Politik

Das Flüchtlings-Mädchen, das Weihnachten nicht mehr erleben durfte

Lesezeit: 4 min
24.12.2015 16:02
Routiniert lesen wir täglich von den Flüchtlingen, die umkommen, im eiskalten Mittelmeer. Immer wieder sind es Kinder, die viel zu früh dem Tod begegnen. Warum?, fragen wir. Zoran Dobric über die Geschichte eines kleinen Mädchens aus Syrien, das Weihnachten 2015 nicht mehr erleben durfte.
Das Flüchtlings-Mädchen, das Weihnachten nicht mehr erleben durfte

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Sie war vier Jahre alt. Am neunzehnten November ließ sie sich ein letztes Mal fotografieren. Einen Tag später hat sie mir von dem Foto herunter in die Augen geschaut, dem Blick eines gerade geweckten Kindes; dem Blick eines von der Fotokamera nicht begeisterten Mädchens – dachte ich. „Es ist ein Abschiedsfoto“, sagt ein junger Mann. Seine rechte Hand, in der er ein großes Smartphone und auf seinem Display das Mädchenfoto hält, zittert. Ich schaue ihm in die Augen, er dreht sich von mir weg und setzt sich auf eine Bank. Seine Schultern zittern, in der rechten Hand das Smartphone mit dem Mädchenfoto.

Ich setze mich zu ihm, lege meinen Arm über seine Schulter und drücke ihn an mich. Der junge Mann muss vier oder fünf Jahre jünger sein als mein eigener Sohn. Es ist seine erste große Reise. Sein Zuhause hat er vor drei Tagen verlassen. Mit noch fünf weiteren Jungs in seinem Alter ist er auf dem Weg nach Deutschland, vielleicht Schweden oder Holland. „Es ist nicht so wichtig“, hat er mir gerade erzählt. Er war weder in Deutschland, noch in Schweden, noch in Holland. Er ist überhaupt das erste Mal auf europäischem Boden. „Sie ist tot“, sagt er. „Sie ist gestern gestorben“.

Mit leerem Blick sitzt er neben mir, zieht die Augenbrauen zusammen und schaut mich ganz ernst an. Für einen kurzen Moment fühle ich mich unsicher. „Sie ist tot, ertrunken“. Er zieht seine Knie zusammen, hebt die Füße auf die Bank und schaut aufs Meer. Lange. Es ist der Hafen von Mitelini, der Hauptstadt von Lesbos. Links von uns eine riesengroße griechische Fähre, die seit zwei Tagen wegen starkem Wind und hohen Wellen hunderte von Flüchtlingen auf die Reise nach Piräus warten lässt. Rechts – die Promenade einer heruntergekommenen Stadt mit einigen wenigen dem Wind trotzenden Menschen auf der Straße. Die Gasthäuser sind voll. Es sind keine Griechen, die an ihren Baars sitzen. Es sind Afghanen, Iraner, Syrer, Palästinenser, Iraker, Afrikaner – Menschen auf der Flucht. Menschen, die in den letzten fünf Tagen vom türkischen Ayvalik nach Lesbos in Plastikbooten gereist sind - unausgeschlafen, erschöpft, ängstlich.

„Wir sind gestern noch auf der türkischen Seite gestanden. Dreiundfünfzig Menschen waren wir insgesamt. Es sind drei Männer zu uns gekommen und verlangten tausend Dollar pro Kopf. Unsere Versuche den Preis nach unten zu drücken waren erfolglos. Nach einer Stunde waren sie mit drei Plastikbooten wieder bei uns. Zuerst haben sie das Geld kassiert und dann jedes von den drei Booten mit uns aufgefüllt. Wir waren dreiundzwanzig Leute in einem Boot. Gedacht haben wir uns, dass sie, die Schlepper, uns mit den Booten nach Lesbos fahren würden. Doch ein Typ kam zu uns und sagte: ,Go, go! Ayde!’ Ich habe zu ihm geschaut und wusste nicht was er will. Er drückt mir das Lenkrad in die Hand und schreit mich an: ,Go!’ Ich lasse das Ding los und sage ihm dass ich zum ersten Mal in einem Boot sitze und keine Ahnung vom Bootfahren habe. Plötzlich zieht er eine Pistole aus seiner Jacke heraus, setzt mir den Lauf an den Kopf und schreit noch ein Mal: ,Go, I kill You! Go I kill You!’.

