Deutschland

„Am Limit“: Bürgermeister von Freilassing schreibt Brandbrief an Merkel

Lesezeit: 4 min
30.10.2015 17:41
Die Stadt Freilassing hat einen Brandbrief an die Deutsche Bundesregierung gesendet. Die Stadt verlangt die Kurzregistrierung der Flüchtlinge bereits vor dem Grenzübertritt. Zudem richtet sich die Kritik gegen Berlin und Österreich.
„Am Limit“: Bürgermeister von Freilassing schreibt Brandbrief an Merkel

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Freilassing im Südosten Bayerns ist der Grenzort zu Salzburg. Die Flüchtlinge passieren die Brücke über die Saalach, die wenige Kilometer weiter östlich in die Salzach mündet. Parallel dazu verläuft etwas entfernt eine viel befahrene Bundesstraße. In den vergangenen Tagen zählte die Bundespolizei zwischen 1500 und 2000 Flüchtlingen täglich. Ein paar wenige kamen auch mit dem Zug am Bahnhof im weiter westlich gelegenen Rosenheim an.

Der Bürgermeister von Freilassing, Franz Flatscher, hat sich nun mit einem Brandbrief an die Bundesregierung gerichtet.

Brandbrief an die Bundesregierung

Die Stadt Freilassing hat einen Brandbrief an die Deutsche Bundesregierung gesendet, in dem die Situation in Freilassing ausführlich erläutert wird. Die Forderungen lauten, dass die Kontrollen der Bundespolizei und die Kurzregistrierung der Flüchtlinge bereits in Österreich an den Bahnhöfen Linz oder Salzburg vorgenommen werden sollen, wie es auch vor dem „Schengener Abkommen“ oder beim „G7-Gipfel“ in diesem Jahr möglich war, und dann die Weiterleitung der Flüchtlinge per Bahn in die verschiedenen deutschen Bundesländer. Der Stadtrat hat diesen Brief einstimmig beschlossen, der an Bundeskanzlerin Angela Merkel, an die zuständigen Bundesministerien, an Ministerpräsident Horst Seehofer, an bayerische Ministerien, an Abgeordnete, an das Landratsamt Berchtesgadener Land sowie an den Bayerischen Landkreistag, den Städtetag und den Gemeindetag gesendet wurde.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

der anhaltende Flüchtlingsstrom aus den bekannten Bürgerkriegsländern und aus den südosteuropäischen Ländern (Balkan) brachte die Bundesrepublik Deutschland in eine Lage, die sich zur Katastrophe entwickelte. Mit dem Ausmaß dieser Katastrophe wird unser Land noch Jahre zu kämpfen haben.

Hart trifft es jetzt schon einige Städte in Bayern!

Freilassing, Grenzstadt zu Salzburg (Österreich) mit 16.000 Einwohnern, begleitet täglich etwa 1.500 durchreisende Flüchtlinge, die innerhalb von 48 Stunden in Sonderzügen weiterreisen.

Grenzabfertigung und Flüchtlingsaufenthalt

Trotz der Aufenthaltszeit von wenigen Stunden müssen Bundespolizei, THW, Soziale Hilfsorganisationen, Ärzte und freiwillige Helfer in durchgehenden Schichtdiensten Tag und Nacht Hilfe leisten.

Freistellungen durch die Arbeitgeber sind die Ausnahme. Die übrigen leisten diesen Dienst, indem sie ihren Jahresurlaub dafür benutzen, Abend- und Nachtdienste ausserhalb ihrer regulären Arbeitszeit einbringen und ihre Wochenenden für die ununterbrochen zu versorgenden Flüchtlinge hergeben.

Unsere Ärzte haben eigene Praxen, mit Hausbesuchs-und Notdiensten und trotzdem schaffen sie – noch – durchgehende Einsätze an den Flüchtlingsbrennpunkten. Ihre Regelarbeit steht hinten an. Die Kinderärzte mussten ihre Noteinsätze für die Flüchtlingskinder bereits aufgeben.

