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EU unterschätzt sträflich Folgen des Austritts Großbritanniens

Lesezeit: 5 min
18.03.2018 21:55  Aktualisiert: 18.03.2018 21:55
Der EU droht nach dem Ausbruch Großbritanniens der Zerfall. Am Ende könnte ein Verein der Einzelinteressen stehen.
EU unterschätzt sträflich Folgen des Austritts Großbritanniens

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Seit Monaten wird in der EU die Illusion gepflegt, dass Großbritannien bei den Brexit-Verhandlungen klein beigeben müsse. Man inszeniert die reiche und mächtige Union auf der einen und die schwache Insel auf der anderen Seite. Diese Position wird im Vereinigten Königreich von den EU-Anhängern unterstützt, die das Referendum für den Austritt und die Politik der Regierung ablehnen. Auch der neue Film über Churchills Abkehr von der Appeasement-Politik seines Vorgängers im Zweiten Weltkrieg wird in London von beiden Parteien strapaziert: Für die einen wäre es Churchill-konform, Härte gegenüber der EU zu zeigen, für die anderen das genaue Gegenteil, nämlich Brexit abzublasen. Zahllose Analysen – zuletzt am Beginn dieser Woche – liefern Zahlen, die die wirtschaftlichen Schäden für das Vereinigte Königreich aber auch für die EU zeigen, immer unter der Annahme eines noch unbekannten Ausgangs der Verhandlungen.

Tatsächlich drohen Schäden für beide Seiten. Paradoxerweise ist in erster Linie die EU unter Druck und nicht Großbritannien. Somit ist das Imponiergehabe der EU-Vertreter fehl am Platz. Es geht um zwei lebenswichtige Themen: um den Außenhandel und um den Finanzbereich.

Im Außenhandel muss die EU für ein Freihandelsabkommen sein:

Großbritannien kauft weit mehr Waren von den anderen EU-Staaten als umgekehrt. Groteskerweise gibt es keine verlässlichen Daten, da Brüssel und London andere Werte ausweisen. Alle bestätigen aber, dass das Königreich gegenüber der übrigen EU ein Handelsbilanzdefizit von etwa 80 Milliarden Euro im Jahr haben dürfte.

Fazit: Die Lieferanten an Kontinent hätten somit aus einem Freihandelsabkommen die größeren Vorteile und wirken in diese Richtung auf die EU-Verhandler ein.

Am Rande vermerkt: Im Statistik-Dschungel mit Euro, Pfund und Dollar kann man nur schätzen, dass Großbritannien 2016 etwa 370 Milliarden Euro Exporte bei sinkender Tendenz und 560 Milliarden Importe bei steigender Tendenz verzeichnete und somit ein gesamtes Handelsbilanzdefizit von 190 Milliarden Euro hatte.

Im Finanzbereich will die EU Großbritannien behindern:

Großbritannien ist demgegenüber stark bei den Dienstleistungen, wobei das Finanzzentrum der Londoner City die entscheidende Rolle spielt. In diesem Bereich machen sich die kontinentalen Hauptstädte von Paris bis Frankfurt Hoffnungen, das Geschäft aus London auf den Kontinent ziehen zu können. Diese Gruppe der EU-Lobbyisten fordert das Gegenteil der Händler-Wünsche: Man möge den Brexit nutzen, um Mauern gegen die Londoner City zu bauen. Allerdings sind diese Initiativen zum Scheitern verurteilt: Die Londoner City ist ein Staat im Staat und genießt seit dem Mittelalter immer wieder erneuerte Privilegien, die kontinentale Finanzplätze nicht haben.

Im britischen Steuerrecht wurden die Vorteile der Finanzinvestoren kürzlich ausgebaut. Man hatte bereits unter dem Druck der EU und der OECD eine Verschlechterung überlegt, ließ den Plan aber angesichts von Brexit wieder fallen.

England schließt auch trotz des internationalen Drucks die Steueroasen nicht, die der Londoner City zugute kommen: Cayman Islands, Bermudas, Jungferninseln, Anguilla, Montserrat sowie Turks & Caicos bilden sogenannte britische Überseegebiete. Dazu kommen Guernsey und Isle of Man, die unmittelbar der Krone unterstehen und rechtlich kein Teil des Vereinigten Königreichs sind.

Unternehmen, die nicht in Großbritannien registriert sind, zahlen keine Körperschaftsteuer außer für Gewinne aus lokalen Beteiligungen: Eine Firma, die in einer Oase angemeldet ist, kann die Londoner City für die Abwicklung von Geschäften ungestört von der Steuerbehörde nutzen. Ist das Unternehmen etwa auf den Cayman Islands „zu Hause“, so genießt es den Umstand, dass dieses Eiland keine Körperschaftsteuer kassiert und das Finanzamt daher auch nicht an den Unterlagen einer Ertragsrechnung interessiert ist.

Nach dem Brexit werden die Karten in der Finanzwelt neu zugunsten von London verteilt:

Um das Paket an Vorteilen noch zu erhöhen, hat die britische Premierministerin bereits angekündigt, dass nach dem Brexit die EU-Regeln wie Basel III nicht mehr gelten werden und sich die britischen Banken daher künftig freier bewegen können. Unweigerlich werden das Einlagen-, Kredit- und Veranlagungsgeschäft weit mehr als bisher nach London wandern - und dafür sorgen, dass der ohnehin umfangreiche Euro-Markt in London noch größer wird.

