Politik

„Gier, Unfähigkeit, Propaganda“: Ein zorniger Ökonom rechnet mit der EU ab

Lesezeit: 22 min
13.08.2014 00:50
Der Ökonom Richard Crusius glaubt, dass Europa nur zu ändern ist, wenn die EU radikal umgebaut wird: Nur ein soziales und freies Europa kann ein wirklich liberales Europa sein. Bisher hat sich eine weitgehend ahnungslose Politik von den Playern aus der Finanzwirtschaft gängeln lassen. Große, zentralistische Organisationen haben in der Folge die Macht übernommen. Zu retten sei Europa nur, wenn der giftige Cocktail aus Gier, Dummheit und Propaganda endlich in den Ausguss gekippt wird. Ein zorniges Plädoyer für ein radikal anderes Leben in Europa.
„Gier, Unfähigkeit, Propaganda“: Ein zorniger Ökonom rechnet mit der EU ab

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Der Hamburger Volkswirt Reinhard Crusius hat ein bemerkenswertes und höchst lesenswertes Kompendium der Krise in Europa geschrieben ("Rettet Europa, nicht nur die Banken!"). Im Gespräch mit DWN-Herausgeber Michael Maier erklärt Crusius, worin die fundamentalen Probleme der EU bestehen - und wie Lösungen aussehen können. In dem Interview, das per Email geführt wurde, bezieht sich Crusius mehrfach auf das neue Buch von Michael Maier ("Die Plünderung der Welt. Wie die Finanz-Eliten unsere Enteignung planen"). Die DWN bringen das Interview in zwei Teilen. Im ersten Teil geht es vor allem um das Versagen der Politik und die fortgesetzte Täuschung der Bürger in Europa.

Michael Maier: Sie kommen in Ihrem umfangreichen und analytischen Buch zu dem Ergebnis, dass man Europa retten kann, ohne sich der, wie Sie es nennen, „Merkel/Schäuble/Troika“-Doktrin zu unterwerfen. Wie kann die Rettung Europas aussehen?

Reinhard Crusius: Wir müssen zuerst aktuell versuchen, die meines Erachtens zerstörerische Politik der undemokratischen intransparenten und nicht legitimierten Großakteure (IWF, Kommission und EZB, die Merkel aber alle nicht in Frage stellt, ja sogar weiter ermächtigen will) anzugreifen, um den absehbaren Euro-Dauer-Crash zu verhindern.

Wir müssen parallel Modelle und Szenarien, also ökonomische, soziale und juristische Verfahrenswege ausloten, wie wir diese lähmende Zwangsgemeinschaft „Euro“ flexibel machen können. Merkels Dauermantra „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa“ ist ja nicht nur politisch unsäglich falsch und fantasielos; ihre ständige TINA-Rhetorik ist ebenfalls Ergebnis ihrer Fantasielosigkeit, teils aber auch strategischer Aspekt ihrer eher demokratiefernen technokratischen Vorstellung von Europa.

Außerdem war und ist diese These hochgradig einladend für die „Bestie Finanzkapital“. Ganz platt: Hätte Papandreou damals die Auflagen der Troika abgelehnt, hätten wir Griechenland wohl dennoch retten müssen angesichts dieser politischen Sichtweise und der Panik, in die diese Ideenlosigkeit die politischen Akteure seinerzeit versetzte. Da es aktuell ja nicht nur um „Schulden machen“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ geht, sondern das ganze EU-Gebäude und die ganze Politik der EU, speziell der Euro-Zone in Frage steht, geht es bei der Rettung des Euros also um eine andere Krisenpolitik, eine andere Wirtschafts- und Marktpolitik, eine andere oder überhaupt erst mal eine Sozialpolitik der EU und eine demokratische Fundierung des Kolosses EU, ein Aufbrechen dieser gigantischen Black Boxes. Es geht also um das genaue Gegenteil von Merkels „marktkonformer Demokratie“.

Ich habe der Frage, wie eine Rettung Europas aussehen könnte, die ja ein wesentlicher Impuls für mich war, dieses Buch zu schreiben, in diesem Buch weite Passagen gewidmet. Einen Versuch, einmal plakativ und geballt „mein Programm“ in einem Absatz darzustellen, zitiere ich hier. Dann wir auch meine Kritik klarer:

Statt bürokratischer Zentralisierung gemeinsam gesetzte und von Subsidiarität geprägte Ziele und Maßnahmen; statt uferlosem Wettbewerb mehr Kooperation; statt rein marktinduziertem Gewinnstreben mehr gemeinwohlorientierte Staatsmächtigkeit; statt wettbewerbsinduziertem Einheitsbrei regionale Vielfalt und kulturellen „Artenschutz“; statt steigender Monopolisierung durch internationale Konzerne die Förderung mittelständischer Vielfalt und genossenschaftlicher Wirtschaftsweisen; statt Verteilungskrieg kooperative Gestaltung des Hauses Europa; statt Casino-Kapitalismus „soziale Marktwirtschaft“, die den Namen verdient; statt nur Wirtschafts- endlich auch Sozialunion! Das sollte der Weg der Zukunft sein: ein soziales und freies, also wirklich liberales Europa! Ich füge als dringlichste Forderung an: Statt „nur sparen“ ein Sorgen für nachhaltig umweltschonendes Wachstum und öffentliche Investitionsprogramme, die den Millionen arbeitsloser Menschen, vor allem den arbeitslosen Jugendlichen, wieder glaubwürdige Hoffnung geben – und die Schuldenzuwächse der öffentlichen Hände eher abbauen als die jetzige wirtschaftszerstörerische Sparpolitik es kann.

