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Enteignung der Sparer: Es gibt kein Entrinnen

Lesezeit: 10 min
07.09.2015 23:39
Die EZB ist kein Hort der Stabilität und geldpolitischer Vernunft. Sie wurde zum Kampfzentrum nationaler Interessen. Den Schaden haben die Sparer und Verbraucher in Deutschland. Die Enteignung erfasst bei näherem Hinsehen alle Anlageformen. Es gibt kein Entrinnen.
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Über die Folgen der Nullzinspolitik, so wie sie die EZB verordnet hat und von der sie wünscht, dass sie unbefristet anhält, wird im wissenschaftlichen Raum kontrovers diskutiert.

Das hängt damit zusammen, dass es auf die Frage, welches die volkswirtschaftliche Funktion des Zinses eigentlich sei, viele, zum Teil sehr unterschiedliche Antworten gibt. Consensus omnium, also gemeinsamer Nenner aller vertretenen Meinungen, ist indessen, dass der Zins Entgelt für den Liquiditätsentzug auf Seiten des Gläubigers sei und seine Ausgestaltung dem Risiko entsprechen sollte, das der Kreditnehmer darstellt. Nun hat die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank die Zinsdifferentiale zwischen den unterschiedlichen staatlichen Emittenten und Schuldnern der Eurozone nicht völlig egalisiert, sondern nur eingeebnet. Die Ergebnisse sprechen der Realität Hohn: Bei kurzfristigen Anleihen verdient Spanien – ein Land mit krisenhafter Volkswirtschaft – Geld. Die Rendite ist negativ.

Doch wirkt sich die tendenziell egalitäre Zinspolitik der EZB nicht nur auf den Staatsschuldenmärkten aus, sondern hat mittlerweile auch Einfluss auf die Modalitäten von Unternehmensanleihen, die Geschäftsmodelle von Sparkassen- und Raiffeisenbanken sowie die betrieblichen Altersversicherungssysteme.

Die betriebliche Altersvorsorge, von der Politik und allen Volkswirten angesichts der demographischen Entwicklung in Deutschland gepriesen, setzt voraus, dass die Unternehmen willens und in der Lage sind, entsprechende Rückstellungen zu bilden. Die Unternehmen müssen dabei ermitteln, welche Verpflichtungen aufgrund betrieblicher Rentenzusagen in absehbarer Zeit auf sie zukommen werden. Die Aktuare – also die Versicherungsmathematiker der Unternehmen, die betriebliche Altersversorgung betreiben – stöhnen angesichts der Nullzinspolitik. Denn nach ihren Berechnungen werden die Eigenmittel und die Bilanzen der Unternehmen mit betrieblicher Altersversorgung durch die Niedrigzinspolitik in erheblichem Umfang belastet. Gewiss ist das Finanzierungskonzept der jeweiligen Unternehmen zur Realisierung ihrer betrieblichen Altersvorsorge sehr unterschiedlich.

Einige Unternehmen legen hohe Teile künftiger Verpflichtungen im Wege eines Sondervermögens zur Seite. Andere Unternehmen versuchen, künftige Pensionäre aus laufenden Erträgen zu bedienen. Vorsichtiger ist es gewiss, die Realisierung einer Finanzierungszusage durch Sondervermögen, welches vorgehalten wird, abzusichern. Dies belastet indessen notwendigerweise das Eigenkapital des Unternehmens. Schwer lässt sich eine allgemeine Aussage für alle Unternehmen treffen. Denn wie stark Unternehmen durch ihre Pensionszusagen in Anspruch genommen werden, hängt letztlich von den Modalitäten eben dieser Altersversorgung ab. Je geringer indessen das Zinsniveau auf den Anleihemärkten ist, desto schwieriger sind die Bedingungen für Unternehmen, ein gut rentierliches Pensionsvermögen aufzubauen und vorzuhalten.

