Politik

Österreichs Regierungskrise: Ronald Barazon deckt das heimliche Drehbuch der politischen Seifenoper auf

Lesezeit: 6 min
17.10.2021 08:50
Österreichs Politiker betätigen sich mal wieder als Akrobaten, die auf offener Bühne die tollsten Verrenkungen präsentieren. Hinter den Kulissen finden jedoch noch ganz andere Kunststücke statt.
Österreichs Regierungskrise: Ronald Barazon deckt das heimliche Drehbuch der politischen Seifenoper auf
Österreichs zurückgetretener Bundeskanzler Sebastian Kurz. (Foto: dpa)

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Der Rücktritt von Sebastian Kurz als Bundeskanzler und der gleichzeitige Antritt von Sebastian Kurz als Obmann des ÖVP-Klubs im Parlament unter Beibehaltung der Rolle des Partei-Chefs der ÖVP: Nur das für alle sichtbare akrobatische Kunststück, das die österreichische Politik in den letzten Tagen geliefert hat. Im Hintergrund fanden allerdings noch mehrere andere gewagte Sprünge statt, die man getrost mit eingesprungenen Sitzpirouetten vergleichen kann. Wie man aus der Literatur von Franz Kafka bis Robert Musil weiß, ist Österreich nur schwer zu verstehen, aber dennoch – oder vielleicht gerade deshalb - lohnt es, einen Blick auf die neueste Alpen-Saga zu werfen und zu versuchen, die Geschehnisse zu entwirren und zu begreifen.

Chat-Nachrichten zwischen Sebastian Kurz und einem Mitstreiter lösen einen Skandal aus

Es begann vergangene Woche mit der Veröffentlichung von Handy-Nachrichten, die Sebastian Kurz und einer seiner Vertrauten, Thomas Schmid, im Jahr 2016 einander sendeten. Diese Chats begründen den Verdacht, so die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, dass Kurz, damals Außenminister, und Schmid, damals Generalsekretär im Finanzministerium, folgende möglicherweise strafbare Handlungen begangen haben: Fälschung von Umfrage-Ergebnissen, um den damaligen ÖVP-Obmann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner in ein schlechtes Licht zu rücken, Bestechung der Tageszeitung „ÖSTERREICH“ durch die Vergabe von Scheinaufträgen in Höhe von rund einer Million Euro aus Geldern des Staates, um eine Kurz-freundliche Berichterstattung zu erreichen, sowie Sabotage der Beschlussfassung einer Milliarden-Förderung für die Tagesbetreuung der Schulkinder, die Mitterlehner gemeinsam mit dem damaligen SPÖ-Bundeskanzler Christian Kern plante (die SPÖ ist das österreichische Pendant zur deutschen SPD, während die ÖVP am ehesten mit der CDU verglichen werden kann – Anm. d. Red.). In den Chats wird Mitterlehner mit deftigen Schimpfwörtern bedacht und die Eroberung des Kanzleramts durch Kurz als erklärtes Ziel genannt.

Dies alles hat einen Skandal ausgelöst, wobei die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft noch nicht abgeschlossen sind und es noch Jahre dauern dürfte, bevor strafbare Handlungen mittels eines Gerichtsverfahrens nachgewiesen werden können. Es gilt also die Unschuldsvermutung.

Beim Koalitionspartner der ÖVP, den Grünen, flammte der ohnehin schon seit längerem schwelende Unmut der Partei-Basis über die Zusammenarbeit mit der als ausländerfeindlich geltenden Volkspartei hoch. Grünen-Parteiobmann und Vizekanzler Werner Kogler erklärte Kurz für handlungsunfähig und forderte die ÖVP auf, den Kanzler durch einen untadeligen Kandidaten zu ersetzen. Sonst würden die Grünen zusammen mit den im Parlament vorhandenen Oppositionsparteien die Regierung stürzen.

