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Massenentlassungen und Werksaufgaben: In Deutschlands Zuliefer-Industrie herrscht der Ausnahmezustand

Lesezeit: 5 min
17.09.2020 13:37  Aktualisiert: 17.09.2020 13:37
Die Serie an Massenentlassungen und Werksschließungen in Deutschlands Zulieferindustrie setzt sich ungebremst fort. Die Lage ist dramatisch. Teilweise werden Zweifel geäußert, ob die Corona-Pandemie und der angeblich stattfindende Wandel in der Automobilindustrie nur als Vorwand für Kosteneinsparungen herhalten müssen.
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Eine rote Alarmleuchte. (Foto: dpa)
Foto: Arno Burgi

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In Deutschlands Zulieferindustrie herrscht Ausnahmezustand. Nahezu täglich wird über den Abbau von Arbeitsplätzen und die Schließung oder Verlagerung von Betriebsstandorten berichtet. Ein unvollständiger Überblick über die vergangenen Tage:

Zulieferer Mahle baut weltweit 7.600 Stellen ab

Der Autozulieferer Mahle verschärft seinen Sparkurs. Das Stiftungsunternehmen will weltweit 7.600 Stellen streichen, davon 2.000 in Deutschland, wie der Vorsitzende der Geschäftsführung, Jörg Stratmann, am Mittwoch in Stuttgart mitteilte. „Wir haben es aktuell mit einer Krise zu tun, wie wir sie noch nicht erlebt haben.“ Gerade jetzt sei es wichtig, die Anstrengungen zur Kostensenkung konsequent fortzusetzen und die strategischen Ziele noch stärker in den Fokus zu nehmen.

Das Unternehmen kündigte an, Gespräche mit dem Betriebsrat aufnehmen zu wollen. Es sollten gemeinsam die Maßnahmen im Detail beraten und deren sozialverträgliche Umsetzung geplant werden, sagte Arbeitsdirektorin Anke Felder. Das Unternehmen fährt seit 2018 einen strikten Sparkurs und hat bislang weltweit 6.700 Stellen abgebaut. Derzeit hat Mahle weltweit noch 72.000 Beschäftigte, davon knapp 12.000 in Deutschland.

Im vergangenen Jahr hatte der Konzern einen Verlust von 212 Millionen Euro nach einem Gewinn von 446 Millionen Euro 2018 gemacht. Der Umsatz ging im vergangenen Jahr um 4,2 Prozent auf 12 Milliarden Euro zurück. Mahle stellt herkömmliche Motorkomponenten wie Kolben, aber auch Filter und Pumpen für den Verbrennungsmotor her. Zunehmend setzt das Unternehmen auch auf Teile für Elektroautos. Die Abhängigkeit vom klassischen Verbrennungsmotor hatte Mahle wie andere Zulieferer auch in den vergangenen Jahren verringert.

VW streicht bei Tochter MAN bis zu 9.500 Stellen

Volkswagen setzt bei seiner Lkw- und Bustochter MAN Truck & Bus noch stärker den Rotstift an als erwartet. Weltweit sollen bis zu 9.500 Stellen wegfallen, teilte das Unternehmen am vergangenen Freitag mit. Das wäre mehr als jeder vierte Arbeitsplatz in dem Unternehmen, das zuletzt deutlich rote Zahlen schrieb. Zumindest sind das die „derzeitigen Überlegungen“ des neu formierten Managements. Nun stehen hitzige Diskussionen mit den Arbeitnehmern bevor, die bereits Widerstand angekündigt haben. Wie viele der knapp 20.000 Arbeitsplätze in Deutschland betroffen sind, blieb zunächst offen.

„Wir stehen vor großen Herausforderungen durch den technologischen Wandel - bei Digitalisierung, Automatisierung und alternativen Antrieben“, sagte MAN-Chef Andreas Tostmann. „Wir brauchen deshalb eine Neuaufstellung von MAN Truck & Bus, um deutlich innovativer, digitaler und nachhaltig profitabler zu werden.“ Dem könnten auch ganze Standorte zum Opfer fallen: Der Produktionsstandort im österreichischen Steyr mit 2.200 Mitarbeitern und die Betriebe in Plauen (Sachsen) und Wittlich (Rheinland-Pfalz) mit 140 beziehungsweise 80 Mitarbeitern stehen im Feuer.

