Politik

Marsch in Richtung „FREXIT“? Frankreich kann sein üppiges Sozialsystem nicht mehr finanzieren

Lesezeit: 6 min
07.12.2019 10:05  Aktualisiert: 07.12.2019 10:05
Frankreich kommt nicht zur Ruhe. Aus Protest gegen geplanten Reformen im Rentensystem haben die Gewerkschaften mehrere Generalstreiks organisiert, denen sich auch die Gelbwesten anschließen und die hunderttausende auf die Straße bringen. Das Problem: Frankreichs Wirtschaftsleistung kann den im internationalen Vergleich sehr großzügigen Sozialstaat seit Jahren nicht mehr finanzieren. Alles deutet auf eine große politische Krise in unserem Nachbarland hin.
Marsch in Richtung „FREXIT“? Frankreich kann sein üppiges Sozialsystem nicht mehr finanzieren
Demonstranten in Paris. (Foto: dpa)

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Über 800.000 Personen haben am Donnerstag in den französischen Städten gegen die geplante Renten-Reform protestiert. Die Demonstrationen werden am Samstag fortgesetzt, noch vor Weihnachten, am 17. Dezember, wollen die Gewerkschaften einen weiteren Aktionstag veranstalten. Die Bewegung schließt an die Aktivitäten der „Gelben Westen“ an, die monatelang das Land belastet haben. Hier handelt es sich aber nicht mehr um ein französisches Problem. Der Tenor der Proteste lautet: Die EU habe den Sparkurs der Regierung erzwungen, ohne EU und ohne Euro könnte man wie in der Vergangenheit den Sozialstaat erhalten und ausbauen. Auch bringen die Anti-EU-Parolen die Tatsache in Erinnerung, dass die Franzosen bereits im Jahr 2005 mit einer Volksabstimmung die Schaffung einer EU-Verfassung verhindert und somit zu den Strukturschwächen der Union entscheidend beigetragen haben. Und bei den EU-Wahlen im Mai 2019 erhielt die Anti-EU und Anti-Euro-Partei von Marine Le Pen die meisten Stimmen. Wenn auch der BREXIT im Mittelpunkt des Interesses steht, in Frankreich ist ein nicht deklarierter, eine Art unordentlicher FREXIT im Gang.

Die Kosten des Sozialstaats schwächen Frankreichs Wirtschaft

Dass FREXIT nichts an der Situation ändern würde, zeigen die Daten. Die „Grande Nation“ leistet sich weit höhere Renten als andere Länder. Paradox ist das Verhältnis zu Deutschland, wo man derzeit zur Bekämpfung der Altersarmut eine Anhebung der Leistungen für die Alten schaffen muss. Frankreich unterhält über die hohen Renten hinaus einen Sozialstaat mit umfangreiche Benefizien. Dieser Aufwand wird nicht erwirtschaftet und so hat Frankreich einen Schuldenberg von 2300 Mrd. Euro angesammelt. Die Staatsfinanzen interessieren die Demonstranten nicht, aber paradoxer Weise gibt es auch für die eigenen Belastungen kein Verständnis.

Frankreich finanziert den überbordenden Sozialstaat nicht nur über Schulden. Die gesamte Bevölkerung wird eifrig zur Kasse gebeten und so zehren die Steuern und Sozialabgaben einen derart großen Teil der Wirtschaftsleistung auf, dass den Unternehmen und Privathaushalten viel zu wenig Spielraum für Investitionen bleibt. Deshalb schwächelt Frankreichs Wirtschaft:

  • Die Arbeitslosigkeit entspricht 8,5 Prozent. Zum Vergleich. In Deutschland sind es 3,1 Prozent.
  • Der Außenhandel schließt im Gefolge der geringen Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft mit einem Abgang von 90 Mrd. im Jahr. Zum Vergleich: Deutschland erzielt einen Überschuss von weit über 200 Mrd. Euro.

Das sind die Konsequenzen der hohen Steuern und Sozialabgaben, oder anders formuliert, die Sozialleistungen vernichten die Wirtschaftsleistung, die den Sozialstaat finanzieren müsste.