Bei näherem Hinsehen geht Kurz´ Aura als Alleskönner verloren

Die ersten Reaktionen waren eine schroffe Ablehnung dieser Forderung durch Kurz und ein Schulterschluss der Parteigranden, gefolgt von der Erklärung, dass die ÖVP nur mit Kurz als Kanzler in der Regierung bleiben werde. Allerdings wurde dann der politische Rechenstift eingesetzt. Das Ergebnis: Kurz wird in höchsten Tonen gelobt, weil er der ÖVP nach einer über vierzigjährigen (!) Durstrecke überzeugende Wahlsiege eingebracht hat (von 1970 bis 2017 dominierte die SPÖ, die ÖVP gewann nur die Wahl 2002, wobei damals eine besondere Situation herrschte: Die FPÖ befand sich in einer dramatischen Krise, die eine Wanderbewegung der Wähler zur Volkspartei auslöste). Aber: Kurz bleibt kein Kanzler. Bei ruhiger Analyse ist den ÖVP-Strategen letztlich nämlich klar geworden, dass sie das gute Resultat bei der Nationalratswahl 2019 mit einem Ergebnis von stolzen 37,5 Prozent der Stimmen nicht nur Kurz zu verdanken haben. Auch 2019, wie schon 2002, wirkte sich nämlich eine Krise der FPÖ positiv für die ÖVP aus – und zwar der Absturz nach dem 2019 aufgeflogenen „Ibiza-Skandal“: Der damalige FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache hatte, wie auf einem Video zu sehen und zu hören ist, vor der Nationalratswahl 2017 einer vermeintlichen russischen Oligarchin ein besonderes Angebot gemacht: Würde die Dame die „Kronen-Zeitung“, Österreichs auflagenstärkste Tageszeitung, kaufen und zu einem FPÖ-freundlichen Blatt machen, so werde er, im Falle einer FPÖ-Regierungsbeteiligung, für staatliche Aufträge ohne öffentliche Ausschreibung sorgen. In der Folge gab es eine Regierungskrise, und nach nur eineinhalb Jahre endete die - aus ÖVP und FPÖ gebildete - erste Regierung Kurz. Bundespräsident Alexander van der Bellen setzte eine Expertenregierung ein. Nach Neuwahlen regiert seit Anfang 2020 eine Koalition aus ÖVP und Grünen, die nun, im Oktober 2021, beinahe ebenfalls nach kurzer Zeit, diesmal nach etwas mehr als eineinhalb Jahren, geplatzt wäre.

Der Kurz-Skandal könnte die Wähler wieder zurück zur FPÖ treiben

Die ÖVP muss jetzt fürchten, dass der nun ausgebrochene Kurz-Skandal sich als eine Art „Ibiza II“, nur diesmal zu Ihren Lasten, auswirkt und die Wechsel-Wähler wieder zurück zur FPÖ treibt. Zumal Strache nicht mehr FPÖ-Obmann ist und die Erinnerung an „Ibiza“ bereits allmählich verblasst. Ein Sturz der Regierung und anschließende Neuwahlen sind somit ein alles andere als abwegiges Horrorszenario, weshalb für die ÖVP Kurz als Kanzler nicht mehr die Bedingung für eine Teilnahme an der Regierung war. Dieses Einlenken rettet ihnen vorerst ihren Stimmen-Anteil von 37,5 Prozent bis zum Ender der Legislaturperiode, während der Ex-Kanzler erstmal im Nationalrat geparkt wird. Die ÖVP hofft, dass die Gerichtsverfahren glimpflich ausgehen und Kurz anschließend vielleicht sogar wieder Wahlen gewinnen könnte. Sollte er allerdings tatsächlich verurteilt werden, müsste er „nur“ den Nationalrat verlassen.