Der Motor ist schon gelaufen. Er hat meine Hand auf den Gasgriff gelegt, kurz gedreht und wir sind schon gefahren. Ich hatte panische Angst. Die Leute am Boot waren geschockt, kreidebleich und still. Nach etwa einer halben Stunde habe ich mich etwas entspannt. Ich habe gesehen, dass sich das Boot leicht fahren lässt. Ich hatte das Ding im Griff und das Meer war ruhig. Wir haben angefangen zu lachen, zu plaudern. Die türkische Küste war schon gute eineinhalb bis zwei Kilometer hinter uns. Wir konnten keine Menschen mehr auf dem türkischen Strand sehen.

Die griechische Seite war noch gute acht bis neun Kilometer vor uns. Rechts vor uns war ein Boot mit dreizehn Männern, hinter uns war ein Boot mit siebzehn Leuten – hauptsächlich Familien. Sie war in dem Boot“, zeigt er auf das Mädchenfoto am Smartphone. „Ich habe sie am türkischen Strand noch getragen und gespielt habe ich mit ihr. Auf meine Bitte, hat ihr Vater dieses Foto mit meiner Telefonkamera gemacht.“ Er schaut aufs Meer. „Auf einmal schreit eine Frau vor mir und zeigt in meine Richtung: ,Schaut, schaut, das Boot! Das Boot!’ Ich habe mich umgedreht und habe geschaut. Es war nur noch der hintere Teil vom Boot zu sehen. Um den Motor herum sind noch einige Leute am Boot gehangen. Dann habe ich Schreie gehört. Ich weiß nicht wie lange ich noch hingeschaut habe.

Irgendwann war nichts mehr zu sehen. Ich habe mich nach vorne gedreht und habe die entsetzten Gesichter vor mir gesehen. Erst da ist mir aufgefallen, dass wir nicht einmal versucht hatten, sie zu retten. Wir waren wie gelähmt. „Sie war...“, zeigt er auf das Mädchenfoto, „Sie war mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder auf dem Boot. Sie war vier, glaube ich. Ihr Bruder muss so fünf, sechs Jahre alt gewesen sein; die Eltern so Mitte dreißig.“ Ich frage ihn, ob sie das Unglück gemeldet haben. „Nein, haben wir nicht. Ich jedenfalls nicht. Es würde auch nichts bringen. Sie sind alle tot. Ich weiß nicht einmal wie sie heißt. Ich weiß nicht wo sie herkamen. Ich habe keine blanke Ahnung von irgendetwas. Ich will nur weg hier.“

Eine Zeitlang haben wir schweigend nebeneinander gesessen. Dann drehte er sich zu mir und fragte, ob ich wüsste, wo es auf der Flüchtlingsstrecke von Athen bis Berlin am schwierigsten sei. Die Route, für die er sich interessierte, ist mir ziemlich bekannt. Insbesondere deren Grenzübergänge, mit Stacheldrahtzäunen und bewaffneter Polizei. „Hör zu,“ sagte ich zu ihm, „Der, der Angst vor Spatzen hat, sät auch kein Getreide, und derjenige, der gar kein Getreide sät, stirbt vor Hunger“. Er lachte. Gesagt hatte er nichts.

Am nächsten Morgen konnte ich noch beobachten wie sich die Fähre voll mit Flüchtlingen langsam aus dem kleinen Hafen in Mitelini verabschiedete. Stundenlang versuchte ich im Internet irgendeinen Bericht über den Tod von siebzehn Menschen im Mittelmehr zu finden. Erfolgslos. Das Abschiedsfoto des kleinen Mädchens ist die einzige Spur zu den siebzehn Toten im Mittelmeer, nach denen niemand fragt.

Zoran Dobric ist Redakteur bei Österreichischen Rundfunk (ORF). Er erhielt 2009 den renommierten Robert-Hochner-Preis der österreichischen Journalistengewerkschaft für seine investigative Arbeit. 2011 erhielt Dobric für sein langjähriges journalistisches Eintreten für die Rechte sozialer Minderheiten den Claus-Gatterer-Preis.


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