Politik

Gegen jede Fremdherrschaft: Warum Polen der EU gefährlich werden kann

Lesezeit: 7 min
30.04.2017 00:54
Gegen jede Fremdherrschaft: Warum Polen der EU gefährlich werden kann. (Dieser Artikel ist nur für Abonnenten zugänglich)
Gegen jede Fremdherrschaft: Warum Polen der EU gefährlich werden kann

Mehr zum Thema:  
Europa >
Benachrichtigung über neue Artikel:  
Europa  

+++Werbung+++

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Das Grundkonzept der EU lautet: Die Mitgliedstaaten werden sukzessive über einen längeren Integrationsprozess zu einer tatsächlichen Union zusammenwachsen. Die gegenteilige Tendenz bestimmt die Realität. Bewegungen, die für die Souveränität der Nationalstaaten eintreten und eine Schwächung der zentralen Einrichtungen einfordern, sind überall in Europa auf dem Vormarsch.

Polen stellt den Fortbestand der EU in der aktuellen Form in Frage

Am Beispiel Polens lassen sich die unter der Oberfläche wirkenden Widersprüche und Spannungen demonstrieren. Das Land ist der größte Nutznießer der EU-Zahlungen und erhält netto jährlich knapp 10 Mrd. Euro, bildet aber ein enormes Risiko für den Fortbestand der EU in ihrer jetzigen Form. In Polen regiert die PiS – Partei für Recht und Gerechtigkeit ¬, die sich zwar zur EU bekennt, aber die Eigenständigkeit und Souveränität Polens als oberste Priorität versteht und sich mehr nach Washington und London orientiert als nach Brüssel. Diese Haltung hat viele Ursachen, die näher zu erläutern sind.

Besonders auffallend ist der Widerspruch zwischen dem Umstand, dass der aktuelle Präsident des EU-Rats der frühere polnische Ministerpräsident Donald Tusk ist, sein Land aber die aktuelle Form der EU ablehnt. Tusk ist der Vertreter der liberal-konservativen PO – Bürgerplattform ¬, die acht Jahre im Rahmen einer EU-freundlichen Koalition regiert hat. Die PO hat 2015 die Wahlen verloren, gewonnen hat die rechts-konservativ-klerikale PiS unter Jaroslaw Kaczynski, die sogar Tusk als EU-Ratspräsident gegen die Stimmen der 27 anderen Mitgliedstaaten verhindern wollte. Diese wenigen Hinweise zeigen Polen als gespaltenes Land.

Die Teilung Polens aus dem Jahr 1815 wirkt bis heute nach

Die inner-polnische Spaltung zwischen der EU-freundlichen PO und der nationalistischen PiS hat sogar eine geografische Grenze. Polen war bis 1918 kein eigenständiger Staat, das Land war seit dem Wiener Kongress 1815 zwischen Preußen im Westen und Russland im Osten aufgeteilt, Österreich-Ungarn hielt den südöstlichen Teil. Die Grenze zwischen der Zustimmung zur EU-freundlichen PO und der Anhängerschaft der PiS bei den Wahlen 2015 entsprach genau dem Verlauf der Demarkationslinie zwischen dem ehemals preußischen und dem früher russischen Teil. Die West-Ost-Teilung setzt sich auch im Südosten fort.

Im preußischen Teil kam es im 19. Jahrhundert zu einer eindrucksvollen Entwicklung, die insbesondere Katowice, die Hauptstadt Schlesiens, zu einem blühenden Industrie- und Kultur-Zentrum machte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fand in Schlesien 1921 eine Volksabstimmung statt, die über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder zu Polen entscheiden sollte. Insgesamt votierten über 59,6 Prozent für Deutschland, in der Stadt Katowice waren es sogar 85,38 Prozent. Trotzdem wurde von den Alliierten Katowice Polen zugeordnet.

Im Osten vergisst man eineinhalb Jahrhunderte russische Beherrschung nicht

Preußen und Österreich-Ungarn überließen den besetzten Teilen Polens einen hohen Grad an Autonomie. Der russische Teil wurde jedoch nach einem gescheiterten Aufstand 1831 entgegen den Beschlüssen des Wiener Kongresses zu einer russischen Provinz unter Moskauer Diktat. Von 1831 bis 1918 war also dieser Teil bereits siebenundachtzig Jahre unter russischer Herrschaft. In der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939 war Polen unabhängig, im Zweiten Weltkrieg erfolgte wieder eine Teilung zwischen Deutschland und Russland, und von 1945 bis 1989 stand Polen zur Gänze unter sowjetischer Dominanz. Dass die Angst vor Russland einen beherrschenden Faktor bildet, ist nicht weiter verwunderlich. Als im Nachbarland Ukraine die Halbinsel Krim von Russland annektiert wurde, sahen sich die Polen ebenfalls bedroht.