Mehr als die Hälfte der Einkommen kassieren die staatlichen Einrichtungen

Das Ausmaß der Kosten des Sozialstaats ist den Demonstranten nicht klar. Frankreichs öffentliche Ausgaben nehmen 56 Prozent des BIP in Anspruch, in Deutschland sind es – nicht zuletzt auch wegen der niedrigen Pensionen – nur 44 Prozent. Das Defizit des Staates wurde in Frankreich mühsam auf etwa 3 Prozent des BIP gesenkt. Deutschland erzielt einen Überschuss. Die Rechnung ist erschreckend: 56 Prozent vom BIP Ausgaben, 3 Prozent Defizit ergeben eine Differenz von 53 Prozent, die die Bürger an die staatlichen Einrichtungen abliefern müssen. Konsequent wären also Demonstrationen gegen diesen Würgegriff. Tatsächlich wird für die Erhaltung und angesichts der Abschwächung der Konjunktur sogar für einen Ausbau der Sozialleistungen gekämpft. Also paradoxer Weise für noch mehr Schulden des Staates und noch mehr Steuern und Sozialabgaben.

Frankreich bietet den Rentnern einmalig günstige Bedingungen

Betrachtet man allerdings die Sozialleistungen und insbesondere die französischen Renten im Detail, so ist schon nachvollziehbar, dass die Bürger die geradezu paradiesischen Zustände nicht missen wollen.

  • In Frankreich liegt das offizielle Rentenantrittsalter bei 62 Jahren, der tatsächliche Rentenstart erfolgt mit 60,8 Jahren. Die Franzosen gehen um vier Jahre früher in Pension als die Bürger im Durchschnitt aller OECD-Staaten.
  • Die Franzosen werden aber älter als andere: Somit dauern die Rentenperioden durch den frühen Antritt und die längere Lebensdauer besonders lange und sind folglich besonders teuer.
  • Außerdem: Die Lebenserwartung der aktuell Geborenen liegt bei 82,7 Jahren, in Deutschland sind es 81,1.
  • Die Durchschnittseinkommen der Pensionisten in Frankreich sind sogar um 3 bis 5 Prozent höher als die Durchschnittseinkommen der Aktiven im Land.
  • Gemessen am Lebenseinkommen in der Aktivzeit haben die französischen Rentner im Alter ein Einkommen von 74 Prozent, der Durchschnitt der OECD-Länder weist eine Ersatzrate von nur 50 Prozent aus. Besonders in Deutschland, wo die Relation zum Aktiveinkommen nach den Reformen 2002 extrem niedrig ist, muss dieser Wert verblüffen.

Eine Anmerkung am Rande: Die deutsche Rentenreform 2002 ging davon aus, dass die Reduktion des öffentlichen Systems durch einen Ausbau der kapitalgedeckten Formen ausgeglichen wird. Dass die europäische Währungspolitik mit Niedrig- und neuerdings mit Minuszinsen die kapitalgedeckte Altersvorsorge in die Krise treibt, konnte 2002 niemand ahnen.

Statt Privilegien das Lebenseinkommen als Basis der Renten für alle

Die französische Regierung unter Präsident Emmanuel Macron plant nun Einschränkungen, wobei die Details noch nicht bekanntgegeben wurden. Die Proteste richten sich derzeit gegen Empfehlungen, die der Hochkommissar für Renten beim Sozialministerium, Jean-Paul Delevoye, formuliert hat. Macron will diese Vorschläge umsetzen, doch dürfte es unter dem Eindruck der Massenproteste Anpassungen geben. Schließlich entsprechen die 800.000 Demonstranten vom vergangenen Donnerstag knapp 3 Prozent der Aktivbevölkerung, also einer für einen Aktionstag hohen Quote. Eine Meinungsumfrage des Instituts Elabe für den TV-Sender BFM ergab, dass 58 Prozent der Franzosen eine Streikbewegung gegen die Renten-Reform befürworten.

Worum geht es im Detail:

  • Die Regierung möchte ein einheitliches Renten-System für alle Bürger. Derzeit gibt es 42 Kassen und somit 42 verschiedene Systeme mit weit auseinander klaffenden Renten-Beträgen.
  • Im Zentrum der Reform steht ein Punkte-System: Jede im Laufe eines Lebens geleistete, bezahlte Arbeitsstunde bringt einen Punktewert und die Summe der Punkte bestimmt die Höhe der Rente.

Somit würden zwei entscheidende Faktoren verloren gehen:

Seit 1993 werden bei den sozial versicherten Arbeitnehmern die 25 Jahre mit dem höchsten Einkommen für die Berechnung der Rente berücksichtigt. Bis dahin waren es die 10 besten Jahre. Nun soll das Lebenseinkommen maßgeblich sein, sodass Perioden mit geringen Einkommen das Niveau drücken müssen.

