Politik

Warum sich der nächste Kanzler Russland und China zuwenden sollte

Lesezeit: 5 min
25.06.2021 10:00  Aktualisiert: 25.06.2021 10:00
DWN-Autor Rüdiger Tessmann führt in einem meinungsstarken Artikel aus, wie der Nachfolger von Angela Merkel Deutschland im Machtpoker der Großmächte positionieren sollte.
Warum sich der nächste Kanzler Russland und China zuwenden sollte
Armin Laschet (r), Kanzlerkandidat der CDU, und der russische Außenminister Sergej Lawrow begrüßen sich vor Beginn des Petersburger Dialogs. (Foto: dpa)

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Vor drei Tagen, am 22. Juni, jährte sich zum 80sten Mal der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion, das sogenannte „Unternehmen Barbarossa“. Zum Gedenken an die Leiden und Opfer des russischen Volkes, das seinen Sieg über die Invasoren mit dem Verlust von 27 Millionen Menschenleben bezahlte, legte unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen Kranz am Ehrenmal der sowjetischen Gefallenen nieder, und unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach in bewegenden Worten darüber, dass der Tag des Überfalls auf Russland für uns Deutsche ein Tag der Schande sei.

An eben diesen Tag, den 22. Juni 1941, habe ich lebhafte Erinnerungen, weil ich als siebenjähriges Kind erstmalig anderer Meinung war als meine Mutter.

Hitler macht nie etwas falsch

Ich saß mit einem Spielzeug auf dem Fußboden, während meine Mutter hinter mir mit Bügelarbeiten beschäftigt war.

Im Radio wurde gemeldet, dass Adolf Hitler den Krieg gegen die Sowjetunion befohlen hatte, und ich hörte, wie meine Mutter leise zu sich selbst sagte: „Ich weiß nicht, ob der Führer wirklich immer alles richtig macht!“

Ich war als deutscher Junge dieser Zeit voll von Träumen über das Heldentum der Germanen, und für mich stand selbstverständlich völlig außer Frage, dass unser Führer immer alles richtig macht. Ich empfand die Äußerungen meiner Mutter deshalb als sonderbar und wunderte mich, warum sie etwas so offensichtlich Falsches von sich geben konnte.

Sie hatte das Ende des Ersten Weltkriegs und die Not der Inflation in der Weimarer Republik erlebt. Nach Hitlers Machtergreifung hatte sie den rasanten Aufstieg Deutschlands mit Beseitigung der Arbeitslosigkeit, der Stabilisierung der Währung, der Wiedereingliederung des Rheinlandes und schließlich den Blitzkrieg-Sieg über Frankreich und Polen mit Bewunderung verfolgt. Wahrscheinlich ähnelten ihre Gedanken in Sachen Russland aber denen vieler anderer, die das Denken nicht eingestellt hatten: „Ein Angriffskrieg gegen dieses riesige Land? Das ist eine Nummer zu groß! Daran ist schon Napoleon gescheitert.“ In der Öffentlichkeit ausgesprochen hätte sie diese Bedenken selbstverständlich nicht – so etwas zu sagen, war in jenen Tagen schon lange nicht mehr möglich.

In meiner Kindheit gab es noch kein Fernsehen, aber im Kino sah man vor jedem Film die „Deutsche Wochenschau“ mit Bildern von der begeistert vorrückenden deutschen Infanterie und der alles niederrollenden deutschen Panzertruppe, unterlegt mit schmetternder Marschmusik. Und man sah Bilder von Massen russischer Gefangener, die abgekämpft und mit stumpfen Gesichtern von heroischen, dem Idealbild des Germanenkriegers aufs Genaueste entsprechenden deutschen Soldaten in die Gefangenschaft geführt wurden.