Finanziert werden sollte eine solche Politik durch eine Korrektur der immer ungerechter gewordenen Einkommensverteilung und eine stark produktivitäts- und verteilungsorientierte Lohnpolitik zur Stärkung des europäischen Binnenmarktes. Das wäre auch als solches ein richtiger Schritt, jedenfalls vernünftiger als das Streben nach „internationaler Wettbewerbsfähigkeit“ in der jetzt organisierten Form, welches droht, Europa in eine nicht zu gewinnende Billig-Konkurrenz zu außereuropäischen Wirtschaftszonen zu führen und das aus Europa für breite Teile der Bevölkerung eine Art „Hartz IV-Zone“ macht.

Michael Maier: Sie votieren beharrlich für Ehrlichkeit in der Politik, für eine schonungslose Benennung der Probleme, um dieses lösen zu können. Zeigt die Erfahrung nicht, dass Ehrlichkeit in der Regel zur Abwahl einer Regierung führt – und daher von den Politikern gemieden wird, um an der Macht zu bleiben?

Reinhard Crusius: Da haben wir gleich das zentrale Problem der Politikgestaltung in einer Demokratie am Wickel. Natürlich haben Sie Recht. Frau Merkel ist ja geradezu eine Akrobatin in der Fähigkeit, an der Macht zu bleiben und dem Volk Sand in die Augen zu streuen. Leider geht so etwas nur mit einer Medienlandschaft, die sich der Mühe der Wahrheitsfindung zu wenig unterzieht oder unterziehen kann, die ihr „Wächteramt“ nur unzureichend wahrnimmt. Die Änderung einer meines Erachtens verhängnisvollen Politik setzt zuerst einmal voraus, dass wir geradezu lieb gewordene Sichtblenden, Wahrnehmungslücken und Deutungsmantras in Frage stellen, und das geht nur mit Hilfe der Medien. Die „Abwahl ehrlicher Politiker“ ist ein Problem mangelnder Aufgeklärtheit. Ich schildere diesen Aspekt im Buch sehr ausführlich, hier nur Stichworte für unsere ideologischen Fixierungen bzw. Blindstellen. Wo ist Ehrlichkeit missachtet worden? Über sieben Verblendungen, Halbwahrheiten und Propagandalügen müssen wir Klarheit herstellen, damit wir die Notwendigkeit einer anderen Politik überhaupt erkennen und diese andere Politik formulieren können.

(1) Das Verschwindenlassen der Finanzkatastrophe von 2007/09 als eine der Hauptursachen der jetzigen Staatsverschuldung (Ausnahme Griechenland). Zur Erinnerung: Die durchschnittliche Schuldenquote aller EU-Staaten liegt gegenwärtig bei 94%, der EU-Vertrag erlaubt nur 60%. Fast alles, was darüber liegt, ist (außer in Griechenland) der Finanzkatastrophe von 2007/09 geschuldet, da die Staaten die Exzesse der Finanzindustrie und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen direkt auffangen mussten (mussten?). Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung veröffentlichte im April 2013 als Ergebnis einer Studie, dass alleine der Steuerausfall aufgrund der Wirtschaftskrise und die Konjunkturprogramme Deutschland 187 Milliarden Euro gekostet haben. Dazu kam die zusätzliche Belastung der Sozialkassen durch drastisch erhöhte Ausgaben und verminderte Einnahmen (jeder Arbeitslose zählt ja doppelt!), sowie die realen Ausgaben von ca. 30 Milliarden Euro zur Rettung deutscher Banken (alles nur Folgen der Finanzkrise, und noch nicht der Euro-Krise)! Auch diese Summen gehören ja schon zur Plünderung der normalen Bürger.

(2) Das Uminterpretieren der Finanzkatastrophe von 2007/09 in ein Desaster menschlicher Unzulänglichkeiten (Gier), statt die durch den Wandel des Realkapitalismus in einen dominanten, immer spekulativeren Finanzkapitalismus systemischen Ursachen zu benennen: Fast explosionsartig sich ausweitende spekulative Geldmengen als frei flottierende anlagehungrige Billionensummen (Gemeinschaftswerk von renditehungrigen Kapitalgesellschaften, der neoliberalen Privatisierung von Sozialkassen und anderen öffentlichen Einrichtungen, dem steuerlich forcierten Ausbau privater Billionenvermögen und einer ideologiefixierten Politik des „Wegziehen der Bremsklötze“, einer ausufernden Gelddruckerei der Zentralbanken, sowie der Globalisierung als Folge und Verstärker eines immer hemmungsloser sich bedienenden und sich immer monopolistischer organisierenden Kartells von multinationalen Konzernen in Wirtschaft und Finanzwirtschaft – das Ganze angeleitet von der bei uns dominierenden neoliberalen „wissenschaftlichen“ Ökonomie.