Diese freiwillige Mitarbeit kann nicht hoch genug geschätzt werden; die ärztliche Versorgung bewahrt uns unter anderem vor Epidemien.

In zahlreichen Gesprächen mit allen Hilfskräften bei meinen täglichen Rundgängen höre ich immer wieder die bange Äußerung: „Wir sind schon lange am Limit !“

Folgende Fragen sind ungeklärt:

– Wie und wie lange bewältigen wir noch größere und/oder anhaltende Zuströme?

– Wie lange werden unsere Ärzte, Hilfsorganisationen und freiwillige Helfer aus der Bevölkerung ihren pausenlosen Schichtdienst fortsetzen können?§

– Wie lange wird die politische Planlosigkeit/Uneinigkeit auf dem Rücken unserer Bürger ausgetragen?

– Wie lange werden Bundespolizei und Bundeswehr ihre Einsätze fortsetzen können?

– Wann wird die Bundespolizei die deutschen Außengrenzen nach dem Schengen-Abkommen wieder sichern?

– Wie versorgen wir die Flüchtlinge in Freilassing auch in der kalten Witterung menschenwürdig und ausreichend?

– Wie lange müssen Flüchtlinge mit ihren traumatischen Erlebnissen, allein, fremd, ohne persönliche Gespräche, ohne psychologische Behandlung und in Ruhelosigkeit mit zig- Anderen auf Fußmärschen, in Zügen, in Wartehallen, in Zelten und unter freiem Himmel verbringen?

– Wann wird der Bahnverkehr wieder ungehindert ablaufen können?

Die Temperaturen – nicht nur beim Wetter – sind stark gefallen!

Die viel zu lange, abwartende Haltung löst leider keine Probleme, schon gar nicht die, die wir täglich lösen müssen.

Die Grenzsituation der Stadt Freilassing bis zum 13. September 2015

– 16.000 Einwohner, Einkaufsstadt

– 10 Jahre „Lokwelt“ mit Ausstellungsstücken des Deutschen Museums Jahresbesuchszahl im Durchschnitt: 30.000

– Florierender Handel, etwa zu 50 % auf das nahe Österreich ausgerichtet

– Pendler beiderseits der Grenze (Arbeitnehmer, Schüler)

– S-Bahn-Verbindung Freilassing-Salzburg halbstündiger Takt

– Günstigeres Wohnen in Freilassing (Österreichische Nachbarn nutzen dieses Angebot)

– Stadtentwicklungskonzept Freilassing seit 2012 mit dem Ziel: Umbau des Bahnareals davon im Programm und derzeit schon begonnen: Bau des grenzüberschreitenden 3. Gleises, nach Beendigung mit 15-minütigem Takt der S-Bahn Freilassing-Salzburg

– Starke Nachfrage nach Gewerbe- und Wohnbauland

– Positive Zukunft der STADT FREILASSING als Wirtschaftsstandort,als Eisenbahnknotenpunkt und im „grenzenlosen Grenzverkehr“

Die Grenzsituation der Stadt Freilassing seit 14. September 2015 bis heute

– Freilassing wurde von heute auf morgen zum Drehkreuz für die Flüchtlingseinreisen über Österreich nach Deutschland

– Übernachtungshalle für die Flüchtlinge liegt mitten in der Stadt mit 1.500 verfügbaren Plätzen

– Fast 50.000 Menschen wurden bis heute in Freilassing an der Grenze aufgefangen, kurzregistriert, versorgt und auf andere Bundesgebiete mit Sonderzügen verteilt.

– Neu: Einführung von Grenzkontrollen direkt an der Grenze, auch auf den Verbindungsstrecken zu den Nachbarorten (z.B. B20, Bad Reichenhall usw.)