Wer individuell etwas für seine Altersvorsorge tun und mit Bedacht seine erwirtschafteten Barmittel anlegen will, steht vor einem für durchschnittliche Anleger kaum noch zu lösenden Problem: Bei öffentlichen Schuldnern mit exzellenter Qualität (AAA) müssen Anleger schon eine lange Laufzeit von circa sieben Jahren in Kauf nehmen, um überhaupt noch auf positive Erträge zu kommen. Gehen sie in kürzer laufende Anleihen, zum Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, so stellt sich das Problem des Negativzinses. Dieses wird angesichts der technischen Unwilligkeit, einen Strafzins an den Emittenten zu entrichten, dadurch umgangen, dass die jeweiligen Staatsemissionen über pari emittiert werden.

Diese Emission oberhalb des Nominalwerts versucht die Realität des Negativzinses zu verschleiern. Es bedarf aber weniger arithmetischer Kenntnisse, um das Spiel zu durchschauen. Auf diesem Markt der Staatsanleihen hat der private Anleger also das Nachsehen. 2,5 Billionen Euro an europäischen Staatsanleihen, also mehr als ein Drittel der gesamten umlaufenden Staatsanleihen, rentieren im Durchschnitt unter 0,1 Prozent.

Indessen wird es der Anleger nicht einfach haben, am Markt für Unternehmensanleihen ansprechende Renditen zu finden. Abgesehen von der ungelösten Problematik der Zinswendepunkte, die sich bei Unternehmensanleihen besonders auswirken, und des prinzipiellen Liquidationsrisikos eines jeden Unternehmens hat der Trend zu negativen Zinsen auch den Markt für corporate bonds erreicht.29 Der Markt für Unternehmensanleihen hat indessen den ausschließlichen Vorteil, dass das Kaufprogramm der EZB dieses Marktsegment bisher außen vor gelassen hatte. Die immense Nachfragewirkung und damit die Verbilligung der Emissionskonditionen, wie wir sie auf dem Staatsanleihemarkt erleben konnten, ist bislang auf diesem Markt nicht eingetreten.

Bleibt also für den auf Rendite angewiesenen Anleger nichts anderes als der Blick auf den Aktienmarkt. Dieser befindet sich weltweit auf einem Niveau, das sich, angeheizt durch die Nullzinspolitik der EZB und die tendenziell ähnliche Politik aller anderen westlichen Zentralbanken, nahezu vollständig von der Realwirtschaft abgekoppelt hat.

In der Eurozone stecken außer den Leistungsbilanzüberschussländern alle anderen Mitglieder in einer stagnativ-rezessiven Phase. Währenddessen sind aber die Aktienkurse französischer und italienischer Unternehmen auf Rekordhöhen geschnellt. Wer in dieser Situation nolens volens Anlegern empfiehlt, ihr Vermögen im großen Stil in Aktien umzuschichten, ignoriert die unvermeidbare Kurskorrektur der Börse im Verhältnis zu dem Zustand der jeweiligen Realwirtschaft.

Bleiben noch Hybridanleihen, also solche Anlageprodukte, die als aliud zwischen Fremd- und Eigenkapital aufgrund ihrer Nachrangigkeit besondere Risiken darstellen. Diese in Gestalt von Unternehmensanleihen emittierten Anlageprodukte werfen signifikant höhere Zinscoupons ab, sind allerdings hinsichtlich ihrer Risikostruktur für durchschnittliche Anleger schwerer zu evaluieren. Davon unabhängig ist der Hybridanleihenmarkt mit insgesamt im Umlauf befindlichen circa 50 Milliarden Euro Anleihevolumen europäischer Unternehmen immer noch ein relativ kleines Marktsegment. Das Volumen wächst gleichwohl.

Gewiss sichern weder das Grundgesetz noch die europäischen Verträge Sparern signifikante Erträge aus sehr einfachen Anlageprodukten wie beispielsweise Sparbriefen. Indessen befindet sich gerade der mit den Finanzmärkten nicht vertraute Anleger gegenwärtig in einer verdrießlichen Situation. Tut er das, was die Politik empfiehlt, also private Vorsorge durch Anlageprodukte durchschnittlichen Ertrags mit geringem Risiko zu treffen, so geht er leer aus.