Von Betriebsrat und Gewerkschaft kommt scharfer Gegenwind: „Es kann nicht sein, dass Stellenabbau und Standortschließungen die einzigen Lösungsansätze sind, die dem Vorstand einfallen“, sagte der Betriebsratsvorsitzende Saki Stimoniaris. Sparprogramme „nach der Rasenmähermethode“ lehnte er ab. Jürgen Kerner, Hauptkassierer der IG Metall und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei MAN Truck & Bus, sagte, man werde es nicht hinnehmen, „dass die Beschäftigten für Corona und für jahrelanges Missmanagement des Vorstands bestraft werden“. Kerner klopft zudem auf eine bis Ende 2030 geltende Vereinbarung zur Standort- und Beschäftigungssicherung. Sie müsse Basis der Verhandlungen sein. Auch Stimoniaris forderte, betriebsbedingte Kündigungen auszuschließen.

Die Unternehmensleitung will MAN bis zur Mitte des Jahrzehnts zu einem führenden Nutzfahrzeughersteller bei Elektro- und Wasserstoffantrieben machen. Hersteller schwerer Nutzfahrzeuge müssen in der EU wie auch bei Pkw in den kommenden Jahren die Emissionen des Naturgases CO2 der neu verkauften Fahrzeuge deutlich senken, weswegen auch die Konkurrenz von Daimler und Volvo verstärkt auf Elektro- und Wasserstoffantriebe setzt.

Für den Umbau veranschlagt MAN Kosten im mittleren bis oberen dreistelligen Millionenbereich. Das Unternehmen will ihn nach eigener Aussage so sozialverträglich wie möglich gestalten. Dazu, ob der Stellenabbau ohne Kündigungen möglich sei, äußerte sich ein Sprecher am Freitag nicht. Große Standorte in Deutschland hat MAN unter anderem in München, Nürnberg und Salzgitter.

Die Branche ist derzeit hart von der Corona-Krise getroffen: Speditionen und andere Kunden überlegen sich in wirtschaftlich unsicheren Zeiten mehr als einmal, ob sie hohe Investitionen in neue Lkw und Busse schultern können. Im zweiten Quartal sackten die Bestellungen für Lkw und Busse bei Traton – der VW-Sparte für schwere Nutzfahrzeuge – im Jahresvergleich um 41 Prozent auf 33.270 Fahrzeuge ab. Im Gesamtjahr rechnet die Gruppe trotz einer schrittweisen Erholung mit einem „drastischen Absatzrückgang“ und kann einen Verlust nicht ausschließen. Auch vor Corona drohte schon ein scharfer Abschwung in der Branche, die als sehr konjunktursensibel gilt. Auch bei Scania läuft ein weitreichender Stellenabbau: Rund 5.000 Jobs sollen bei den Schweden wegfallen.

Continental will weiteres Werk schließen - 1800 Stellen betroffen

Continental will noch mehr Standorte schließen als bisher bekannt. In Aachen soll bis Ende 2021 das Reifenwerk dichtgemacht werden, bestätigte das Dax-Unternehmen am Dienstag nach entsprechenden Informationen aus der Gewerkschaft IG BCE. Betroffen wären 1.800 Stellen. Endgültig beschlossen sei dies aber noch nicht.

Der mit hohen Verlusten kämpfende Zulieferer hatte erst Anfang September angekündigt, seinen laufenden Sparkurs und Konzernumbau zu verschärfen. Die Reifensparte gilt bisher allerdings auch noch als vergleichsweise profitabel. Aus der IG BCE kam daher heftige Kritik an den Plänen: „Der Kahlschlag ist weder mit der Transformation der Autoindustrie zu begründen, noch mit der Corona-Krise“, erklärte das Vorstandsmitglied der Gewerkschaft, Francesco Grioli. „Das ist schlicht Streichen um des Streichens Willen.“

Autobauer hatten ihre Fabriken im zweiten Quartal rund um die Welt wochenlang gestoppt, weil auch die Autohäuser wegen der Coronavirus-Gefahr schließen mussten und die Händler keine Fahrzeuge verkaufen konnten. Abrufe bei den Zulieferern wurden ebenfalls auf Eis gelegt. Conti hängt aber nicht nur mit Autozulieferteilen direkt von der Autoproduktion ab, sondern auch im Reifengeschäft mit der Erstausstattung neuer Autos.