– Wirtschaftsstandort und Einkaufsstadt Freilassing: Umsatzeinbußen bis zu 70 %

Für Schüler und Berufstätige

– Grenzüberschreitende Züge, auch S-Bahn, fielen 3 Wochen lang aus

– Zugverkehr danach und bis jetzt nur sehr begrenzt eingesetzt

– Staus an der Grenze Freilassing-Salzburg

– Ständige Polizeipräsenz, Hubschrauber und Flüchtlinge im Augebiet verbreiten Unsicherheit und schlechte Stimmung bis zur Angst.

– Polarisierung in der Bevölkerung

– Freilassings Ansehen ist bereits jetzt stark geschädigt, in erster Linie als Gewerbe- und Wohnstandort, ebenso als zentraler Einkaufsmittelpunkt für die Region

– Samstag, 17.10.2015: Freilassing als Schaubühne für ca. 1.000 Demonstranten mit entsprechender Unruhe und Polizeipräsenz

Unsere Stadt braucht wieder Normalität!

„Ein freundlicher Flüchtlingsempfang“ darf nicht als Argument für das Ausbluten einer Stadt dienen !

Was Freilassing in seinen Grundfesten belastet, sind die „Grenzkontrollen“ mit ihren Auswirkungen wie bereits beschrieben. Keine Frage, die „Grenzkontrollen“ sind wichtig und notwendig - wir wollen schließlich wissen, wer in unser Land kommt. Die Bundespolizei arbeitet hier sehr korrekt.

Was ich aber konkret erwarte:

Warum erleichtert man die Abfertigungsmaßnahmen nicht sowohl für die Flüchtlinge als auch für uns als Grenzregion?

Warum werden diese „Kontrollen“ nicht bereits an den Bahnhöfen in Linz oder Salzburg vorgenommen?

Warum werden die Flüchtlinge erst nach Deutschland, sprich Freilassing, transportiert, damit hier dann das ganze bereits beschriebene Prozedere abläuft?

Warum bringt sich Österreich als EU-Mitgliedsland nicht im gleichen Maß wie bisher Deutschland ein ?

Forderung der Stadt Freilassing ab sofort an die Deutsche Bundesregierung

– Polizeiliche Kontrolle und Kurzregistrierung bereits in Österreich an den Bahnhöfen Linz oder Salzburg; wie vor dem „Schengener Abkommen“ oder beim „G7-Gipfel“.

– Weitertransport der Flüchtlinge per Bahn in die verschiedenen deutschen Bundesgebiete

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

ich danke Ihnen nochmals für die Zeit und Aufmerksamkeit, die Sie, auch für die Situation Freilassings, bei meinem Besuch in Ihrem Haus aufgebracht haben.

Ich achte auch die Bemühungen, die im Namen der Deutschen Bundesregierung begonnen wurden.

Sie reichen aber keinesfalls aus, um die Zukunft mittel- und langfristig zu gestalten, vor allem nicht bei einem ungebrochenen, anhaltenden Strom weiterer (illegaler) Einwanderer. In diesen Tagen z.B. stehen 10.000 Flüchtlinge an der slowenischen Grenze!

Die Stadt Freilassing fordert als Konsequenz, dass „Grenzkontrollen“ und Flüchtlingstransporte ab jetzt von Österreich aus durchgeführt werden.

5 Wochen oder mehr in Freilassing sind genug!

Die Stadt Freilassing musste bereits folgende Herausforderungen meistern:

– 1989 Erstaufnahmelager für Tausende flüchtender DDR-Bürger

– Jahre danach die Aufnahme der zurückkehrenden Deutsch-Aussiedler und der russischen Flüchtlinge und ihre Integration

– 2013 Hochwasser in Freilassing mit Verlust unseres Hallenbades mit Turnhalle (Schul, Sport -und Familiensportanlage) derzeit: Planung des Wiederaufbaus

Sollte die Flüchtlingsversorgung in diesem Maß in Freilassing noch weiter anhalten, wird unsere Stadt dauerhaft in allen genannten Punkten zerstört.

Mit freundlichen Grüßen

Stadtrat der STADT FREILASSING

Ihr

Josef Flatscher

(Unterschriftsliste beiliegend)

Erster Bürgermeister


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