Akkordeon und Kekse

In lebhafter Erinnerung habe ich auch den Tag der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 und die Ankunft von Soldaten der Roten Armee in unserem kleinen Dorf in Mecklenburg. Ich hatte erwartet, dass wir von mongolisch aussehenden barbarischen Horden massakriert würden und war überrascht, dass die Russen große, zum Teil blonde Männer waren, die sich friedlich an unseren Tisch setzten, uns Kinder Kekse gaben und fröhlich erklärten: „Hitler kaput!“

So hatte ich mir die Russen nicht vorgestellt. Besonders ihre Musik, der von Akkordeon begleitete Gesang, berührte mein Herz. Sie war völlig anders als die schmissige Marschmusik, zu der die deutschen Soldaten marschierten.

Mein Russland

Nach dem Krieg sah ich als junger Bürger der DDR Filmaufnahmen über den Russlandkrieg, die ganz anders waren als die der Wochenschau. Ich sah brennende russische Dörfer mit an Querbalken in Reihen aufgehängten Männern und Frauen, aber auch die verhungerten und erfrorenen deutschen Soldaten in der schneebedeckten Steppe vor Stalingrad, und ich sah den Elendsmarsch der Überbleibsel der der 6. Armee beim Marsch durch Moskau, angestarrt mit wortlosem Entsetzen von der Moskauer Bevölkerung.

Mein Verhältnis zu Russland und seinen Menschen, zu ihrer Kultur und auch zu ihrem derzeitigen Präsidenten Wladimir Putin, ist von diesen Erlebnissen meiner Jugend geprägt. Es entspricht nicht dem Bild von Russland, das uns die heutigen deutschen Leitmedien vermitteln, dem Bild eines aggressiven, gefährlichen Landes, das regiert wird von einem eiskalten ehemaligen KGB-Agenten, einem gewissenlosen Diktator namens Wladimir Putin.

Mein China

Ähnliche Gedanken bewegen mich auch in Bezug auf China, dessen führende Partei sich zwar „kommunistisch“ nennt, deren Regierung aber nichts mit der vergreisten Führungsriege der UdSSR oder der DDR gemein hat, wie wir sie Ende der 80er Jahre erlebten. Mit dem autoritär regierenden Staatspräsidenten Xi Jingping und seinem aus kompetenten Fachleuten bestehenden Beraterstab hat es Ähnlichkeit mit den früheren Kaiser-Dynastien, die das große Reich der Mitte selbst nach schweren Krisen immer wieder zu Wohlstand und Weltgeltung brachten.

Auch in China haben wir Deutschen einige Leichen im Keller, was deutlich wird, wenn man sich an die Kolonialzeit erinnert, als deutsche Truppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Boxeraufstand niederschlugen, grausame Strafexpeditionen in mehreren chinesischen Städten durchführten, Peking plünderten und Kaiser Wilhelm II die Worte prägte: „Der deutsche Soldat soll sich in China so aufführen, dass auch in hundert Jahren kein Chinese es mehr wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“

Die Qual der Wahl

Nach 16-jähriger Kanzlerschaft wird Angela Merkel im September dieses Jahres nun endgültig abtreten, und mich bewegt der Gedanke, wie ihr Nachfolger im Kanzleramt unser Verhältnis zu den Großmächten Russland, China und USA zu regeln gedenkt. In den bisherigen Wahlkampfreden wurde diese Angelegenheit wohlweißlich vermieden, stattdessen beherrschen die Themen Corona, Klimaschutz, Steuern sowie Renten die Diskussion.

Die Warnung vor der Aggressivität des ach so seelenlosen, von Grund auf schlechten ehemaligen KGB-Agenten, des seelenlosen „Mörders“ Wladimir Putin und die Warnung vor einer zukünftigen Weltmachtstellung Chinas und dessen „kommunistischen“ Partei beherrschen so sehr die öffentliche Meinungsbildung, dass ein aufstrebender Politiker das Ende seiner Karriere befürchten muss, wenn er sich als „Putin-Freund“ oder als „Russenversteher“ outet, oder über den deutsche-chinesischen Handel spricht, ohne immer wieder auf das Leid der unterdrückten Uiguren hinzuweisen, oder die Bedeutung der militärischen Abschreckung durch die von den USA geführten NATO zur Wahrung unserer demokratischen Ordnung in Frage stellt.

