Bildung, dem Aufbau praxisnaher Universitäten und einer funktionierenden Landwirtschaft, ist auch die Frauengleichberechtigung ein wichtiger Wert, den diese Selbstverwaltungen in Rojava schrittweise umsetzen. Aus der Mitte der Bevölkerung haben sich Volksverteidigungseinheiten (YPG), aus dem Bewusstsein, dass es in einer derartigen Konfliktregion nötig ist, sich auch gegen militärische Gewalt verteidigen zu können, gebildet. Der Islamische Staat (IS) greift seit dem 15. September mit aller Gewalt den Mittleren der Kantone, Kobane, an.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie bewerten Sie den Vorstoß des IS?

Martin Dolzer: Momentan ist die Situation sehr kritisch. IS hat in Dörfern rund um Kobane Kriegsverbrechen begangen und ist mit modernsten Panzern und Waffen ausgerüstet, die zum Teil in Mossul erbeutet wurden. Die Kämpferinnen und Kämpfer der YPG verteidigen und schützen die Bevölkerung dagegen lediglich mit AK 47 Maschinenpistolen und leichten Waffen. Wenn die YPG keine Unterstützung durch moderne Waffen erhalten, besteht die Gefahr weiterer Massaker oder gar eines Völkermords. Hier stehen sich unterschiedliche Gesellschaftskonzepte gegenüber. Das eine ist der menschenfeindliche Ansatz des IS, das andere die Basisdemokratie der Bevölkerung in Rojava.

Offenbar arbeitet auch die türkische AKP-Regierung seit langem mit dem IS zusammen. Immer wieder wird von Waffenlieferungen und medizinsicher Versorgung aus der Türkei für die Terrororganisation berichtet. Nun fordert die türkische Regierung genau in Rojava eine Pufferzone, die darauf hinauslaufen würde, dass die dortigen Selbstverwaltungsstrukturen zerstört würden. Wenn die türkische Regierung die Menschen in Kobane wirklich unterstützen will, wie Staatspräsident Erdogan das bekundet, könnte sie YPG Einheiten aus dem Kanton Cizire einen Weg durch türkisches Staatsgebiet nach Kobane öffnen. Auf jeden Fall muss die türkisch-syrische Grenze sofort für Kämpfer des IS geschlossen werden. Unter anderem die Angriffe der USA gegen den IS im Nordirak hatten die Dschihadisten zum Teilrückzug in ihr Zentrum nach Syrien getrieben. Von dort haben sie ihre Angriffe nun vornehmlich gegen die kurdischen Gebiete gerichtet.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was will der IS in den kurdischen Gebieten?

Martin Dolzer: Der IS will im Irak und Syrien ein Kalifat errichten, das später noch weiter ausgedehnt werden soll. Der Iran und auch eine Ausweitung des Einflusses in Europa sind geplant. Es ist zu erkennen, dass die Dschihadisten die gesamte Region zunehmend destabilisieren. Die Führungskräfte des IS haben Menschen sämtlicher anderer Glaubensrichtungen zu Feinden erklärt, die es zu unterwerfen und vernichten gilt. In Mossul wurden Christen verfolgt und massakriert, in Sengal ezidische Kurden. Nun sind die Kurden sowie die weiteren Bevölkerungsgruppen in Kobane das Primärziel. Neben systematischen Kriegsverbrechen und Vergewaltigungen zerstören die Kämpfer des IS auch gezielt kulturelles Erbe.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Rolle spielen die USA?

Martin Dolzer: Die USA wollen meines Erachtens vornehmlich ihre eigenen Interessen in der Region durchsetzen. Im Greater Middle East Project ist auch die Aufteilung der Region anhand von ethnischen, religiösen und clanbedingten Spaltungslinie, als ein „Entwicklungsmodell“, angedacht. Dem IS wurde dabei offenbar, wie z.B. zuvor den Taliban in Afghanistan, die Rolle eines leicht instrumentalisierbaren, destabilisierenden Akteurs zugedacht. Nun ist der IS allerdings nicht mehr kontrollierbar. Als mögliche Entwicklungsperspektive war dabei die Zerstörung der souveränen Nationalstaaten Irak und Syrien zugunsten kleinerer Einheiten vorgesehen. Das haben US-Think Tanks schon seit Jahren ganz offen skizziert. Es ist geplant den Raum des „Greater Middle East“ komplett umzustrukturieren. Dazu gehört auch der Sturz der Regierung Assads mit allen Mitteln.

Dass bisher von der Koalition gegen den IS unter Führung der USA hauptsächlich Ziele in Rakka, einem Zentrum des IS weit südlich von Kobane und Ölfelder bombardiert wurden, passt in dieses Konzept. Es wäre für die Koalition ohne weiteres möglich gewesen – und ist auch weiterhin möglich – die modernen Panzer des IS vor Kobane zu zerstören, um die mehr als 400.000 Menschen in der Stadt vor Kriegsverbrechen und Tod zu schützen. Die Menschen dort scheinen aber keinen großen strategischen Wert für die Koalition zu haben – und eine stabile selbstverwaltete Region wie Rojava, die eigentlich ein positives Modell für einen demokratischen Wandel und Stabilität im Mittleren Osten sein könnte, scheint nicht in einen derartigen Plan zu passen. Anders lässt sich nicht erklären, dass lediglich die Kurden der Autonomieregierung im Irak mit Waffen und Logistik unterstützt werden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Rolle spielt die kurdische Autonomieregierung im Irak?