Fazit: Es werden die Banken nicht aus London abwandern, sondern im Gegenteil das Londoner Geschäft ausbauen. Die von den kontinentalen Bank-Lobbyisten geforderten Schutzmauern können nur bewirken, dass die im Vergleich mit der Londoner City und dem New Yorker Finanzplatz schwächere, internationale Position der Banken in der übrigen EU noch verschlechtert wird. Die Konzentration auf das regionale Geschäft in den Heimmärkten wird zunehmen.

Die Politik der Härte gegenüber Großbritannien ist die falsche Strategie

Die EU-Verhandler müssen also zur Kenntnis nehmen, dass ihre Politik der Härte:

  • den Exporteuren in der verbleibenden EU schadet
  • den Finanzplätzen nicht nützt
  • die schon bisher erfolglose Bekämpfung der Steueroasen zusätzlich erschwert

Großbritannien würde tatsächlich noch schwächer werden und im industriell-gewerblichen Bereich leiden, aber auch weniger aus der EU kaufen als bisher.

Auch die nicht im Mittelpunkt stehenden Themen dürfen nicht übersehen werden:

  • Über 2 Millionen aus der übrigen EU arbeiten im Vereinigten Königreich, davon allein 700.000 aus Polen. Die Überweisungen in die Heimatländer sichern den Wohlstand vieler Familien ab. Nicht übersehen darf man die geschätzt eine Million Briten, die in den anderen EU-Staaten arbeiten – alle derzeit noch unter der EU-Freiheit, sich überall niederlassen zu dürfen.
  • Beachtet man allerdings die Bemühungen um eine neue, restriktive Entsende-Richtlinie innerhalb der EU steht eine Einschränkung der Freiheit auf dem Programm.
  • Die aktuell eifrig diskutierte Schaffung einer Europäischen Verteidigung, die nicht von den USA diktiert wird, sollte wohl auch mit dem entscheidenden NATO-Mitglied Großbritannien akkordiert werden.

Die Akteure, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk und Chefverhandler Michel Barnier, werden an diese Faktoren nicht vorbei können.

Der Brexit erschüttert die EU in den innersten Strukturen

Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die derzeit jährlich aus London in das EU-Budget fließenden rund 17 Milliarden Euro – 14 Milliarden aus dem Budget und 3 Milliarden aus den Zolleinnahmen – ersetzt werden sollen. In den bisherigen Verhandlungen zeichnet sich ab, dass Großbritannien nach den Austritt, der Ende März 2019 erfolgen soll, noch drei Jahre lang zahlen könnte, aber länger sicher nicht. Für die Zukunft ist nur Deutschland bereit mehr zu zahlen. Die anderen Mitgliedstaaten weigern sich, ihre Beiträge zu erhöhen, verlangen aber, dass die Gelder aus dem Budget wie bisher fließen müssen.

Die EU-Spitzen hätten laufend Gelegenheit, zuletzt beim EU-Rat der Regierungen vergangene Woche oder wieder in zwei Wochen, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Die logische Folge des Ausfalls der Briten wäre die Überprüfung des Budgets, die Bildung neuer Schwerpunkte und die Schaffung einer flexiblen Struktur. Vor allem wäre die Ineffizienz der Ausgabenpraxis zu korrigieren:

  • Das gilt in erster Linie für die Programme der Landwirtschaft und der Regionalpolitik, die jährlich etwa 100 Milliarden Euro mit der Gießkanne über Europa verteilen und dabei sehr viel Bürokratie und wenige Effekte auslösen
  • aber auch für die restlichen rund 60 Milliarden Euro, die nicht die gewünschten Ziele in der Forschung, der Entwicklung von Start-ups und beim Aufbau eines sozialen Europas erreichen.

Davon ist wenig die Rede. Dabei werden die angekündigte Europäische Verteidigung und der bessere Grenzschutz zusätzliche Milliarden erfordern. Zuletzt bewegten sich die geplanten Ausgaben des EU-Budgets bei knapp 140 Milliarden Euro, in der Praxis sind es dann meist 160 Milliarden Euro im Jahr, die von den Mitgliedstaaten zu decken sind, das keine Schulden gemacht werden dürfen. Die Mittel werden von allen Steuerzahlern aufgebracht und fließen, verringert um die Kosten des bürokratischen Aufwands in der EU und in den Staaten, zu den Adressaten in den Ländern, die als förderungswürdig eingestuft sind.

Die notwendigen Konsequenzen aus dem Brexit

Besonders problematisch ist die Position der EU-Verhandler gegenüber Großbritannien angesichts der Tendenzen vor allem bei den Mitgliedern in Osteuropa, die Integration abzubauen und die Nationalstaaten zu stärken. Bei Polen und Ungarn entsteht der Eindruck die Regierungen würden am liebsten ebenfalls austreten, aber trotzdem Mitglieder bleiben, vermutlich, weil ihre Länder Netto-Empfänger aus den Fördertöpfen sind.

Bisher sind alle Versuche gescheitert, eine EU-Verfassung zu schaffen, die eine tatsächliche Union bildet, in der sich alle an die Regeln dieser Verfassung zu halten hätten. Es geht jetzt nur mehr in erster Linie um das Zusammenleben von Staaten, die sich nicht als Teile einer Einheit fühlen, sondern eher wie Mitglieder eines Vereins agieren, dem man angehören kann oder nicht. Man müsste also angesichts dieser Entwicklung dringend Regeln des Zusammenlebens in Europa entwickeln und festschreiben.

2002/2003 wurde ein entsprechender Versuch mit dem „Verfassungskonvent“ unter dem früheren französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing unternommen und von den Mitgliedstaaten sabotiert. Vielleicht erkennt man, dass ohne eine EU-Verfassung Brexit den Startschuss für den Zerfall der EU bedeuten könnte.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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