Nach dem Crash von 2007/09 war der Politik noch klar, dass sie eine von ihr gefütterte und freigesetzte Bestie zu zähmen hatte, und sie beschloss eine Reihe sehr vernünftiger Regulierungsmaßnahmen (i.d.R. Rücknahmen vorher aufgelöster Regulierungen). Als man zu mutlos und zu uneins war, diese Beschlüsse von G8 und G20 auch umzusetzen oder das auch inzwischen gar nicht mehr wollte, definierte man die Katastrophe einfach als eine Folge der Gier um, das war dann politisch einfacher zu händeln. So war das Umlügen dieser vom damaligen Bundespräsidenten Köhler (eines wirklich versierten Finanzfachmanns) noch als „Monster“ bezeichneten Finanzkartelle in das neutrale, einfach da seiende Gebilde „die Märkte“ möglich, die wir wie das Wetter weder vorhersagen noch weniger beeinflussen können, nach denen man sich nur entsprechend zu richten hatte, was ja praktisch Unterwerfung heißt.

Gerade Merkel und Schäuble haben ja fast all ihr Handeln an „den Märkten“ ausgerichtet (und an den halbkriminellen US-Ratingagenturen als deren Orakel), welche sie im Gegensatz zu dem Fuchs Draghi bis heute nicht begreifen – mit der fatalen Folge von gravierenden quantitativen und zeitlichen Fehleinschätzungen zu Lasten u. a. des deutschen Steuerzahlers. Jedenfalls ist die angeblich mächtigste Frau der Welt objektiv seit fünf Jahren Getriebene dieser „Märkte“; diese, nicht sie geben Taktfolge und Inhalt vor! Es ist besonders gefährlich, da diese Märkte wegen ihrer überquellenden Finanzmassen hochspekulativ agieren, was auch daran deutlich wird, dass die Banken noch bis fünf Minuten vor zwölf den Krisenstaaten hemmungslos Geld liehen und somit das Schuldenproblem anheizten, wohl wissend (u. a. durch Merkels Mantra), dass die Staaten bzw. die EU den Steuerzahler diese Renditeorgien (Griechenland im Frühjahr 2012 44% Rendite auf Staatsanleihen!) begleichen lassen würden.

(3) Der bis heute inhaltlich nicht reflektierte oder einfach negierte Sachverhalt, dass der Euro ein hochriskantes, historisch einmaliges, also beispielloses, völlig verfrühtes und in seinen Aufnahmekriterien unzulängliches (siehe dazu nur die Liste der Euro-Länder) finanzakrobatisches Experiment ist, das aufgrund der nicht hinreichend organisierten Harmonisierung der beteiligten Volkswirtschaften (so das möglich ist) und angesichts der weiterhin an seinen Rändern bleckenden „Bestie Finanzkapital“ ein ständig heftige Spannungen erzeugendes Gebilde ist. Deswegen war zumindest anfangs noch die Rede von der Euro-Krise. Denn der Euro – oder besser: das Konstrukt „Währungsunion“ – ist Auslöser des Theaters der letzten Jahre. Ganz simpel: Wäre Griechenland nicht im Euro, hätte sich seine verantwortungslose Politik schon viel früher gerächt – aber ohne uns mit reinzuziehen. Alles, was finanz- und haushaltspolitisch in den letzten Jahren geschah, hat zwei Ursachen: die Währungsunion und den hochspekulativen Hyperfinanzmarkt, ein Produkt des Neoliberalismus, ebenso wie die verfrühte Euro-Einführung, die ja dem neoliberalen Glaubenssatz geschuldet war, dass der Markt alles richtet; er sorge auch dafür, dass die damals von allen gesehene gravierende Ungleichheit der Volkswirtschaften sich automatisch ausgleicht.

Genscher sprach 1988 vom Euro als „Katalysator“, der erste Chef der EZB, Duisenberg, von „dem einen Schuss“, den man nur habe angesichts des gigantischen Experiments Währungsunion. Politiker müssen leider so gut wie nie einstehen für ihre Fehler. Dieses Aus-dem-Blickfeld-Schieben der Ursache Euro- bzw. Währungsunion verhindert eine ehrliche Politik. (Ich empfehle dringend als Analyse der Probleme, die fast zwangläufig entstanden und als Beleg, dass kluge Ökonomen durchaus in der Lage waren, das zu sehen, sowie auch als Hilfe bei der Lösung der aktuellen Probleme die damaligen Schriften des Ökonomen Wilhelm Nölling: „Unser Geld. Der Kampf um die Stabilität der Währung in Europa“, Ullstein Verlag, Berlin 1993, und seinen Beitrag „Euro – der Sozialstaatsbruch“, in dem Buch „Die Euro-Illusion“, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001).