Daher ist das Argument, die Politik der EZB würde eine Enteignungswirkung haben, beziehungsweise ihre Politik käme einem enteignungsgleichen Eingriff nahe, nicht von der Hand zu weisen. Die Not in den Akquiseabteilungen von Versicherungen ist groß. Denn das Stammgeschäft der Lebensversicherungen bricht auch dann weg, wenn der Gesetzgeber der gesetzlichen Minimalverzinsung der EZB Pate steht und die Minimalrendite senkt, die Lebensversicherungen erwirtschaften müssen. Schon kommt es zu neuen, bislang noch nicht erprobten Koalitionen zwischen Banken und Versicherern. Letztere erwerben Portfolios von Bankenkrediten für Infrastrukturprojekte, von denen anzunehmen ist, dass sie über eine geringere Risiko- und Ertragsvolatilität verfügen als der Eigenheimkredit an fast vermögenslose Kunden. Ob diese Notgemeinschaft den Ausweg weist oder sich als Holzweg herausstellen wird, mag die Zukunft entscheiden.

Von unterschiedlichsten Institutionen sind die Konsequenzen der Nullzinspolitik der EZB für die Sparer quantifiziert worden. Die Volkswirte der DZ-Bank haben ausgerechnet, welche Ertragsverluste nicht nur für Tagesgeldkonten, sondern auch bei Lebensversicherungen und durch den Zinsverlust bei Anleihen entstanden sind. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Demnach hätte jeder Deutsche in dem Zeitraum 2010 – 2014 durchschnittlich bereits 1 400 Euro Zinsverlust zu tragen gehabt und dies unter Berücksichtigung der Zinsersparnisse bei Krediten. So käme man auf einen Ertragsverlust von 112,5 Milliarden Euro. Das sind für Durchschnittssparer sehr erhebliche Einnahmeverluste.

Die Zinsersparnis bei den Krediten, so die Volkswirte der DZ-Bank, in Höhe von ungefähr 78 Milliarden Euro würden die Ertragsverluste bei den Sparprodukten mitnichten ausgleichen. Andere Berechnungen weisen insbesondere darauf hin, dass Bürger mit geringem Einkommen von der Nullzinspolitik im Hinblick auf die Vorsorge für ihr Alter besonders betroffen sind.

Auf die Frage, wie viel ein künftiger Rentner bezogen hätte, wenn er einen privaten Rentenversicherungsvertrag mit den Überschussbeteiligungen des Jahres 1998 abgeschlossen hätte und diese konstant geblieben wären, kommen diese Berechnungen zu Ergebnissen, die aufhorchen lassen. Denn trotz Steigerung der Vorsorgeaufwendungen des durchschnittlichen Sparers für sein Alter sind die Beträge aufgrund der gesenkten Überschussbeteiligung deutlich gesunken. Nach diesen Berechnungen beträgt der Unterschied für die gesamte Laufzeit bis zum Renteneintrittsalter mehr als 48 000 Euro. Die Nachsteuerrendite sei von 5 Prozent auf 2,8 Prozent gesunken. Heruntergebrochen auf die monatliche Nettorente stehen dem fiktiven Rentenempfänger dann nur noch 1 025 Euro statt der fiktiven 1 248 Euro zur Verfügung, die er bei Beibehaltung der Vertragsbedingungen von 1998 erwirtschaftet hätte. Es mag dahingestellt sein, ob die Berechnungen im Detail zutreffen. Unschärfen kann man bei solchen Quantifizierungen nie vermeiden, zumal mit Durchschnittswerten gerechnet wird.

Indessen lässt sich das Ergebnis der Nullzinspolitik nicht schönrechnen: Wenn der Durchschnittssparer über längere Zeiträume die Folgen der Nullzinspolitik für seine Altersvorsorge ermittelt, wird deutlich, dass es sich um sehr signifikante, tendenziell enteignende Vermögenseinbußen handelt. Und diese Vermögenseinbußen treffen besonders einkommensschwache Schichten, die bei Eintritt in das Rentenalter mit einem geringeren Rentenniveau auskommen müssen und dementsprechend ihren Konsum einzuschränken haben.

