Neben der Absicherung gibt es ein zweites Motiv für den Gebrauch von Derivaten – die Erzielung von Gewinnen, gemeinhin herabwürdigend als Spekulation bezeichnet.
Durch den Einsatz von Derivaten können geschulte und professionelle Investoren Gewinnchancen ergreifen, ohne die Bilanz und das Eigenkapital zu riskieren. Beispielsweise können statt hoher Aktienquoten im Gesamtportfolio gezielt Kaufoptionen auf Aktienindizes oder einzelne Titel oder Titelgruppen gekauft werden. Dabei muss nur ein Bruchteil der Summe als anfängliche Prämie ausgegeben werden.
Das Verlustrisiko ist also eng begrenzt. Doch das Gewinnpotenzial ist groß, weil den Optionen eine große Hebelwirkung innewohnt. Solche Strategien sind vor allem bei niedriger Volatilität der Aktien sowie bei niedrigen Zinsen attraktiv.
Risiken von Derivaten – bis hin zum Systemcrash
Der Einsatz von Derivaten ist deshalb keine Nebensache. Es gibt viele individuelle Risiken, darunter das permanente Gegenpartei-Risiko, welches theoretisch das gesamt Brutto-Exposure betrifft.
Besonders gefährlich sind sogenannte systemische Risiken. Letztere bezeichnen Umstände, welche Finanzinstitutionen oder sogar das gesamte Finanzsystem und damit indirekt eine ganze Volkswirtschaft in schwere Schlagseite bringen können.
Ein Teil der individuellen Risiken ergibt sich nicht nur aus gieriger Spekulation, sondern aus ungleichen Buchhaltungsvorschriften etwa bezüglich Bewertung. So müssen Derivate immer zu Marktwerten über die Gewinn- und Verlustrechnung und über das buchhalterische Eigenkapital verbucht werden. Doch die Kassainstrumente, welche sie absichern, können wie etwa im Falle von Anleihen auch anderen Bewertungsgrundsätzen unterliegen. Selbst bei ökonomisch korrekter Absicherung kann in diesem Beispiel dann eine Situation entstehen, bei der buchhalterisch durch das Derivat riesige Verluste entstehen, die nur durch latente und nicht durch bilanzwirksame Gewinne bei den Anleihen kompensiert werden.
Klassische systemische Fehler sind natürlich Verfehlungen im Risikomanagement und Hebelwirkungen, welche in die falsche Richtung gehen. Dies kann individuell für Unternehmen und spezifisch für Finanzinstitutionen mit großen, komplexen Büchern ins Auge gehen. Besonders gefährlich sind Derivate dort, wo systematisch oder zeitweise – durch extreme Ereignisse – illiquide Verhältnisse im Kassamarkt herrschen. Dann sind alle Absicherungsstrategien für die Marktmacher wie für die Kunden gefährdet.
Verluste und Konkurse können aber auch durch den Nichtgebrauch von Derivaten entstehen. So ist es geradezu sträflich, hohe Risiken in Kassainstrumenten oder in der Bilanzsteuerung einfach offen zu lassen. Dies entweder um auf Derivate (Teufelszeug) verzichten zu können, oder um bewusst hohe Risiken einzugehen.
Über die Zeit hinweg sind immer wieder Unfälle passiert oder systematisch gefährliche Strategien gefahren worden, die sich in riesigen Verlusten niedergeschlagen haben. Solche Ereignisse prägen sich dann als ‘Skandale’ und als rücksichtsloses Geschäftsgebaren ein. Doch genau deshalb hat sich die Expertise im Gebrauch und Einsatz von Derivaten immer weiter erhöht. Es gibt also durchaus erhebliche Lerneffekte, auch auf Seite der Regulatoren.
In der Theorie sorgt Spekulation für eine Erhöhung der Markteffizienz. Wer mit seiner Spekulation richtig lag, hat ein korrektes Preissignal vorzeitig in den Markt gegeben und wird dafür mit Gewinnen belohnt. Bei einer Fehl-Spekulation wird man entsprechend mit Verlusten bestraft.
In der Praxis ist die Vorstellung, dass gewinnorientierte Investoren sich selbst überlassen werden sollen und daraus ein effizientes Finanzsystem entsteht, spätestens mit der Großen Finanzkrise beerdigt worden. Nach wie vor hinken die Regulatoren den Innovationen im Finanz-Casino hinterher.
Das Versagen von Regulatoren und Geldpolitik
In der Folge der Weltfinanzkrise haben die globalen Regulierungsbehörden dafür gesorgt, dass Geschäfte mit Derivaten nun weitgehend von Clearinghäusern überwacht werden müssen. Diese sollen sicherstellen, dass alle beteiligten Vertragspartner genügend Sicherheiten stellen. Wenn ein Vertragspartner Pleite gehen sollte, so ist die Clearingstelle dafür verantwortlich, dessen Schulden bei den anderen Vertragspartnern zu begleichen – so die Idee.
