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Globalisierung, Automatisierung, Übermacht des Kapitals: Ohne eine globale Ordnungspolitik ist der Westen verloren

Lesezeit: 4 min
03.10.2020 07:47  Aktualisiert: 03.10.2020 07:47
Der Westen hat es jahrzehntelang versäumt, Antworten auf die großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Probleme zu finden. Schon jetzt sind diese Probleme kaum noch beherrschbar - darum ist es höchste Zeit für eine neue Ordnungspolitik.
Globalisierung, Automatisierung, Übermacht des Kapitals: Ohne eine globale Ordnungspolitik ist der Westen verloren
Die großen Probleme müssen global angegangen werden - dafür ist eine neue Ordnungspolitik notwendig. (Foto: dpa)
Foto: Christophe Gateau

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Die Angehörigen der sogenannten „Großen Generation“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wären die heutigen Krisen ziemlich normal vorgekommen. Sie hatten viel Schlimmeres erlebt:

  • Die beiden blutigsten Kriege der Geschichte
  • Die Weltwirtschaftskrise (welche die Rezessionen dieses Jahrhunderts weit in den Schatten stellte), die eine gewaltige Massenarbeitslosigkeit hervorrief, was zu einer heute unvorstellbaren Not führte
  • Bedrohungen für die Demokratie in Gestalt des Sowjetkommunismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus, die allesamt schwerwiegender waren als Angriffe auf die Demokratie, die wir heute erleben

Doch könnte die Beilegung der Probleme heute schwieriger sein als in der Vergangenheit, weil die meisten von ihnen durch globale Ordnungspolitik gelöst werden müssen, von der derzeit nicht viel zu sehen ist. Zwar trug die Globalisierung auch Anfang des 20. Jahrhunderts zu steigender Ungleichheit und zur Destabilisierung der nationalen Volkswirtschaften bei, und die Weltwirtschaftskrise, die ihren Ursprung in den USA hatte und die meisten anderen Länder über die internationalen Märkte in Mitleidenschaft zog, war eindeutig eine Systemkrise. Doch letztlich bestanden die grundlegenden Probleme, die die Zwischenkriegsgeneration lösen musste, auf der Ebene des Nationalstaats.

Der moderne Sozialstaat

Die damaligen Politiker erkannten, dass gesamtwirtschaftliche Instabilität, unregulierte Marktwirtschaften und wachsende Ungleichheit die Grundursachen der meisten ihrer Probleme waren. Durchs Experimentieren mit institutionellen Gegenmitteln und durch die Formulierung neuer Ideen legten sie die Grundlage für den sozialdemokratischen Sozialstaat. Gesamtwirtschaftliche Steuerung, progressive Besteuerung und Umverteilung, gesetzlich verankerter Mindestlöhne, Sicherheitsbestimmungen für den Arbeitsplatz, staatliche Kranken- und Rentenversicherungen und ein soziales Netz für die sozial am stärksten Benachteiligten entwickelten sich zur Norm.

Der moderne Sozialstaat nahm zuerst in Skandinavien Gestalt an – insbesondere in Schweden, nach dem ersten Wahlsieg der dortigen Arbeiterpartei 1932 – und wurde dann im britischen „Beveridge Report“ von 1942 weiter verankert. Dieser Bericht steckte einen umfassenden institutionellen Rahmen ab, und das, obwohl noch immer der Zweite Weltkrieg wütete. Im Laufe des kommenden Jahrzehnts wurden ähnliche Visionen überall in Kontinentaleuropa artikuliert und umgesetzt. In jedem Fall lagen die vorgeschlagenen politischen Maßnahmen uneingeschränkt in der Zuständigkeit der nationalen Regierungen und konnten auf eine Weise gestaltet werden, die die Demokratie stärkte und diejenigen politischen Kräfte, die zwei Weltkriege herbeigeführt hatten, marginalisierte.

Natürlich reichte die Notwendigkeit, Frieden zu wahren, über die nationalen Grenzen hinaus. Doch am Anfang des Projekts stand die Sicherstellung gesamtwirtschaftlicher Stabilität und gemeinsamen Wohlstands auf nationaler Ebene. So wie Immanuel Kant 1795 prophezeit hatte, führte eine robuste Demokratie zu Hause zu grenzübergreifender Kooperation.

Freilich knüpften die politischen Führer der Nachkriegszeit ihre Hoffnungen an mehr als Kants Theorie. In Europa schmiedeten sie neue supranationale Institutionen, angefangen mit der durch den Vertrag von Paris 1951 gegründeten

Montanunion. Diese Übereinkünfte funktionierten außergewöhnlich gut und läuteten vier Jahrzehnte demokratischer Erfolge, internationalen Friedens, gesamtwirtschaftlicher Stabilität und weit verbreiteten Wohlstands ein. Nie zuvor hatten so viele Länder gleichzeitig ein derart starkes und weithin geteiltes Wachstum erlebt.

Ein Weckruf?

Die Frage heute ist, ob sich diese großartige Nachkriegsleistung wiederholen lässt. Wird die Pandemie der Weckruf sein, der die demokratischen Regierungen dazu bewegt, einen neuen Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert zu entwickeln? Ja, aber nur, wenn wir den globalen Charakter der heutigen Krisen in den Griff bekommen – nicht nur COVID-19, sondern auch den Klimawandel, die Drohung eines Atomkriegs und andere gemeinsame Risiken.