Teilungen Polens gab es in der Geschichte auch früher, doch sei hier die Periode 1815 bis 1989 in den Fokus gerückt. Hundertvierundsiebzig Jahre – abzüglich der einundzwanzig Zwischenkriegsjahre von 1918 bis 1939 – war Polen ein besetztes Land, wobei in den eineinhalb Jahrhunderten auch in Polen der europaweit aktive Nationalismus eine entscheidende Rolle gewann.

Vor diesem Hintergrund wirken die Tendenzen der Brüsseler Zentralstellen, in jedem Lebensbereich mit einer Unzahl von Vorschriften einzugreifen, besonders negativ. Unweigerlich entsteht der Eindruck, dass man nach der deutschen, russischen und österreichischen Herrschaft einem neuen Diktat unterworfen wird.

Der PiS hilft auch die Betonung der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche. Entscheidend ist nicht nur der Umstand, dass ein Großteil der Bevölkerung sehr religiös ist. Eine besondere Rolle spielt die Verehrung für Papst Johannes Paul II, der als Erzbischof von Krakau maßgeblich zur Beendigung der Sowjetherrschaft über Polen beigetragen hat. Die Kirche gilt somit als Verteidigerin eines unabhängigen Polens.

Im Osten Polens sind Wachstum und Wohlstand nicht angekommen

Zu fragen ist allerdings, wieso angesichts dieser Umstände die liberal-konservative, EU-freundliche PO unter Donald Tusk acht Jahre lang regieren und eine Vielzahl von Reformen erfolgreich durchführen konnte. Die Wirtschaftsdaten dieser Periode machen eine Erfolgsgeschichte deutlich, die jedem europäischen Vergleich standhält. Das Durchschnittseinkommen liegt landesweit nach kräftigen Steigerungen bei knapp 1.000 Euro, also etwa 12.000 Euro im Jahr, doch sind die Preise deutlich niedriger als in der übrigen EU, sodass man gemessen an der Kaufkraft von etwa 1.700 Euro oder rund 20.000 im Jahr ausgehen kann. Zu beachten ist, dass diese Beträge Durchschnittswerte sind, die auch die bescheidenen Einkommen in den ländlichen Gebieten vor allem im Osten enthalten. In Warschau, Katowice und Krakau verdient man mehr.

Die Gesamtdaten zeigen Polen auf der Überholspur und dennoch wurde die PO 2015 von der PiS geschlagen. Neben fundamentalen Strukturproblemen hat der PO die Ungeduld der gut ausgebildeten, jungen Generation geschadet, die sich einen schnelleren Aufholprozess wünscht. Oft hört man den Wunsch nach einem attraktiven Job im Land und die Klage, dass viele letztlich doch ins Ausland gehen müssen um einen der Qualifikation entsprechenden Job zu finden.

Entscheidend sind aber die Strukturschwächen.

Der Aufschwung ist vor allem im Westen des Landes und insbesondere in den Städten zu spüren. In den ländlichen Regionen, in erster Linie im Osten, kamen das Wachstum und der gestiegene Wohlstand nicht an. Von den 38 Millionen Einwohnern leben etwa 40 Prozent auf dem Land. Immer noch arbeiten mehr als 11 Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft, ein Vielfaches des EU-Durchschnitts. In den Dörfern, vor allem im Osten, bietet sich ein heute anderswo bereits ungewohntes Bild. Viele Menschen beleben die Straßen, den Marktplatz, es wird geplaudert, diskutiert. Während es in Westeuropa in vielen Gemeinden durch die Landflucht still geworden ist, bestimmen in Polen andere Faktoren den ländlichen Raum.

