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DWN-Gastbeitrag von Jens Spahn: Die Corona-Einschränkungen waren "notwendig und wirksam"

Lesezeit: 4 min
26.05.2020 08:46  Aktualisiert: 26.05.2020 08:46
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) legt seine Sichtweise der Corona-Pandemie in Deutschland dar.
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Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). (Foto: dpa)
Foto: Piroschka Van De Wouw

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Deutschland wird oft als positives Beispiel für die Bewältigung der COVID-19-Pandemie genannt. Tatsächlich ist es uns gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gelungen zu verhindern, dass das Virus unser Gesundheitssystem überlastet. Die Infektionskurve in Deutschland flacht deutlich ab, und wir haben weniger tödliche Verläufe zu beklagen als viele andere Staaten. Doch das macht uns demütig, nicht übermütig.

Ich sehe vor allem drei Gründe, warum Deutschland diese Krise bislang relativ gut übersteht.

Erstens war das deutsche Gesundheitssystem zu Beginn des Ausbruchs in einer guten Verfassung; alle Bürgerinnen und Bürger haben vollen Zugang zu medizinischer Versorgung. Das ist nicht nur ein Verdienst der gegenwärtigen Regierung, sondern etwas, das über viele Regierungen hinweg aufgebaut wurde. Dank eines engmaschigen Netzes von Allgemeinärzten, die sich vor Ort um die milderen COVID-19-Fälle kümmern, können sich die Krankenhäuser auf die Schwerstkranken konzentrieren.

Zweitens war Deutschland nicht das erste Land, das von dem Virus betroffen war, daher hatten wir Zeit, uns vorzubereiten. Deutschland verfügt grundsätzlich über eine relativ große Zahl von Intensivbetten. Dennoch haben wir die Bedrohung durch COVID-19 von Anfang an sehr ernst genommen und die Zahl der Intensivbetten kurzfristig um 12.000 auf 40.000 erhöht.

Drittens gibt es in Deutschland viele Labors, die in der Lage sind, auf das Virus zu testen. Wir haben viele angesehene

Forscher auf dem Gebiet der Virologie, was mit erklärt, warum der erste COVID-19-Schnelltest hier entwickelt wurde. Bei einer Bevölkerungsgröße von etwa 83 Millionen Menschen können wir derzeit bis zu einer Million diagnostische Tests pro Tag durchführen und haben in Kürze die Kapazität, etwa fünf Millionen Antikörpertests pro Monat zu machen. Umfassende Tests wirken wie eine Taschenlampe, die man in die Dunkelheit hält: Ohne sie kann man nur Grautöne sehen, mit ihnen erkennt man die Details des Ausbruchsgeschehens. Und man kann nur kontrollieren, was man sieht.

Als Gesundheitsminister bin ich jedoch mir bewusst, dass wir immer nur Momentaufnahmen sehen. Niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, wie sich die Pandemie in einigen Wochen oder Monaten entwickeln wird. Wir haben keine nationalen Ausgangssperren verhängt, sondern die Bürgerinnen und Bürger gebeten, freiwillig zu Hause zu bleiben. Dennoch leben wir wie viele andere Länder auch seit rund zwei Monaten mit starken Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens. Nach allem, was wir wissen, war dieses Vorgehen notwendig und wirksam.

Dennoch lassen sich die Folgen der Maßnahmen nicht ignorieren. Deshalb versuchen wir nun, Schritt für Schritt zur Normalität zurückzukehren. Allerdings ist es nicht unbedingt leichter, die Maßnahmen wieder aufzuheben als sie einzuführen. Denn auch hier müssen wir unter großer Unsicherheit operieren. Die Gefahr einer zweiten Welle ist real, wie hoch genau, kann niemand sagen. Deshalb bleiben wir wachsam.

Ist alles, was wir entscheiden, richtig? Wir werden es oft erst im Nachhinein wissen. Ich bin deshalb vorsichtig, jetzt schon ein Fazit der Pandemie zu ziehen. Einige Lehren aus unserer Erfahrung lassen sich jedoch bereits erkennen.

