Politik

Osteuropäer wollen nicht EU-Mitglieder zweiter Klasse werden

Lesezeit: 3 min
13.03.2017 01:05
Die osteuropäischen EU-Staaten haben das Vertrauen in die EU verloren. Doch die EU weigert sich, die Realität anzuerkennen und versucht es mit Druck und flotten Sprüchen. Mit dieser Attitüde droht eine Spaltung.
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In der EU droht ein anhaltendes Zerwürfnis mit Polen: Nach dem Eklat um die Wiederwahl von Ratspräsident Donald Tusk kündigte Ministerpräsidentin Beata Szydlo am Freitag auch entschiedenen Widerstand gegen die Pläne Deutschlands, Frankreichs und anderer Mitgliedstaaten für die Reform der EU nach dem Brexit an. Bundeskanzlerin Angela Merkel wies den Vorwurf aus Warschau zurück, die Personalentscheidung zu Tusk sei ein „Diktat aus Berlin“.

„Wir lehnen jegliche Gespräche über ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten ab“, sagte Szydlo in Brüssel nach einem Gipfel zur Zukunft der EU. Bei der EU-Reform dürften die älteren EU-Mitglieder nicht glauben, „dass sie das Recht haben, Lösungen aufzuzwingen“. Vielmehr müssten nationale Regierungen mehr Kontrolle über die EU erhalten, damit deren demokratische Legitimation erhöht werde.

Dem scheidenden französischen Präsidenten François Hollande warf Szydlo vor, er habe Polen auf dem Gipfel „erpressen“ wollen. Was sie Hollande konkret vorwarf, sagte sie nicht. „Muss ich die Erpressung eines Präsidenten ernst nehmen, dessen Zustimmungsrate bei vier Prozent liegt und der bald kein Präsident mehr ist?“, sagte sie.

Das Misstrauen der Polen sitzt tief. Es ist in einer echten Führungsschwäche der EU begründet: Szydlo sagte in den Tagen vor dem Gipfel-Eklat mehrfach, dass man ihr nicht zugehört habe, dass ihre Argumente einfach vom Tisch gewischt worden seien. Tatsächlich machte sich EU-Präsident Jean-Claude Juncker in dieser kritischen Phase über die sichtlich unter Druck stehenden Polen sogar lustig. Als Tusk zu Juncker sagte, er werde mit der polnische Delegation Polnisch reden, sagte Juncker, er hoffe, dass die Polen wenigstens diese Sprache verstehen würden.

Die Regierungen der osteuropäischen Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn befürchten seit längerem eine Spaltung der EU, nach der sie als Mitglieder zweiter Klasse betrachtet werden könnten, berichtet der EU Observer. „Jegliche Form einer verstärkten Zusammenarbeit sollte prinzipiell jedem Mitgliedsstaat offenstehen und jegliche Form der Spaltung des Einheitlichen Marktes, des Schengen-Raumes und der Europäischen Union selbstverständlich verhindern“, heißt es in einer Stellungnahme der vier Regierungen von Anfang März.

Auslöser für die Befürchtungen eines Auseinanderdriftens der EU in verschiedene Blöcke waren die Vorschläge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur Zukunft der Union. Diese sehen fünf Modelle vor, an denen sich die zukünftige Entwicklung orientieren könne.

Eines der Modelle, das sogenannte „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, ruft dabei besonders viel Misstrauen in Osteuropa hervor. Warschau, Prag, Budapest und Bratislava befürchten, dass sie dadurch in der EU von den zentral- und westeuropäischen Staaten abgehängt werden könnten. Der Wirtschaftsjournalist Ronald Barazon kritisiert das Vorhaben ebenfalls als Anfang vom Ende des Staatenbundes. „Unter der beschönigenden Formel ‚Länder, die mehr tun wollen, mögen mehr tun‘ bringt Juncker das schon oft strapazierte Modell eines ‚Europa der zwei Geschwindigkeiten‘ zur Sprache. Die Formel ist bekannt: Die höher entwickelten, erfolgreicheren Staaten sollen die Integration stärker vorantreiben, die schwächeren Länder mögen sich Zeit lassen und weniger strenge Vorschriften anwenden. Man muss diese harmlos klingenden Sätze in Klartext übertragen. Folgende Szenarien drängen sich auf: Die EU-Osterweiterung wird rückgängig gemacht. Estland, Lettland und Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien sowie Rumänien und Bulgarien bleiben nach außen Mitglieder, sind aber in der Praxis nur mehr assoziiert. Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, auch Irland und Malta sowie Zypern werden zu zweitrangigen Mitgliedern herabgestuft. Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden bilden die Stars der schnellen Geschwindigkeit.“

Während die Osteuropäer eine Spaltung der EU befürchten, findet die Idee im Westen Europas durchaus Anklang. Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Staatspräsident Francois Hollande, Italiens Premierminister Paolo Gentiloni sowie der Maltesische Premierminister Joseph Muscat haben sich dazu bereits wohlwollend geäußert. „Wir müssen nach Wegen suchen, um die unterschiedlichen Ambitionen der Mitgliedsstaaten besser zu berücksichtigen, damit Europa die Erwartungen aller europäischer Bürger besser befriedigen kann“, hieß es verklausuliert in einer Anfang März veröffentlichten Stellungnahme von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel und seines französischen Amtskollegen Jean-Marc Ayrault.

Mit Blick auf das EU-Gipfeltreffen in Rom am 25. März, bei dem über die Zukunft der EU beraten werden soll, wiesen die osteuropäischen Regierungen daraufhin, dass die notwendige Flexibilität auch auf Basis der bestehenden Verträge durch eine verstärkte Zusammenarbeit erreicht werden könne. Oberste Priorität habe jedoch die Einigkeit der Mitgliedsstaaten. „Wir werden einer Spaltung innerhalb der EU nicht zustimmen, weil dies direkt zur Auflösung führt“, sagte die polnische Premierministerin Beata Szydlo.


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