Am stärksten waren die Umsatzeinbrüche bei den Hannoveranern im Geschäft unter anderem mit Elektronik, Sensorik und Bremssystemen, aber auch in der Antriebssparte. Das Geschäft mit Reifen und Kunststofftechnik kam etwas glimpflicher davon, verzeichnete aber ebenfalls einen starken Dämpfer mit minus einem Drittel.

Im Rahmen seines Spar- und Umbauprogramms hatte das Management gerade seine Kürzungspläne konkretisiert und verschärft. An etlichen bedrohten Standorten geht es bisher aber vor allem um andere Geschäftsbereiche. Für das Werk Babenhausen in Hessen etwa hatte Continental bereits im vergangenen Jahr angekündigt, die dortige Produktion von Steuerungsinstrumenten für Pkw bis 2025 zu beenden. Das Werk in Karben mit 1.100 Beschäftigten steht nach Angaben der Arbeitnehmervertreter ebenfalls auf der Streichliste - entschieden war dort nach Unternehmensangaben zuletzt aber noch nichts.

Im thüringischen Mühlhausen will sich Conti ebenso vom dortigen Standort trennen. Geplant ist die Schließung des Werks bis Ende 2022. Im bayerischen Roding soll 2024 die Produktion eingestellt werden. Auch in Italien und den USA stehen Werke vor dem Aus.

Nach dem letzten Stand ging das Unternehmen davon aus, dass es global Auswirkungen auf 30.000 der über 232.000 Arbeitsplätze gibt. „Das heißt, sie werden dabei verändert, verlagert oder aufgegeben.“ 13.000 der fraglichen Jobs seien in Deutschland angesiedelt.

Schaeffler-Beschäftigte protestieren gegen Arbeitsplatzabbau

Zahlreiche Mitarbeiter des Automobil- und Industriezulieferers Schaeffler haben am Mittwoch gegen Pläne zum Personalabbau und zu Werksschließungen bei dem fränkischen Familienunternehmen protestiert. Am Standort Schweinfurt hätten sich rund 1.500 Mitarbeiter an einer Protestveranstaltung beteiligt und am Firmensitz in Herzogenaurach hätten rund 200 Schaeffler-Beschäftigte an einem „Trauermarsch“ teilgenommen, teilten Gewerkschafter der IG Metall mit. Am unterfränkischen Standort Eltmann seien mehrere Hundert Schaeffler-Mitarbeiter auf den Marktplatz gezogen.

An vielen weiteren Schaeffler-Standorten, darunter Ingolstadt, Luckenwalde (Brandenburg) und Wuppertal (Nordrhein-Westfalen) sind für den Nachmittag Protestveranstaltungen geplant. Die Aktionen richten sich gegen den Plan der Unternehmensleitung, bis Ende 2022 rund 4.400 Arbeitsplätze abzubauen und auch ganze Werke zu schließen oder zum Verkauf anzubieten - darunter Eltmann, Luckenwalde und Wuppertal.

Schaeffler kämpft wie viele andere Zulieferer mit der Strukturkrise im Automobilbau. Die Corona-Pandemie ließ das Unternehmen nun in die roten Zahlen rutschen. Die IG Metall kritisierte am Mittwoch, das Maßnahmenpaket ziele vor allem auf den eigentlich gut laufenden Industriebereich, weniger auf die Automotive-Sparte. „Ein Großteil der 4.400 Arbeitsplätze soll im Bereich Industrie abgebaut werden“, kritisierte Thomas Höhn von der IG Metall in Schweinfurt.

 


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