Noch größer ist der Aufschrei bei den Beamten: Die Höhe der Rente wird bisher vom Einkommen in den letzten sechs Monaten vor dem Ausscheiden aus dem Amt bestimmt. Die Bezüge erreichen zwischen 75 und 80 Prozent des Letztbezugs, durch Aufschläge können es auch 100 Prozent sein. Voraussetzung für diese Spitzenwerte ist eine im Schnitt etwa 40jährige Dienstzeit. Das Punkte-System würde die Beamten einige hundert Euro im Monat kosten.

Die Argumente der Regierung werden von den Kritikern abgelehnt

Die Regierung versucht, offenkundig ohne Erfolg, mit Argumenten zu beruhigen. Am offiziellen Renten-Eintrittsalter von 62 Jahren werde man nicht rütteln. Sozial versicherte Arbeitnehmer, die bis 64 arbeiten, würden eine Rente bekommen wie sie derzeit bei 62 anfällt. Wer länger arbeitet, sammelt mehr Punkte und kassiert eine höhere Pension. Auch bei den Beamten sei der Einschnitt nicht so gravierend, da diese im Gegensatz zu vielen Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft meist Berufskarrieren ohne Unterbrechungen haben. Die Reform soll 2025 in Kraft treten und im Rahmen einer Anpassungsperiode von 10 bis 15 Jahren umgesetzt werden.

Doch schon hagelt es Proteste:

Von den rund 17 Millionen Rentnern in Frankreich haben einige Gruppen besonders günstige Bedingungen, die etwa 4 Millionen zugute kommen: Die schon erwähnten Beamten, die Rechtsanwälte, die Bediensteten der Staatsbahn SNCF und der Pariser Verkehrsbetriebe RATP wollen auf ihre Privilegien nicht verzichten. Generell wird die Rechnung nicht geglaubt, wonach man künftig mit 64 das Niveau von derzeit 62 haben werde. Die Gewerkschaften rücken die Probleme der Schwerarbeiter und des Personals in den Spitälern in den Vordergrund. Man befürchtet, dass die derzeit geltende Anrechnung von zwei Beitrags-Jahren für ein Kind bei den Frauen gekürzt oder gestrichen wird. Bislang bekam man in der Rente einen Zuschlag, wenn man drei Kinder hatte, jetzt zeichnet sich eine Besserstellung bei einem oder bei zwei Kindern ab. Das viel zitierte Bekenntnis der französischen Politik zur „famille nombreuse“, zur zahlreichen Familie, wankt.

Ein Klassenkampf gegen nicht vorhandene Gegner

In der Argumentation der Demonstranten setzen sich die betont linken Parolen der „Gelben Westen“ fort, die stets mehr staatliche Leistungen verlangen. Wie weit die Forderungen von der Realität entfernt liegen, zeigt sich an einem konkreten, klassenkämpferischen Beispiel: „Die Reichen sollen mehr zahlen, dann würde sich das alles finanzieren lassen.“ Dabei steht zur Debatte, dass die Grenze für die Pflicht zur Zahlung von Beiträgen an die Sozialversicherung von derzeit 3.377 Euro auf 10.000 Euro Monatseinkommen angehoben werden könnte. Bis zu diesem Betrag sollen 28 Prozent an das Rentensystem abgeliefert werden, darüber hinaus immer noch 2,8 Prozent. Man würde also mit wenigen Ausnahmen alle Spitzenverdiener einbeziehen, die verbleibende, nur mehr kleine Gruppe mit noch höheren Einkommen könnte keine nennenswerten Summen zum System beisteuern.

Schon die 10.000-Euro-Grenze und der Satz von 2,8 Prozent würden ein bisher geltendes Grundprinzip verletzten: Die Bezieher von Spitzen-Einkommen tragen über ihre Steuerleistung wesentlich zu den steuerfinanzierten Zuschüssen zum Rentensystem bei. Aus diesem Grund sind bisher von den über die Höchstbeitragsgrenze hinaus gehenden Bezügen keine Sozialbeiträge zu zahlen. Mit der 10.000-Grenze will man, wieder erfolglos, die Proteste entschärfen.

Die Tatsache, dass sich Frankreich einen Sozialstaat leistet, den das Land nicht erwirtschaftet, wird weder durch die Attacken gegen die EU und den EURO noch mit klassenkämpferischen Parolen korrigiert. Allerdings bedeuten brennende Autos, verletzte Demonstranten und vor allem eine breit in der Bevölkerung gegebene Ablehnung der Renten-Reform einen politischen Faktor, der von der Regierung nicht einfach negiert werden kann. Nur: Ohne Renten-Reform kann Frankreich seine Finanzen und seine Wirtschaft nicht in Ordnung bringen und belastet somit die gesamte EU.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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