Es geht, man mag es drehen wie man will, in einer so zwangsverklammerten Währungsunion nicht ohne Ausgleichsmechanismen. Es ist zwar der Bail-out im Prinzip verboten, aber dieses Verbot erscheint mir eher ein Placebo-Gesetz angesichts der zu lösenden Probleme, das nicht funktionieren kann, wenn es hart auf hart kommt (und es wird meines Erachtens noch härter kommen). Das ist natürlich Rechtsbruch, aber es ist ein programmierter Rechtsbruch. Die ganze Rechtsverdreherei der letzten Jahre ist Produkt eines völlig verspannten Konstruktes A, dem man zur optischen Beruhigung die rechtlichen Grundlagen für ein harmonisches Konstrukt B übergestülpt hat. (Eines der Dilemmas einer unausgereiften Währungsunion.)

Paradebeispiel für die daraus resultierende Heuchelei ist die Kritik an Draghi: Natürlich ist er ein machtversessener Zar, der sich seine „EZB“ peu a peu zum Regierungshauptsitz ummodelt. Aber solange die Politik die Binnen- und Außenspannungen der Eurozone nicht geregelt kriegt, tut er (gottlob, wie die Politiker heimlich flüstern), was jeweils aktuell zu tun ist (zum Beispiel OMT). Dass das nicht gut ist, ist Teil meiner Kritik, aber solange sich die viertelherzige Politikerriege heimlich bei jedem Gewitter hinter Draghi versteckt, ändert sich da nichts.

Nochmal: Bändigung der „Bestie Finanzkapital“ und der Versuch, unterschiedlich historisch entwickelte Volkswirtschaften (und das heißt Völker!) einigermaßen „sozialverträglich“ aneinander zu binden, sind die beiden existenziellen Aufgaben. Beide werden aktuell nicht einmal ernsthaft angefasst. Im Gegenteil: Das Finanzkapital wird durch die Privatisierungsdiktate der Troika weiter gefüttert, die vielen neuen Regulierungen der Finanzmärkte sind weitgehend Placebos, Augenwischerei, und die „sozialverträgliche“ Angleichung wird mit Füßen getreten. (Übrigens: Dieselben politischen Vertreter, die jetzt diese antisoziale, inhumane, demokratie-zerstörende Politik betreiben, wollten noch vor wenigen Jahren bei der Abfassung des „Lissabon-Vertrages“, der jüngsten Fassung der sogenannten Maastricht-Verträge, das „christliche Abendland“ in die Präambel bringen!)

(4) Ein weiter Selbstbetrug ist, dass die hunderte Milliarden Rettungsschirme nur Kredite sind, die die Länder, „wenn sie wieder wettbewerbsfähig sind“, dann zurückzahlen. Das glaubt kein ernstzunehmender Mensch. Der Löwenanteil dieser Kredite wird über kurz oder lang abzuschreiben sein, und der Skandal ist, dass die Politik dieses nicht diskutiert und einplant. Dabei wird uns das direkt auf die Füße fallen, denn z. B. 80% der griechischen Schulden lagern inzwischen in öffentlichen Einrichtungen (EZB, Rettungsfonds, Zentralbanken u.a.).

(5) Und schnell noch zwei weitere Verfälschungen: a) Nicht nur „wir Deutsche“ zahlen in die Rettungsfonds, sondern alle Euro-Mitglieder, also auch die Krisenstaaten. b) Wir retten zum Beispiel nicht „die Griechen“, wir retten vorwiegend die griechischen und auch die deutschen Banken (75 bis 80% des Geldes für Griechenland flossen bisher in die griechischen Banken und alle europäischen Banken, die sich an den griechischen Anleihen gütlich getan hatten). Herr Schäuble „ignoriert“ beharrlich, dass in der EU bzw. der Euro-Zone die Banken inzwischen hochgradig verquickt sind. Es gibt eigentlich keine griechische, italienische, irische Bankenkrise, sie finden nur jeweils dort statt – es gibt inzwischen ein total vernetztes europäisches „Finanzkonsortium“. Das wird Herr Schäuble spätestens merken, wenn irgendeine Großbank irgendwo in Europa gerettet werden muss.

(6) Damit wären wir bei der letzten Verblendung: Die eigentümlich rasch um sich greifende Umbenennung der Euro- in eine „Staatsschuldenkrise“, eine Orwell’sche Meisterleistung der Finanzwirtschaft, die sie, zusammen mit den anderen genannten Camouflagen, weitgehend aus der Schusslinie nimmt. Nochmal:

a) Die „Staatsschuldenkrise“ ist (mit Ausnahme Griechenlands) vor allem eine Folge der Finanzkatastrophe, also der renditehungrigen, leichtfertigen Finanzindustrie und der privatwirtschaftlichen(!) Immobilienblasen in Irland und Spanien (bei denen im Übrigen auch das europäische Finanzkartell kräftig mitmischte – „irische oder spanische Bankenkrise“?).

b) Die Krise bleibt in ihren verheerenden Folgen eine Krise des Währungssystems,

c) und sie ist weiterhin eine Krise der Einnahmenstrangulation der öffentlichen Einrichtungen,

d) bis hin zur bis heute nicht wirklich angegriffenen Steuerhinterziehung und dem Steuerbetrug in der EU. Allein dieser letzte Punkt würde, politisch resolut angepackt, die sog. Staatsschuldenkrise fast lautlos verschwinden lassen. Aber so, mit diesen Etikettenschwindeleien kann man natürlich das „Sparprogramm“ und die sogenannten Reformen (die im Übrigen bei uns so gut wie nie beschrieben und schon gar nicht hinterfragt werden) den südlichen Ökonomien und Demokratien brutal aufs Auge drücken (und später den östlichen – und am Ende uns!?). Das führt zu Kosten, die wir, vor allem aber die „Krisenvölker“ noch 20 bis 30 Jahre mitschleppen müssen, wenn Europa vorher nicht daran zerbricht.