Was den Klimawandel angeht, so sind nationale Lösungen an diesem Punkt schlicht unzureichend. Und in Bezug auf die nukleare Bedrohung ist die Lage womöglich noch schlimmer, bedenkt man, dass diese Kategorie eines existentiellen Risikos derzeit durch die laufende Ausweitung und „Modernisierung“ bestehender Atomwaffenarsenale intensiviert wird.

Darüber hinaus sind viele andere scheinbar nationale Probleme letztlich globaler Art. Man betrachte die Ungleichheit, deren drei wichtigste Ursachen Globalisierung, Automatisierung und das zunehmende Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit sind.

Globalisierung

Die Globalisierung hat unter anderem deshalb zu dem Problem beigetragen, weil ihre Regeln so formuliert wurden, dass vor allem Unternehmer, das Finanzkapital und hochqualifizierte Arbeitnehmer profitierten. So können zum Beispiel arbeitsintensive Produkte in Ländern gefertigt wurden, in denen es nur schwach ausgeprägte oder gar keine Regelungen für Kollektiv-Vereinbarungen (Gewerkschaften und Betriebsräte) gibt, sodass die Löhne systematisch nach unten gedrückt werden. Kein einzelnes Land kontrolliert die Regeln, die diese Art des Outsourcings und der Auslandsverlagerung ermöglichen, und die meisten haben keine Möglichkeit, sich gegenüber der Globalisierung abzuschotten.

Automatisierung

In ähnlicher Weise können nationale Regierungen die Automatisierung zwar über die Steuer- und Regulierungspolitik beeinflussen, doch ihre Kontrolle ist letztlich begrenzt. Wenn die chinesische oder die US-Regierung multinationale Konzerne unter Druck setzen, leistungsstärkere Überwachungstechnologien zu entwickeln, und wenn die Prioritäten der großen Technologiekonzerne darin bestehen, Arbeitnehmer rücksichtslos durch Algorithmen zu ersetzen, geben diese Trends den Kurs für die gesamte Welt vor. Während die Tendenz hin zu Arbeitsplätze vernichtender Automatisierung den Arbeitnehmern in den hochentwickelten Ländern bereits hohe Kosten auferlegt hat, droht sie den Entwicklungsländern, wo die große Zahl der Erwerbstätigen den wichtigsten Fertigungsfaktor darstellen, noch Schlimmeres an.

Kapitalflucht

Und schließlich haben die Arbeitnehmer angesichts der durch die ständige Drohung der Kapitalflucht ausgelösten Machtlosigkeit der nationalen Politik kaum Möglichkeiten, ihre Verhandlungsmacht wiederherzustellen. Selbst wenn die nationalen Regierungen die Steuern auf Kapital über das aktuelle magere Niveau anheben sollten, würden viele der erhofften Einnahmen durch Buchhaltungstricks und ausländische Steueroasen anderswohin kanalisiert werden.

Gemeinsame Version

Harvard-Professor Dani Rodrik von der Universität Harvard argumentiert, dass die Begrenzung der wirtschaftlichen Globalisierung mehr Spielraum für nationale makroökonomische Maßnahmen eröffnen könnte. Doch würde die Beschränkung der Globalisierung das Ausmaß der globalen Probleme nicht verringern. Beim Klimawandel, der nuklearen Bedrohung und vielen anderen Fragen gibt es keine Alternative dazu, im Rahmen multilateraler Institutionen globale Lösungen zu formulieren.

Die Erfahrung Europas während der Nachkriegszeit zeigt, dass es zum Aufbau wirksamer Institutionen zunächst einmal einer gemeinsamen Vision bedarf. Doch genau daran mangelt es der internationalen Gemeinschaft derzeit. Schlimmer noch: Die ohnehin schon geschwächten multilateralen Institutionen dürften in naher Zukunft noch zusätzlich leiden, weil die Zuteilung von COVID-19-Impfstoffen die bestehenden Verwerfungen zwischen Ländern und Regionen noch vertiefen wird.

Wir hätten die ordnungspolitischen Versäumnisse, die uns an diesen Punkt gebracht haben, vermeiden können. Trotz umfassender Warnungen haben wir die uns erwartenden globalen Herausforderungen bisher weder ernstgenommen noch uns gar darauf vorbereitet. Die Zwischenkriegsgeneration wäre von unseren aktuellen Problemen womöglich unbeeindruckt. Ohne Zweifel beeindruckt wäre sie jedoch von dem Schlamassel, in den wir uns hereingeritten haben.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Daron Acemoglu ist Professor für Volkswirtschaftslehre am MIT und Verfasser (gemeinsam mit James A. Robinson) von The Narrow Corridor: States, Societies, and the Fate of Liberty.

Copyright: Project Syndicate, 2020.

www.project-syndicate.org

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Daron Acemoglu ist Professor für Wirtschaftswissenschaften am MIT und Co-Autor des Buches „The Narrow Corridor: States, Societies, and the Fate of Liberty“.


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