In Warschau blickt man vor allem nach London und Washington

Es gibt kaum eine Gemeinde, die nicht einige Einwohner hat, die in Westeuropa arbeiten. Das Motiv ist leicht erklärt: Für einen Euro bekommt man 4 Zloty. Die Preise sind deutlich niedriger als in Westeuropa. Somit leisten die Überweisungen der Auslandspolen an die daheim gebliebenen Familien einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung des Lebensstandards im Land. Dieser Umstand hat gravierende Konsequenzen:

Für die Landbewohner stellt sich die Frage, warum in ihren Regionen keine Aussicht besteht, dass die Einkommen in absehbarer Zukunft das Niveau in Westeuropa oder auch nur in den polnischen Städten erreichen werden. Schließlich wurde der Beitritt zur EU als der Weg aus der Armut gepriesen. Viel ist auch die Rede von den Förderungen aus Brüssel, die aber keine Wunder wirken. Prächtige Autobahnen, die kaum benützt werden, wie etwa die Strecke von Krakau an die ukrainische Grenze, trösten nicht über die eigenen, drückende Alltagssorgen hinweg.

Der Brexit bedeutet auch das Ende der Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger und somit für die knapp eine Million Polen, die in Großbritannien arbeiten. Die britische Premierministerin, Theresa May, hat bereits in November erklärt, dass polnische Staatsbürger auch weiterhin in Großbritannien arbeiten können. Allerdings erwartet sie im Gegenzug von der polnischen Regierung eine Unterstützung bei den Verhandlungen über die Bedingungen des Austritts aus der EU.

Für Polen geht es nicht nur um die Überweisungen der Auslandspolen. Großbritannien bleibt auch nach dem Austritt aus der EU ein entscheidendes Mitglied der NATO, die in den vergangenen Jahren die militärische Präsenz in Polen ausgebaut hat. Nach den historischen Erfahrungen fürchtet man sich stets vor russischen Expansionsbestrebungen. Die EU wird als Verteidigungs-Union nicht ernst genommen. Um das Engagement des Westens abzusichern, bemüht man sich um ein enges Verhältnis zur NATO und somit zu den USA und zu Großbritannien.

Die EU-kritische Regierung hat also handfeste Gründe, um den von Brüssel ausgerufenen, harten Kurs gegenüber Großbritannien zu unterlaufen.

Der aktuelle Kurs Polens verletzt die politischen Grundsätze der EU

Die seit eineinhalb Jahren regierende PiS steuert einen Kurs, der mit den demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen der EU nicht vereinbar ist. Für Proteste im Land und in der EU sorgt die von der PiS verfügte Entmachtung des Verfassungsgerichts. Derzeit wird zudem eine Justizreform betrieben, die der Politik Einfluss auf die Gerichte sichern soll. Die Arbeit der Opposition und der Medien wird behindert. Historiker, die sich kritisch mit der polnischen Geschichte auseinandersetzen, werden unter Druck gesetzt. Es darf nur ein positives Bild gezeichnet werden, das einen heldenhaften Widerstand gegen die verschiedenen Besatzungsmächte zeigt. Die von der Vorgängerregierung durchgesetzte Anhebung des Pensionsantrittsalters von 60 für Frauen und 65 für Männer auf 67 wurde rückgängig gemacht. Angestrebt wurde ein Abtreibungsverbot, das aber das Parlament abgelehnt hat. Die Wirtschaftspolitik ist im Gegensatz zu den EU-Binnenmarkt-Regeln auf die Förderung polnischer Unternehmen abgestellt. Eine Teilnahme an einer gemeinsam, EU-weiten Lösung des Flüchtlingsproblems wird abgelehnt.

Für Befremden sorgt auch der Umstand, dass die PiS mit knapp 38 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit im Parlament hat. Dies ist allerdings wesentlich darauf zurückzuführen, dass in Polen 30 (!) Parteien im Einsatz sind. Eine einzelne Partei braucht mindestens 5 Prozent der Wähler für den Einzug ins Parlament, ein Parteienbündnis mindestens 8 Prozent. Dies ist nur bei wenigen der Fall und so werden viele Stimmen bei der Verteilung der Mandate nicht berücksichtigt. Außerdem sieht das Wahlrecht einen Bonus für die stimmenstärkste Partei vor.

Die EU braucht eine neue Polen-Politik so dringend wie eine gute Brexit-Lösung

Nachvollziehbar und notwendig sind die Proteste aus Brüssel gegen die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien durch die PiS-Regierung. Diese Aktionen sind allerdings nicht in der Lage, die grundsätzliche Gefährdung der EU durch Polen zu verringern.