(7) Schließlich noch ein Wort zum aktuellsten Etikettenschwindel: Zu den Siegesmeldungen der Troika 2013/14, man sei nun über den Berg, der Weg sei zwar opfervoll gewesen (für die anderen), aber letztlich erfolgreich! Belege: Spanien, Irland und Portugal verließen den Rettungsschirm, Portugal und Griechenland kriegten wieder Geld am Kapitalmarkt, es gibt hier und da erstmals minimale Überschüsse in den Haushalten (die Schuldenzinsen rausgerechnet). Im Falle Griechenlands wurde dies ja regelrecht wie eine Road-Show organisiert.

Frau Merkel reiste am Tage des Börsengangs nach Griechenland (das zweite Mal erst in der mehrjährigen, wesentlich durch sie mitbestimmten Katastrophenpolitik für das griechische Volk; bei der Nationalmannschaft ist sie öfter aufgetaucht). Zum einen: Die Haushalts- und Bilanzzahlen Griechenlands sind ziemlich sicher gefakt (mit Duldung der Troika, die hier endlich auch einmal etwas vorzeigen musste, außerdem musste Herr Samaras in Griechenland und Frau Merkel in Deutschland Positives zur Europa-Wahl vermelden).

Zum anderen: Die Staatsanleihenverkäufe Griechenlands waren zweifach abgesichert und garantiert durch die EU: also ein totsicherer Deal für jeden Börsenteilnehmer (0,25 % Zins für das Geld von der Zentralbank, 5% für die Griechenlandanleihen, da lacht das Konto!). Da ließ man also einen Schwerkranken mit einem unsichtbaren Stützkorsett vor der Kamera drei Schritte laufen, jubelte, und ließ ihn dann wieder in sein Elend sinken.

Der nächste Rettungsschirm für Griechenland mit wahrscheinlich 11 Milliarden Euro ist schon fast so gut wie genehmigt. Dann sind wir für Griechenland bei ca. 330 Milliarden Euro Gesamtschulden, davon 250 Milliarden aus den Rettungsschirmen der EU. Außerdem zeigt ein Blick auf die „geretteten“ Länder nichts Gutes: Irische und spanische Banken sind noch voll fauler Papiere, in Portugal erleben wir gerade das nächste Bankbeben (ebenso in Bulgarien), in allen Ländern steigen die Schulden und die Arbeitslosigkeit oszilliert um dramatische Werte, die Jugendarbeitslosigkeit sinkt, wenn überhaupt, nur minimal und weil jedes Jahr (!) über 50.000 (!) Jugendliche jeweils aus Irland, Spanien und Griechenland ihr Land verlassen, und zwar eher die gut ausgebildeten und aktiven jungen Bürger.

Ansonsten zeigt ein Blick, vor allem nach Griechenland, das Ausmaß des Elends, der Verzweiflung, der Zerstörung der öffentlichen Strukturen einschließlich des Gesundheitswesens, des ökonomischen Trümmerfeldes, der Hoffnungslosigkeit, was alle diese ökonomischen Zahlenspielereien als Zynismus erscheinen lassen! Wir müssen endlich offen darüber berichten und reden, was die Troika dort angerichtet hat! Selbst der IWF gestand 2013 ein, dass er das Ausmaß der griechischen Misere unterschätzt habe, vor allem aber die ökonomisch destruktiven Wirkungen ihrer Programme (und forderte gleichzeitig einen weiteren Schuldenschnitt für Griechenland)! Was für tolle Experten! Das hätte ihnen sogar ein Bachelor-Ökonom voraussagen können, was mit einer Wirtschaft passiert, die eh schon in der Rezession steckt und dann so einer Rosskur unterworfen wird.

Wir müssen dieser zynischen Propaganda entgegen treten, als sei jetzt das Ende der Talsohle erreicht. Man stelle sich vor: 250 Milliarden öffentliche Euro gehen nach Griechenland zur angeblichen Rettung, und die Arbeitslosigkeit und die Not ist deutlich größer als zu Beginn der Krise! Nach fünf Jahren hat man ein Trümmerfeld geschaffen. Was sind das für Politiker, und schlimmer, was für Ökonomen, die da jubeln und dieses Desaster, diese unglaubliche Diskrepanz zwischen eingesetztem Geld und Ergebnis schön reden!? Mindestens 50% der ESM-Ausgaben sind durch die Retter selbst verschuldet, und das ohne nennenswertes positives Ergebnis! Was sagt unsere selbst ernannte Schutzheilige der Steuerzahler, Frau Merkel, zu dieser Bilanz? „Entschuldigung – es war nur mal so eine Idee!“

Das alles gilt es öffentlich zu diskutieren. Ohne eine wachere Medienlandschaft wird das nicht gehen. Wir sehen, es wird ein schwieriger Kampf. Aber ohne ihn, ohne den Mut zu ihm geht es nicht! Die Ruhe bei uns liegt auch daran, dass wir leider immer noch glauben, das ganze Elend fände „da unten“ statt, uns ginge es ja noch gut. Ja! Noch! Und auch das verlangt ja schon eine rosarote Brille.