Welche Partei soll ich im September wählen, wenn mir die Erhaltung des Friedens in einer dreigeteilten Welt am Herzen liegt - einer Welt, in der Deutschland zwischen den drei Großmächten eingezwängt ist und sich entscheiden muss, von wem und gegen wen es beschützt werden will?

  • Zuständig für die Bewahrung des Friedens waren einmal die Grünen. Das hat sich jedoch geändert: Robert Harbeck, ihr Bundesvorsitzender (er hat das Amt gemeinsam mit der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock inne), ließ sich mit Stahlhelm auf dem Kopf an der Ostfront der Ukraine fotografieren und befürwortete deutsche Waffenlieferungen an das Land, weil es in seinen Augen eine schützende Barriere für unsere Freiheit bildet gegen die – angebliche – Aggression Russlands. Und Baerbock forderte den Stopp der russischen Gas-Pipeline Nordstream 2, um eine – angebliche - Abhängigkeit Deutschlands von Russland zu vermeiden.
  • Was die SPD angeht: Die hatte mal einen Kanzler Gerhard Schröder, der eine Beteiligung am amerikanischen Krieg im Irak glatt ablehnte. Aber er ist heute als „Russen- und Putin-Freund“ gebrandmarkt und wird seitens seiner Partei kaum mehr erwähnt – er ist in gewisser Weise ein Ausgestoßener, ein Paria. Auch Kanzler Helmuth Schmidt war Sozialdemokrat und besuchte chinesische Präsidenten von Mao bis Deng und Hu und schrieb sehr positive Bücher über die kluge Führung der Volksrepublik und ihre wirtschaftlichen Erfolge. Aber er ist nun tot und kann an der Diskussion nicht mehr teilnehmen.
  • Da wäre noch die Linke, die freundliche Beziehungen mit Russland und China befürworten könnte, aber sie ist in sich selbst zerstritten und hat überhaupt keine Chance, den Kanzler zu stellen.
  • Die AFD hat eine Delegation nach Russland geschickt und mit Putin gesprochen. Im Bundestag hat sie kaum Freunde, denn man interpretiert ihren „Kuschelkurs“ mit autoritären Herrschern als Ausdruck „völkischer“ oder gar Nazi-Gesinnung.
  • Wie steht die CDU-CSU zu unserem Verhältnis zu Russland und China? Ihr Kanzlerkandidat ist Armin Laschet, der wegen seines fast ständig lächelnden Gesichtsausdruckes oft als zu milde angesehen wird. Auch er wurde schon „Russenversteher“ genannt – ein Ausdruck, der in der politischen Diskussion hierzulande als Schimpfwort gilt.

Ein Dreigestirn - kein Hegemon

Nun fand ich am 21. Juni in den Deutschen-Wirtschafts-Nachrichten einen Artikel mit einem Zitat von Laschet als Überschrift: „Wir leben nun in einer multipolaren Welt.“ Wie bitte? Der immer so milde lächelnde Laschet wagt eine so mutige, ja geradezu revolutionäre Aussage? Er sieht eine „multipolare Welt“ als Realität! Das hieße ja, nicht allein die USA hätten das Monopol auf die Weltherrschaft inne, sondern auch Russland und China werden als Pole mit Weltgeltung anerkannt. Andere Großmächte mit unterschiedlichen Regierungsformen als der westlichen werden - so, wie sie nun mal sind – als Realität wahrgenommen, respektiert und nicht als Feinde abqualifiziert, die der Westen mit vereinten Kräften im Rahmen der NATO bekämpfen beziehungsweise „eindämmen“ muss.

Ich wünsche mir einen Kanzler als Nachfolger von Angela Merkel, der im Dreieck dieser Weltmächte die Interessen Deutschlands im Blick hat und nicht als erste Amtshandlung eine Reise nach Washington unternimmt, um dort seine Marschbefehle zu empfangen. Der Ausgang der amerikanischen Kriege von Vietnam bis Afghanistan, die im Namen „westlicher Werte“ und „Freiheit“ – beziehungsweise das, die Amerikaner darunter verstehen – geführt wurden, sollte uns eine Lehre sein.


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