Das Land konfrontiert die EU wie auch Brexit mit den tatsächlichen Schwächen der Union, die dringend zu beseitigen sind:

- Die Bevormundung durch die Regulierung fast aller Lebensbereiche wird in der gesamten EU als unerträglich empfunden, in einem Land, das eineinhalb Jahrhunderte unter fremder Herrschaft leiden musste, entsteht der Eindruck einer neuen Besatzung.

- Weltweit sind die Bürger in benachteiligten Regionen potenzielle Protestwähler. Polen wird ständig die großzügige Förderung vorgehalten, die aber aufgrund mangelnder Effizienz die Probleme in der Praxis nicht lösen kann. Der Frust ist dementsprechend besonders groß.

- Der Versuch, 2005 der EU eine Verfassung zu geben und eine politische Union zu schaffen, ist gescheitert. In der Folge wurde 2009 mit dem Lissabonner Vertrag eine Krücke geschaffen, die einerseits eine stärkere Bindung der Mitgliedstaaten vorsieht, aber gleichzeitig erstmals in der Geschichte der EU den Austritt eines Landes möglich machte. Polen hat zwar den Lissabonner Vertrag unterzeichnet, die polnische Regierung favorisiert aber die lockeren Bedingungen, die vor Lissabon gegolten haben.

- In Polen ist nach der langen Besatzung vor allem durch Russland das Sicherheitsbedürfnis besonders groß. In der EU ist zwar viel von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die Rede, auch die Schaffung einer EU-Armee wird diskutiert, doch letztlich bestimmt die NATO unter Führung der USA diesen Bereich.

Die nähere Analyse zeigt, dass die Probleme, die die polnische EU-Kritik bestimmen, in der gesamten Union gelöst werden müssen. Die historische Entwicklung, die Nachwehen der kommunistischen Staatswirtschaft und die aktuelle, autokratisch agierende Regierung machen die polnische Politik zu einem gefährlichen Sprengsatz für die EU.

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


Mehr zum Thema:  
Europa >

DWN
Finanzen
Finanzen Goldrausch: Warum der Goldpreis immer weiter steigt und deutsche Anleger ausgerechnet jetzt verkaufen
19.03.2024

Der Goldpreis eilt von einem Rekordhoch zum nächsten – und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo die Zinsen besonders hoch sind....

DWN
Immobilien
Immobilien Immoscout: Vorsichtige positive Signale auf dem Immobilienmarkt
19.03.2024

Stark ansteigende Kreditzinsen und Baukosten haben den Kauf eines Eigenheims für viele in den vergangenen Jahren unerschwinglich gemacht....

DWN
Finanzen
Finanzen Fundamentale Aktienanalyse - so bewertet man Wertpapiere richtig
18.03.2024

Die fundamentale Aktienanalyse ist ein unverzichtbares Instrument für jeden Investor, der Wertpapiere nicht nur verstehen, sondern auch...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Umfrage: Sehr viele Deutsche sorgen sich vor weiteren Energiepreissprüngen
18.03.2024

Die Menschen in Deutschland haben einer Umfrage zufolge Sorgen vor weiteren Energiesprüngen und allgemeinen Preissteigerungen - trotz der...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Airbus-Jubiläum: 50 Jahre Linienflüge im Airbus - Boeing hat Wettkampf quasi verloren
18.03.2024

Kein Hersteller baut so gute und so viele Flugzeuge wie Airbus. Eine Erfolgsgeschichte, an die sich Frankreich und Deutschland gerade in...

DWN
Finanzen
Finanzen Bankenaufsicht: Mehrzahl der Geldinstitute kann kräftigen Gegenwind überstehen
18.03.2024

In Deutschland und Europa ist das Gros der Geldhäuser gut kapitalisiert. Die Krise an den Märkten für Büro- und Handelsimmobilien...

DWN
Technologie
Technologie Verhandelt Apple mit Google über KI-Technologie?
18.03.2024

Gibt es bald Googles KI auf Apples iPhones? Laut gut informierten Kreisen verhandelt Apple angeblich mit Google über die Integration von...

DWN
Panorama
Panorama ifo-Institut und EconPol Europe: Wirtschaftsforscher fordern mehr Energie-Zusammenarbeit in Europa
18.03.2024

Wirtschaftswissenschaftler appellieren an die EU, im Zusammenhang mit ihrer Energiepolitik aus der aktuellen Energiekrise zu lernen und mit...