Michael Maier: Die Euro-Rettungspolitik, wie Sie jetzt praktiziert wird, kann Ihrer Meinung nach auch in einer Inflation enden. Nun habe wir aktuell das Gegenteil, zumindest, wenn man der EZB und dem IWF glaubt, nämlich deflationäre Tendenzen. Was wird eine Inflation in der Euro-Zone auslösen?

Reinhard Crusius: Ich befürchte, was im Prinzip jedenfalls unabweisbar ist, dass die riesigen Geldmengen, die die neoliberal gesteuerte Steuer- und Finanzpolitik und die Notenbanken in das System pumpen, Inflation erzeugen können, da die Möglichkeit, diese Geldsummen zu „sterilisieren“, also wieder einzusammeln und/oder die Leitzinsen zu erhöhen, sehr gering sind und außerordentlich gefahrenbelastet angesichts des hochfragilen, hochspekulativen Weltfinanzzirkus. Aber zur Inflation gehört, dass dieses Zaubergeld in nennenswertem Umfang den „Orbit“ der Finanzmärkte verlässt und in der sogenannten Realwirtschaft auftaucht, und dass wir dadurch wirklich eine konjunkturelle Überhitzung auf den Waren- und Arbeitsmärkten erleben.

Das ist angesichts der Wirtschaftslage in der Welt und in der EU kaum absehbar, zumal wir aktuell unter 80% Kapazitätsauslastung haben und eine weiterhin hohe Arbeitslosigkeit (die ja auch statistisch heruntermanipuliert wird). Was diese Geldschwemme wohl eher verursacht als Inflation, sind Blasen, die platzen, zum Beispiel am Immobilien- oder Aktienmarkt, zumal die Finanzindustrie ja weiterhin mit diesem „Falschgeld“, wie Sie es zu recht nennen, im alten Umfang zockt, unter anderem auf dem Markt der Schattenbanken (Derivate zum Beispiel). Der Finanzstabilitätsrat, von den G20-Staaten 2009 eingerichtet, schätzte das Finanzvolumen der Schattenbanken im November 2012 auf 67 Billionen US-Dollar (2002 waren es noch 26 Billionen).

Die BIZ beziffert die jährlich umlaufenden Derivate 2012 weltweit auf 648 Billionen Dollar; täglich werden in den Devisenbörsen der Welt 4 Billionen Dollar umgesetzt, während zur Abdeckung der internationalen Waren- und Dienstleistungsgeschäfte nur 80 bis 100 Milliarden Dollar nötig wären, also nur 1/40stel dieser Summe! PwC schätzt den Anteil „unsicherer“ Kredite in europäischen Banken auf 50%, also 1,2 Billionen von 2,4 Billionen Euro, davon allein 200 Milliarden Euro in spanischen Banken; europäische Banken sind in den aktuell schwierigen „Schwellenländern“ mit 3,4 Billionen US-Dollar involviert; auf ca. 300 Milliarden Euro wird der Finanzbedarf der Euro-Banken beim aktuellen Stress-Test geschätzt, 720 Milliarden bei den EU-Banken insgesamt, unter anderem in Ost-Europa (Berenberg-Bank). Dies sind nur einige aktuelle Zahlen zum Gefährdungspotential „Finanzwirtschaft“.

Ein neuer Finanzcrash ist also wahrscheinlich (der alte lebt ja auch immer noch, zum Beispiel im weiterhin gestörten Interbankenmarkt, vor allem in Südeuropa, was Draghi ja zu seiner „Dicken Bertha“ und „Bazooka“ verleitete). Da dann die Staaten keine Luft mehr haben, wie 2008/10 den Crash mit Billionen-Summen abzustützen und die dann einbrechende Wirtschaft mit Investitionsprogrammen, wird es in der Neuauflage direkt die normalen Arbeitnehmer und Sparer treffen. Die von Ihnen propagierte „Enteignung der Sparer und fleißigen Leute“ durch die Geldschwemme wird möglicherweise eher bzw. zusätzlich über diesen Weg der Katastrophe gehen, als über den aktuellen schleichenden Weg der „finanziellen Repression“ (oder, wie aktuell in Spanien, der Besteuerung aller Sparguthaben).

Aber im Prinzip haben Sie mit Ihren Befürchtungen recht: Es wird eine Plünderung, und zwar wissentlich und eiskalt eine Plünderung der Normalverdiener und der Normalsparer geben. Die Politik hat bisher nichts Wirkungsvolles getan, diesmal die Opfer des Brandes nicht in der Asche liegen zu lassen. Alles andere ist kalmierende Rhetorik. Das bestätigen die wenigen soliden und neutralen Beobachter des Finanzmarktes. Aber, Herr Maier, ob es so oder so oder so und so kommt, ist dann letztlich für die „Enteigneten“ egal.