Der bisherige Außenminister, Alexander Schallenberg, ein treuer Gefolgsmann von Kurz, wird jetzt erst mal Bundeskanzler, das Außenministerium übernimmt Michael Linhart, einst Generalsekretär des Außenministeriums unter Kurz, zuletzt Botschafter in Paris. Auch ist anzumerken, dass der Klubobmann im Parlament, also Kurz, an Regierungssitzungen teilnimmt. Fazit: Die eingesprungene Sitzpirouette ist perfekt geglückt.

Für die Grünen ist die Rettung der ÖVP-Regierung attraktiver als das Chaos, das nach Neuwahlen zu erwarten wäre

Nun stellt sich natürlich die Frage, wieso sich die Grünen mit dieser Inszenierung zufrieden geben und Schallenberg als neues Gegenüber anerkennen. Die Erklärung: Auch die Grünen mussten einen Salto schlagen. Gingen sie mit der Opposition mit, käme es zu Neuwahlen. Absehbar ist, dass die ÖVP dabei abstürzen und keine Partei eine überzeugende Mehrheit erreichen würde. Wahrscheinlich ist, dass die FPÖ zulegen würde. Die SPÖ erholt sich bereits seit mehreren Jahren nicht. Die vierte Partei im Parlament, die NEOS („Das Neue Österreich und Liberales Forum“), könnte nur bei einer Mehrparteien-Regierung eine Rolle spielen. Die Grünen haben schon Mühe, mit der rechten ÖVP zusammenzuarbeiten; eine Koalition mit der extrem weit rechts stehenden FPÖ kommt für sie vollends nicht in Frage. Summa summarum: eine Regierungsbildung wäre unendlich mühsam. Dass die Grünen nach Neuwahlen ihre Ziele durchsetzen könnten, ist unrealistisch.

In der aktuellen Situation der Koalition mit der ÖVP bestehen für die Grünen dagegen zwei große Vorteile: Zum einen stellen sie mit Alma Zadic die Justizministerin, die der Staatsanwaltschaft und insbesondere der Korruptionsstaatsanwaltschaft den Rücken frei hält. Unter jeder anderen politischen Konstellation bestünde nach Ansicht der Grünen die Gefahr, dass der Freiraum der Justiz wieder eingeengt wird. Die grüne Ministerin hat zudem den einst übermächtigen Sektions-Chef im Justizministerium, Christian Pilnacek, abgesetzt, der sich derzeit einer Anklage wegen Amtsmissbrauchs stellen muss. Der zweite große Vorteil nahm vor wenigen Tagen Gestalt an, als die Koalitionsparteien sich auf eine Steuerreform einigten, in der grüne Anliegen wie etwa eine CO-2-Steuer berücksichtigt sind.

Auch diese Volte ist zirkusreif. Und wie! War eine Zusammenarbeit mit Kurz vor einigen Tagen noch undenkbar, werden die ersten Gespräche mit dem Kurz-Getreuen Schallenberg jetzt als konstruktiv gefeiert.

Auch die Opposition könnte sich derzeit nicht über eine Nationalratswahl freuen

Man könnte meinen, dass die Oppositionsparteien, also FPÖ, SPÖ und NEOS, über die Kunststücke der Regierungsparteien unglücklich wären, weil ihnen die Gelegenheit einer Neuwahl genommen wird. Die lautstarken Proteste gegen die Fortsetzung des „Systems Kurz“ sind durchaus dazu angetan, diese Annahme zu verstärken. Tatsächlich sind die größeren Oppositionsparteien, SPÖ und FPÖ, jedoch in eigenen Fallen gefangen und scheuen daher ebenfalls eine baldige Nationalratswahl.

Was die SPÖ angeht: Sie kann bereits seit mehreren Jahren nicht mehr an ihre früheren Erfolge anschließen. Die Partei, die unter Bruno Kreisky und Hannes Androsch in den 1970ern elf Jahre die absolute Mehrheit hielt und auch danach meist die relative Mehrheit hatte, kam bei der Wahl 2019 auf gerade mal 21,2 Prozent und bewegt sich in den Umfragen derzeit weiter auf diesem Niveau. Es ist kaum anzunehmen, dass Neuwahlen der Partei nützen würden. Pamela Rendi-Wagner, seit November 2018 Parteivorsitzende, überzeugt bisher weder die eigenen Parteifreunde noch die Öffentlichkeit. Somit muss die Partei hoffen, dass die Vorsitzende an Statur gewinnt, und da ist eine längere Warteperiode bis zur nächsten Wahl willkommen.