Die EZB-Politik trifft also – bestens verschleiert – die Kleinen und Schwachen. Die Nullzinspolitik wird somit gerade für alternde Gesellschaften, die es gewohnt sind, risikoavers für ihr Alter vorzusorgen, eine neue soziale Frage aufwerfen.

Dass das Argument, die Nullzinspolitik der EZB würde den deutschen Sparer enteignen, die Herren Draghi, Coeuré und Constâncio ins Mark trifft, wird an der amtlichen Reaktion der EZB deutlich. Coeuré, ihr starker Mann, verantwortlich für die Offenmarktgeschäfte, hatte mehrfach bereits in trauter Runde zugegeben, dass man kurzfristig die Sparer zum Opferstock bittet, um ihnen dann langfristig die Möglichkeit zu geben, an einer stark wachsenden Wirtschaft teilzuhaben. Doch gegen die Vorwürfe aus Deutschland, vorgetragen durch den Präsidenten des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, den ehemaligen bayrischen Finanzminister Fahrenschon, durch Paul Kirchhoff, aber auch durch unterschiedliche internationale Stimmen, insbesondere aus der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, schickt Coeuré seinen wichtigsten Exekutanten, den Generaldirektor der EZB, Ulrich Bindseil, ins Gefecht. Bindseil erwidert – formal zusammen mit zwei Ökonomen der KfW –, was er von den unterschiedlichen Einwendungen gegen die akkommodierende Politik, insbesondere die Nullzinspolitik der EZB hält.

Dass die Europäische Zentralbank auf eine fachliche, mittlerweile die breite Öffentlichkeit erreichende Debatte in einem wichtigen Mitgliedsland der Eurozone so spezifisch eingeht, spricht Bände. Sie fühlt sich in Legitimationsnot. Daher bemüht sich Bindseil gewissenhaft, die unterschiedlichen Argumente aufzuzählen: Auf Niedrigzinsen reagieren Sparer mit reduziertem Konsum.

Die Nullzinspolitik würde Blasen verursachen und die finanzielle Stabilität unterminieren. Die Sparanstrengungen in den öffentlichen Haushalten würden entmutigt. Durch den erleichterten Zugang zu Investitionsfinanzierungen würde die effiziente Allokation gestört, und schließlich würden Niedrigzinsen auch strukturell die Rentabilität von Banken gefährden. Nach dieser genauen Aufzählung flüchtet sich der EZB-Generaldirektor in mathematische Formeln. Im Niemandsland von Gleichungen wird der gesunde Menschenverstand aufgelöst. Es findet eine Diskussion anhand von Modellen statt, die sich sowohl von der Erdoberfläche als auch von der Realökonomie gelöst hat. Kein Wunder bei dieser methodischen Verirrung der Wirtschaftswissenschaften, dass Bindseil zu dem Schluss kommt, alles sei im Lot.

Doch damit will er sich nicht begnügen. Er gibt Deutschland – auch dies scheint innerhalb des Mandats der EZB möglich zu sein – auch noch eine Reihe von Ratschlägen, wie es seine Produktivität steigern, seine demographischen Probleme in den Griff kriegen könne und zu guter Letzt auch, wie es seinen fiskalischen Spielraum zur Stimulierung der öffentlichen Investitionen besser ausnutzen könne. Man muss sich dieses Prosastück des EZB-Generaldirektors auf der Zunge zergehen lassen: Da wird der hierarchisch Untergebene des französischen Direktoriumsmitglieds Coeuré angewiesen, die deutschen Ängste mit einem »Occasional Paper« zu besänftigen, und der deutsche Gehilfe beeilt sich, seinen Pariser Auftraggeber zufriedenzustellen. Längst haben die Machthaber in Paris verstanden, wie man die Unabhängigkeit der EZB auf Französisch buchstabiert, lange bevor die deutsche Bundesregierung aufwachen wird, um endlich zu verstehen, wie geräuschlos die Machtübernahme in der EZB stattgefunden hat.