Nicht Draghi, die Politik ist viel eher gefragt. Die ist aber bei uns aktuell eher mit dem Gaukel-Spiel eines „Haushalts mit der schwarzen Null“ beschäftigt, was leider auch zu wenige Medien inhaltlich und in den Zahlen hinterfragen. Ich befürchte, auch angesichts der „Schulden-Bremse“ werden wir in Europa in den nächsten Jahren einen Wettlauf der schönsten Statistik-Lügen erleben! Haushaltsehrlichkeit ist endlich einzufordern. Spanien zum Beispiel hat mit Billigung der EZB seine Bad Bank „Sareb“ als Privatbank getarnt, die 50 Milliarden Risiko bleiben aber weiterhin beim Steuerzahler. Aber so erscheinen diese 50 Milliarden erst einmal nicht als Schulden im spanischen Haushalt, was sonst die spanische Staatsschuldenquote von 97% auf ca. 106% drücken würde. Deutschland führt dagegen seine zwei Bad Banks (der WestLB und der HRE) als staatlich Bad Banks. Sie tauchen also in unserer Schulden-Bilanz auf. So und ähnlich wird es bald überall gehen.

Im übrigen halte ich auch die von Draghi beschworene Deflationsgefahr eher für eine Blendparole, um seine aus anderen Gründen (zum Beispiel Bankenschutz, Staatsfinanzierung) gefahrene easy-money-Politik fortsetzen zu können, die allerdings auch einige gute Begründungen hat, zum Beispiel Ankurbelung der Wirtschaft in den Krisenländern und generell in Europa, wenn das wohl auch so nicht funktionieren wird. Dafür haben wir dann die von Ihnen ausführlich beschriebenen „Kollateralschäden“ für die Normalverdiener und Normalsparer. Sogar die eher konservative BIZ in Basel warnte ja gerade wieder deutlich (wie übrigens schon seit fast zwei Jahren) vor den Folgen der Geldschwemme und der Niedrigzinspolitik. Sie sehen, die Probleme sind verzwickt und es gibt zwar eine durchgängige neoliberale politische und wissenschaftlich-ökonomische Denkausrichtung, aber die Glaubensjünger sind sich im einzelnen nicht immer einig. Meines Erachtens ist der BIZ hier zuzustimmen.

Michael Maier: Welche Rolle sollte die EZB spielen? Sie ist ja heute ein Vehikel der Regierungen der Banken geworden. Von der alten Idee der Bundesbank sind wir weiter entfernt denn je …

Reinhard Crusius: Die zweifelhafte EZB-Politik sprach ich ja schon an. Die EZB kann allerdings nicht genau so agieren, wie die alte Deutsche Bundesbank, das ergibt sich schon formal aus dem Konstrukt „Währungsunion“. Es ergibt sich, wie ich schilderte, aber auch als politische Notwendigkeit, da die Politik die Brandherde der Euro-Zone aus Unfähigkeit, zumindest aus Untätigkeit der EZB überlässt. Generell kritisch ist natürlich der von Ihnen ebenfalls kritisierte (und belegte), allen solchen zentralen Hyperinstitutionen innewohnende Machtexpansionstrieb (den wir ja auch bei der EU-Kommission sehen). Und dafür ist Draghi natürlich der geborene Player. Andererseits: Ich halte zum Beispiel eine zentrale europäische Bankenkontrolle für unerlässlich, aber sie bei der EZB anzusiedeln, ist schon sträflich.

Da gab es ja sehr gute Alternativvorschläge, zum Beispiel vom Deutschen Sachverständigenrat. Solche organisatorischen Entscheidungen sind ja unglaublich folgenreich. Wir werden sehen, was der aktuelle Stresstest bringen wird, auch in Bezug auf diese Frage. Die weiter auch auf Beschluss der EZB passierende „bevorzugte Behandlung“ der Staatsanleihen ist ja schon ein Dämpfer für die Wirksamkeit dieser Tests. Vor allem aber die Herausnahme der Schattenbanken macht das ganze Konstrukt unglaubwürdig. Weiter: Die Regelung zur Abwicklung bzw. Restrukturierung von maroden Banken (ebenfalls leider unter dem Dach der EZB) ist so löchrig wie ein Schweizer Käse und mit einem Fond von 55 Milliarden Euro völlig unterfinanziert. Da können die Politiker sich noch so brüsten, was sie da mal wieder Gutes im Interesse des Steuerzahlers reguliert haben. Faktisch bleibt der Steuerzahler im Ernstfall der Angemeierte. Sogar die Deutsche Monopolkommission kritisierte dieses Rettungskonzept als völlig unzulänglich. Was dagegen entstehen wird, ist ein neuer Turmbau zu Babel in Frankfurt und ein neuer Verwaltungskoloss.