Auch wenn ein neuerlicher Aufschwung der FPÖ bei den Wahlbeobachtern und -kommentatoren das Thema Nummer eins ist: Wirklich sicher fühlen sich die Freiheitlichen nicht – schließlich haben die Wähler Ibiza dann doch noch nicht vollständig vergessen. Dazu kommt, dass – nach einem parteiinternen Machtkampf - der ausgewiesen extrem weit rechts positionierte Herbert Kickl die Parteiführung übernommen hat, sich aber in der Bevölkerung keiner besonders großen Beliebtheit erfreut. Auch besteht die Möglichkeit, dass die Aktionen gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz, die unter seiner Amtsführung als Innenminister in der ÖVP-FPÖ Regierung von Dezember 2017 bis Mai 2019 stattfanden, noch ein gerichtliches Nachspiel haben könnten.

Der FPÖ wurde das Monopol als Partei der Impfgegner durch unbekannte Neulinge genommen

In den vergangenen Monaten haben sich Kickl und die FPÖ als Impfgegner positioniert, doch diese politische Linie scheint nur einschränkt ein Erfolgsrezept zu sein. Bei den kürzlich abgehaltenen Wahlen zum oberösterreichischen Landtag stürzte die FPÖ von über 30 auf unter 20 Prozent der Stimmen ab. Eine neu gegründete Initiative gegen Corona-Impfungen, die sich weder auf eine politische Machtbasis noch auf finanzielle Ressourcen stützen konnte, gewann 6,23 Prozent der Stimmen. Das macht die freiheitlichen Parteistrategen sehr nachdenklich, zumal der FPÖ-Spitzenkandidat in Oberösterreich, Manfred Haimbuchner, allgemein positiv gesehen wird und deutlich beliebter ist als Kickl. Wenn also selbst der Haimbuchner keine guten Wahlergebnisse holt, wie soll dann Kickl …

Bundespräsident Alexander van der Bellen ist der Stabilisator der österreichischen Politik

Nach den Turbulenzen der vergangenen Tage schienen Neuwahlen unvermeidlich. Jetzt sieht es allerding so aus, als ob alle entscheidenden Akteure hoffen, dass die Legislaturperiode bis zu ihrem vorgesehenen regulären Ende im Jahr 2024 hält. Nun heißt es also abwarten, ob das politische Kalkül siegt oder ob die Emotionen gewinnen. Schließlich ist ja im Grunde jeder gegen jeden, und die Zeit, da die österreichische Politik über Parteigrenzen hinweg den Konsens gesucht hat, ist schon lange vorbei. Gut also, dass es den Bundespräsidenten gibt: Alexander van der Bellen versteht es geschickt, die auseinander strebenden Kräfte durch Überzeugungsarbeit immer wieder einzufangen. Das ist ihm sowohl in den vergangenen Tagen gelungen als auch nach der Ibiza-Krise. Tatsache ist: Der mittlerweile 77-Jährige ist erst seit 2017 Präsident und hat dennoch bereits zwei Regierungskrisen gemanagt. Seine Vorgänger waren dagegen sechs oder sogar zwölf Jahre im Amt, ohne Turbulenzen meistern zu müssen, sodass manche Österreicher bereits die Notwendigkeit, einen Bundespräsidenten zu haben, bezweifelten. Dieser Zweifel ist nun behoben – das Land braucht jemanden, der das Sicherheitsnetz fest in Händen hält, wenn die politischen Artisten, Akrobaten und Zirkuskünstler mal wieder ihre gewagten Kunststücke präsentieren.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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