Der Rechtsschutz der Anleger gegenüber einer Enteignungspolitik der Zentralbank ist praktisch inexistent. Die Rechtsprechung stellt bislang allein darauf ab, ob durch Tun oder Unterlassen einer Zentralbank eine Hyperinflation hervorgerufen würde. Davon kann gegenwärtig nicht die Rede sein. Indessen wird darüber zu diskutieren sein, ob die Nullzinspolitik der EZB und all ihren Weiterungen – so sie auf Dauer durchgeführt werden – nicht dadurch enteignungsgleiche Wirkungen hervorbringt, dass peu à peu die Sparervermögen aufgefressen werden. Sind die Sparer und Anleger der Leistungsbilanzüberschussländer verpflichtet, dieses Notopfer zugunsten der Südländer und ihrer desolaten öffentlichen Haushalte zu erbringen? Diese Frage ist umso dringender, wenn man beobachtet, dass die Südländer die Zinsgeschenke mitnichten für die Sanierung ihrer Haushalte nutzen und sich hierzu auch noch bekennen.

So hat die Bank von Piräus – welche selbst nur noch von den ELA-Notkrediten am Leben gehalten wird – ein Programm im Rahmen der »Bekämpfung der humanitären Krise« in Griechenland entworfen. Dieses sieht vor, dass bei Privatpersonen mit besonders niedrigem Einkommen auf die Rückzahlung von Darlehen und Kreditkartenschulden bis zu einem Betrag von 20.000 Euro verzichtet werden soll. Ebenso wurde angeboten, Immobilienkredite einzufrieren und die anfallenden Zinsen zu erlassen.

Die dreisteste Politik betreibt in dieser Hinsicht Frankreich, dessen Kommissar, Pierre Moscovici, in Brüssel dafür sorgt, dass die Pariser Regierung keine blauen Briefe erhält. Der Hinweis auf die enteignungsgleiche Wirkung der Nullzinspolitik gegenüber großen und kleinen Geldeigentümern wird ordnungspolitisch veredelt durch die langfristige Zerstörung, welche die EZB-Politik für jene Geschäftsmodelle mit sich bringt, die sich gerade in der Krise der Jahre 2007/2008 als besonders stabil und unverzichtbar für die Versorgung der Volkswirtschaft mit Krediten herausgestellt haben. Man mag über den kommunalen Charakter des deutschen Sparkassenwesens die Nase rümpfen. Auch kann man über die klaglose Inanspruchnahme der Sparkassenorganisation durch die jeweiligen Landesbanken, die nicht sehr erfolgreich das große Rad des Investmentbanking gedreht haben, den Kopf schütteln. Tatsache bleibt, dass die Sparkassen, und mit ihnen die Genossenschafts- und Raiffeisenbanken als Kapitalsammelstelle, jene Liquiditätsflutung nicht notwendig hatten, von der im Wege der Vollzuteilung Großbanken und Investmentbanken während und nach der Finanzkrise im Wesentlichen abhängig waren. Gerade deshalb, weil die Sparkassen nicht am »Tresen der Zentralbank« standen und stehen – denn sie werden durch die Einlagen von über 45 Millionen Sparinhabern vertrauensvoll unterstützt – waren sie in der Lage, ihre Kredittätigkeit aufrechtzuerhalten.