Aufgrund des politischen Drucks hat die Nutzung von Clearinghäuser bei Derivateschäften im Verlauf der letzten zehn Jahre stetig zugenommen, wie aus dem aktuellen Quartalsbericht der BIZ hervorgeht. Weltweit laufen demnach inzwischen mindestens rund 40 Prozent aller Transaktionen mit Kreditausfallversicherungen (CDS) und mehr als 60 Prozent aller Transaktionen mit Zinsderivaten über solche zentralen Clearinghäuser.
Aber verfügen die Clearingstellen tatsächlich über genügend Ressourcen, um im Krisenfall eine Lawine von Zahlungsausfällen verhindern zu können? Tatsächlich sieht es nicht gut aus. Sobald die von den Kunden hinterlegten Sicherheiten erschöpft sind, gibt es nicht mehr viel Puffer. Die Garantiefonds, die von allen Kunden im Voraus bezahlt werden müssen, belaufen sich in der Regel auf weniger als 10 Prozent der gesamten Sicherheiten. Und das Eigenkapital der Clearingstellen beläuft sich derweil auf weniger als 0,3 Prozent der gesamten Sicherheiten.
Was noch gefährlicher ist und bleibt, sind zwei fundamentale Fakten im Zusammenhang mit der Geldpolitik.
1. Die Rettung von Institutionen, die ‚too big to fail’ sind: Die großen Banken haben im Unterschied zu anderen Unternehmen und gewinnorientierten Anlegern einen wichtigen Vorteil: Sie sind systemrelevant und werden im Fall von schweren Krisen aus Erfahrung von den Zentralbanken und letztlich vom Steuerzahler gerettet. Das erlaubt ihnen, höhere Risiken als andere Akteure eingehen zu können. Erleichtert wird dies noch durch alle Formen von Management-Vergütung, welche besonders hohe Hebelwirkung bei guter Entwicklung der Finanzmärkte garantiert – und dies schon auf relativ kurze Frist hin.
2. Die Führung der Geldpolitik nicht nur in Krisensituationen: In den letzten 20 Jahren hat sich der Fokus der Geldpolitik grundlegend verändert. Mit immer extremeren Maßnahmen der Zentralbanken soll, meist zunächst kurzfristig, dann aber erfahrungsgemäss perpetuiert, die Konjunktur gestützt werden. Im Verständnis der aktuellen Generation von geldpolitisch Verantwortlichen läuft dies wesentlich über einen vermeintlichen Vermögenseffekt der Geldpolitik ab. Die Notenbankiers glauben also, dass sinkende und niedrige Zinsen und konzentrierte Käufe von Anleihen über steigende Wertschriftenmärkte und generell über erhöhte Preise aller finanziellen und nicht-finanziellen Vermögensgüter der Konjunktur nur Gutes erreichen.
Was sie unterschätzen und sträflich vernachlässigen, ist der Aufbau von potenziell systemgefährdender Hebelwirkung. Denn in einem solchen generalisierten Spekulations-Paradies können sich Bewertungen und Preise komplett von jeglichen Fundamental-Faktoren entfernen. Ist dies in einem spezifischen Markt der Fall wie vor 1987 im amerikanischen Aktienmarkt oder vor 2007 im amerikanischen und internationalen Immobilienmarkt, sind die Auswirkungen begrenzt. Trifft es auf alle Aktiven und Vermögensgüter zu, und wird darauf ein riesiges Gebäude von Derivaten errichtet, indirekt noch in vielen illiquiden Märkten, so können die Effekte kolossal werden.
Bricht das ganze Kartenhaus dann zusammen, werden finanzielle Laien und die Beteiligten, gerade auch die Notenbankiers, den Fokus auf die Derivate lenken, so wie dies nach 2008 geschah. Doch der Kern ist ein anderer: Die Derivate entfachen eine Hebelwirkung, aber sie ist im System nur so riesig, weil ruchlose Großbankiers und unfähige Notenbankiers vorher eine Mords-Preisblase zutage gefördert oder zugelassen haben.
In diesem Sinn muss die Aussage von Warren Buffet korrigiert werden. Derivate sind nicht per se finanzielle Massenvernichtungswaffen. Sie können aber in einem System, in dem systematisch falsche Regulierung und Kontrolle zentraler Akteure sowie eine von falschen Grundsätzen geleitete Geldpolitik betrieben werden, zu solchen systemgefährdenden Finanz-Ungeheuern mutieren.