Erstens ist es entscheidend, dass Regierungen der Öffentlichkeit nicht nur sagen, was sie wissen, sondern auch, was sie nicht wissen. Nur so kann das Vertrauen aufgebaut werden, das zur Bekämpfung eines tödlichen Virus in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich ist. Denn keine Demokratie kann ihre Bürgerinnen und Bürger zu Verhaltensänderungen zwingen - zumindest nicht, ohne großen Schaden zu verursachen. Um gemeinsam und effektiv gegen das Virus vorzugehen, sind Information und Transparenz weitaus wirksamer als Zwang.

In Deutschland ist es uns vor allem deshalb gelungen, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, weil die überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger aus Verantwortungsbewusstsein für sich und andere mithelfen wollte. Damit das dauerhaft gelingt, braucht es nicht nur transparente Informationen über das Virus. Es braucht auch eine faire öffentliche Debatte über die Folgen der Maßnahmen und einen konkreten Plan, wie diese bewältigt werden.

Zweitens tun Regierungen gut daran, auf die Vernunft der Bürgerinnen und Bürger zu zählen. Die große Mehrheit der Deutschen weiß, dass eine simple Rückkehr zur Normalität ohne einen Impfstoff nicht möglich sein wird. Stattdessen werden wir wohl eine längere Zeit mit einem neuen Alltag leben. Unsere Formel dafür ist: So viel Normalität wie möglich, so viel Schutz wie nötig.

Wenn die Entscheidungen darüber, wo und wie Einschränkungen gelockert werden, auf nachvollziehbaren Kriterien basieren, werden die Bürgerinnen und Bürger sie unterstützen. Unsere Entscheidungen sollten deshalb wissenschaftlich fundiert sein und die Verringerung des Infektionsrisikos in den Vordergrund stellen. Wir wissen: Der wirksamste Schutz ist Abstand voneinander. Wenn Menschen mindestens 1,5 Meter voneinander entfernt bleiben, wird das Infektionsrisiko erheblich reduziert. Werden zusätzlich die Hygieneregeln eingehalten, sinkt es weiter. Was bleibt, ist ein Restrisiko, dass je nach Situation unterschiedlich gehandhabt werden kann.

Drittens hat die Pandemie gezeigt, warum eine vernetzte Welt auch ein globales Krisenmanagement braucht. Leider ist die multilaterale Zusammenarbeit in den letzten Jahren schwieriger geworden, selbst unter engen Verbündeten. Jetzt, da wir sehen, wie sehr wir einander brauchen, sollte die gegenwärtige Krise ein Weckruf sein. Kein einzelnes Land kann eine Pandemie allein bewältigen. Wir brauchen internationale Zusammenarbeit, und wenn die dafür vorgesehenen Institutionen nicht gut genug funktionieren, müssen wir gemeinsam an ihrer Verbesserung arbeiten.

Viertens müssen wir Europäer das Maß an Globalisierung überdenken. Wir erkennen jetzt, dass es entscheidend ist, lebenswichtige Güter wie medizinische Geräte in der EU zu produzieren. Wir sollten deshalb unsere Versorgungsketten diversifizieren, um eine völlige Abhängigkeit von einem Land oder einer Region zu vermeiden. Das bedeutet nicht, die internationale Zusammenarbeit zu reduzieren. Im Gegenteil: Die gemeinsamen Anstrengungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, einen Impfstoff zu entwickeln, sind ein gutes Beispiel. Wir wollen dafür sorgen, dass er in Europa produziert wird. Gleichzeitig wollen wir mit dafür sorgen, dass er weltweit zur Verfügung steht.

Wie die meisten Krisen bietet auch diese Krise Chancen. In vielen Bereichen hat sie das Beste in uns zum Vorschein gebracht: ein neues Gemeinschaftsgefühl, eine größere Bereitschaft, anderen zu helfen, neue Flexibilität und Kreativität. Es besteht kein Zweifel, dass die mittelfristigen Folgen der Pandemie oft hart sein werden. Aber trotz aller Schwierigkeiten und Unsicherheiten, die vor uns liegen, bin ich optimistisch. Denn in Deutschland und anderswo erleben wir gerade, wozu unsere freiheitlichen Demokratien und unsere Bürgerinnen und Bürger in der Lage sind.

Copyright: Project Syndicate, 2020.


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