Sie, die eine Bankenunion gar nicht nötig haben, weil sie ein eigenes Konkurssicherungssystem in ihre Organisation eingebaut haben, das im Übrigen von den Kunden mitbezahlt wird, werden sich, wenn die Nullzinspolitik weitergeht, das bisherige Zweigstellennetz nicht länger leisten können. Ein Kostenblock von 12 000 Filialen mit insgesamt circa 240 000 Mitarbeitern der ungefähren 416 Sparkassen wird auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten sein, wenn die klassischen Kunden der Sparkassenfilialen sich als Einleger mangels Kreditgeschäft von diesen Instituten abwenden und sich damit die Refinanzierungsmöglichkeiten der Sparkassen fundamental zu wandeln beginnen. Zu allem Überfluss müssen eben jene Banken auch die Kosten für eine Europäische Bankenaufsicht übernehmen, die sie von Anfang an abgelehnt haben. So hat die EZB die Aufsichtsgebühren für 2014 – 2015 auf 326 Millionen Euro festgesetzt.34 89 Prozent dieser Kosten entfallen auf die 123 bedeutenden Banken, darunter 21 deutsche (z.B. DZ-Bank, viele Landesbanken und auch die Hamburger Sparkasse), 11 Prozent entfallen auf die 3 500 weniger bedeutenden Banken, die nicht einmal direkt von der EZB beaufsichtigt werden, darunter die meisten Sparkassen und Volksbanken.

Nota bene: Es gibt in der Marktwirtschaft keinen Bestandsschutz für bestimmte Geschäftsmodelle. Dennoch mutet es erstaunlich an, dass ein Geschäftsmodell in Gestalt von Genossenschaftsbanken und Sparkassen, welches in Deutschland für außerordentliche Stabilität in der Kreditversorgung gesorgt hat, im Wege der Nullzinspolitik zwangsrationalisiert wird. So könnte der Verdacht entstehen, dass die in Brüssel tätigen Kräfte, die ohnehin die Sparkassenorganisation in Deutschland als ein Netz von Gebietskartellen ansehen, mit Hilfe der EZB ihrem Ziel ein Stück näher kommen wollen.35 Parallel zu kartellrechtlichen Untersuchungen erklärte der Generaldirektor der EZBBankenaufsicht Vesala auf einer Konferenz in Frankfurt, dass die EZB in diesem Jahr einen Blick auf den öffentlich-rechtlichen und genossenschaftlichen Bankensektor in Deutschland werfen werde.

Es ist kaum verwunderlich, dass sich in dieser historisch einmaligen Situation Vertreter des Finanzkapitalismus zu Wort melden und behaupten, dass gerade die niedrigen Zinsen zu einer Gefährdung des Wachstums führen würden. Der legendäre Bill Cross wies bislang unwiderlegt darauf hin, dass die anhaltende Niedrigzinspolitik die Geschäftsmodelle institutioneller Investoren wie Versicherer und Pensionskassen, wenn nicht zerstören, so doch massiv gefährden würde. Diese Anleger hätten für längerfristige Anlagen kaum noch eine Rendite zu erwarten.

Der zweite Hinweis ist noch einschlägiger: Unterstellt man ein rationales Verhalten beim Individualanleger, so schränkt er sich infolge der Nullzinspolitik beim Konsum ein und legt mehr Geld auf die hohe Kante, um für schlechtere Zeiten vorzusorgen. Was dies für die von der Pariser Regierung beschworene Binnennachfrage bedeutet, liegt auf der Hand.

Prof. Dr. Markus C. Kerber ist Professor für öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin.

Dieser Text in ein Auszug aus seinem neuen Buch „Wehrt euch, Bürger!“. Das Buch ist außerordentlich lesenswert. Es ist kurz gefasst, leicht verständlich und gibt auch dem Laien ausreichend Argumentation auf den Weg, um sich gegen die bekannten politischen Täuschungsversuche über die Risiken und Nebenwirkungen der EZB-Politik durchzusetzen.

Seit 2006 ist er Gastprofessor für Verteidigungsökonomie am I.E.P. Paris. Von 1998 bis 2001 war er Gastdozent an der Führungsakademie der Bundeswehr. Seit 1991/92 ist Kerber Rechtsanwalt und Unternehmensberater in Berlin, Paris und London. Er veröffentlicht regelmäßig Schriften zur öffentlichen Finanzwirtschaft und Unternehmensfinanzierung sowie zum Gesellschaftsrecht, Kartellrecht und Europarecht. 2005 gründete er den Think Tank Europolis.

Das neue Buch „Wehrt euch, Bürger!“ kann beim Finanzbuchverlag (FBV) erworben werden.


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