Martin Dolzer: Die Regierung der Autonomen Region Kurdistans (KRG) um Präsident Masud Barzani setzt seit zwei Jahren gemeinsam mit der türkischen Regierung ein Embargo gegen Rojava um. Selbst der Transport von Lebensmitteln und Medikamenten wird massiv behindert oder meist ganz verhindert.

Die Regierung Barzani möchte gerne zu einer regionalen Macht werden und strebt auch einen eigenen kurdischen Staat an. Dazu gehört auch mehr Macht in Rojava zu erlangen. Die KDP von Barzani hat dafür allerdings keine Basis in der Bevölkerung von Rojava. Vereinfacht gesagt stehen sich feudalistisch-klientelistische Clanstrukturen in einem weitgehend auf Ölhandel zentrierten Gesellschaftsmodell in den KRG und die beschriebene multiethnische und multireligiöse Basisdemokratie in Rojava gegenüber. Die KDP pflegt darüber hinaus enge wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei. Da die Binnenwirtschaft zugunsten des Ölhandels vernachlässigt wird, ist die Autonomieregion stark von Importen aus der Türkei und weiteren Staaten abhängig.

Während die Frauen im Nordirak in einer patriarchalen Gesellschaft wenig Rechte und Raum zur Persönlichkeitsentwicklung haben, sind sie in Rojava weitgehend gleichberechtigt. Dort gibt es auch Frauenakademien und ein Ministerium zum Schutz der Frauen, das u.a. Frauenrechte in Gesetzgebungsverfahren einbringt. Im Nordirak werden, Informationen von dortigen NGO´s zufolge, noch immer 60 Prozent der jungen Mädchen genitalverstümmelt. Das ist inakzeptabel.

Ezidische Flüchtlinge im Newrozcamp in Rojava berichteten uns, dass sich die Peschmerga der KDP vor den Massakern gegen die ezidischen Kurden in Sengal kampflos aus der Region zurückgezogen haben und ihnen zum Teil sogar die wenigen Waffen, die sie besaßen, abnahmen. Sie fühlen sich von der KDP verraten. Auch viele Kurden in den Autonomiegebieten sind diesbezüglich von den KDP Peschmerga und der KDP enttäuscht. Es waren Mitglieder der Volksverteidigungseinheiten YPG und der PKK, die gegen den IS einen Korridor für die Eziden aus dem Sindschar-Gebirge in der Region Sengal erkämpft und hunderttausend Menschen das Leben gerettet haben.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was kann die Bundesregierung zur Konfliktlösung beitragen?

Martin Dolzer: Aktuell spielt die Bundesregierung diesbezüglich eher eine negative Rolle. Anstatt politischen Druck auf die türkische Regierung auszuüben, die Unterstützung des IS zu beenden, wurden Waffenexporte u.a. an Saudi Arabien, Katar und Jordanien beschlossen – Staaten, die den IS seit Langem unterstützen. Diese Rüstungsgeschäfte sollten rückgängig gemacht werden. Es könnten beispielsweise auch die Patriot-Raketen von der türkisch-syrischen Grenze abgezogen oder die Türkei mit Wirtschaftssanktionen belegt werden, wenn sie ihre Unterstützung des IS nicht beendet. Die deutsche Regierung sollte sich auch im Bereich der humanitären Hilfe für Rojava mehr einbringen und Druck ausüben, dass das Embargo aufgehoben wird. Es ist zudem nicht gut, dass die PKK in Deutschland noch immer verboten ist.

In Sengal spielte die PKK eine eindeutig friedensstiftende und menschenrettende Rolle. Die Organisation spricht sich zudem für ein friedliches Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen im Mittleren Osten aus. Der Impuls für den Friedensprozess in der Türkei ging ebenfalls maßgeblich von Abdullah Öcalan aus. Das muss man bedenken. Das PKK Verbot sollte sofort aufgehoben, die Organisation von der EU Terrorliste gestrichen werden.

Insgesamt sollten die Regierungen der USA und der EU ihre hauptsächlich an wirtschaftlichen und strategischen Interessen orientierte Politik im Mittleren Osten beenden und stattdessen die demokratische Selbstorganisierung der Menschen, beispielsweise in Rojava, anerkennen und unterstützen. Alle Menschen haben ein Anrecht auf Frieden und ein menschenwürdiges Leben. Es darf nicht zugelassen werden, dass der IS einen Genozid an den in Kobane lebenden Kurden und weiteren Bevölkerungsgruppen begeht. Der IS muss gestoppt werden. Er könnte sonst auch in Europa zu einer Gefahr werden. Erste brutale Übergriffe von Anhängern des IS auf Kurden in der Bundesrepublik haben ja bereits in Hamburg stattgefunden.

Martin Dolzer, geboren 1966 in Kiel, ist Soziologe, Musiker und Autor. Seit 13 Jahren nimmt er an Menschenrechtsdelegationen in den Mittleren Osten teil. Er ist Mitglied der Partei Die Linke und veröffentlicht seit zehn Jahren Beiträge in den Zeitungen Neues Deutschland und Junge Welt.


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