Statt die Banken zu trennen (d.h. zu zerschlagen!) in Geschäfts- und Investmentbanken, statt die Schattenbanken zu reduzieren und den Rest unter dasselbe Regime zu stellen wie die sonstigen Banken, statt die Eigenkapital- und Liquiditätsauflagen drastisch zu erhöhen (sieben Prozent ab 2018 sind doch fast ein Witz), statt viele Finanzgeschäfte einzuschränken oder zu verbieten (wie teilweise die sog. Geschlossenen Fonds, wie die berüchtigten Geierfonds und ähnliche Produkte), statt die Bilanzvorschriften strikter zu fassen, die Verbindung Banken/Staaten auszudünnen, die Kapitalerhöhung von Banken nur noch außerhalb des Bankensektors zu erlauben, um die gefährliche Interbankenverquickung aufzulösen (was das Gefährdungspotential und damit die Kontrollnotwendigkeiten drastisch verringern würde), baut man eine riesige Kontrollbürokratie auf. Statt also zu verhindern, dass die Kinder mit Feuer spielen, installiert man umfangreich Lösch- und Warnanlagen. Damit gibt man auch Draghis EZB noch mehr Macht. (Zum Gefährdungspotential der Banken habe ich im vorigen Punkt „Inflation“ ja schon einige Zahlen genannt.)

Das kann aber nicht der Sinn einer Zentralbank sein. Sie, Herr Maier, plädieren für die Abschaffung, ich plädiere für eine radikale Reduzierung des Aktionsfeldes, zum Beispiel die Ausgliederung der Bankenkontrolle und für die Auflösung des Black-Box-Charakters der EZB, für eine klarere Aufgabenstellung in den Verträgen (Rechtssicherheit). Das setzt aber voraus, dass im Vor- und Umfeld politisch mehr getan wird.

Michael Maier: Das massive Gelddrucken hat, wie Sie in Ihrem Buch eindrucksvoll belegen, zu einer Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich geführt. Ist eine gerechte Verteilung ohne Revolution überhaupt möglich?

Reinhard Crusius: Die neoliberal organisierte Bereicherungsstrategie für das Geldvermögen bzw. die Kapitaleinkommen (bei gleichzeitiger Belastung der Arbeitseinkommen, zum Beispiel indirekt durch Mehrwertsteuererhöhungen) hat direkt, die organisierte Geldschwemme, wie Sie es gut beschreiben, indirekt zu einer weltweit, vor allem aber auch in Deutschland sich immer stärker spreizenden Einkommens- und Vermögenslage geführt mit einer geradezu abstrusen Konzentration von Billionenvermögen in ganz wenigen Händen. Das ist eine Zeitbombe für die Stabilität demokratischer Gesellschaften, auch wegen der damit verbunden undemokratischen Machtzusammenballungen (siehe die ausführlich von Ihnen zitierten Untersuchungen aus der ETH Zürich). Ich warte auf ein Wort von Merkel und Schäuble zu diesem Skandal. Noch brisanter wird das im Zusammenhang mit der summenmäßig ungeheuerlichen Steuerhinterziehung. Auch da hat Merkel in Brüssel eher gebremst – ich belege das in meinem Buch. Sogar ein führendes Sprachrohr des Neoliberalismus, das „Weltwirtschaftsforum“, hat inzwischen die Gefahr dieser Schieflage erkannt. Politisch kluge Kapitalisten sind den Politikern in der Regel immer ein Stück voraus. Es ist aber doch geradezu beschämend, dass unsereiner nun fast auf die Klugheit einiger Kapitalfraktionen hoffen muss, damit unsere Politik dieses brennende Problem endlich anpackt.

Im Übrigen haben wir das Schuldenproblem – auch so ein Meisterstück politischer Gehirnwäsche – völlig aufs „Sparen“ fixiert. Dass zum Beispiel Staatshaushalte eine Saldengröße sind, die auch die Seite „Einnahmen“ haben, ist fast in Vergessenheit geraten. Wer politisch Steuererhöhungen jeder Art so verteufelt wie die Phalanx der neoliberalen Politik und großer Teile der ökonomischen Wissenschaft, wird aber weder das Schuldenproblem der Krisenländer, noch unser Schuldenproblem, schon gar nicht das Problem Arm/Reich lösen, noch den inzwischen institutionalisierten Rollgriff in die Taschen der Steuerzahler zur Rettung des Finanzsystems (ESM) in Zukunft abschaffen.

Und zu einer weiteren Verdrehung zur sog. „Staatsschuldenkrise“ gehört, dass alleine eine Verhinderung der Steuerflucht/Steuerhinterziehung das Schuldenproblem in der EU bzw. der EURO-Zone fast im Alleingang lösen würde. Neben Thomas Piketty (aber auch zum Beispiel dem Vermögensbericht der EZB von 2013 oder entsprechende Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung) zur Frage der dramatisch auseinanderdriftenden Einkommens- und Vermögensverteilung gibt es jetzt eine fundierte Untersuchung zum Thema Steuerhinterziehung/Schwarzgeld von Gabriel Zucman (erscheint demnächst auf Deutsch bei Suhrkamp in Berlin, „Steueroasen“). Hier seine Zahlen: Steuereinlagerungen in Steueroasen weltweit: 5800 Milliarden Euro, also 5,8 Billionen Euro, davon deklariert 1100 Milliarden Euro, also schwarz 4700 Milliarden Euro; davon aus der Bundesrepublik 360 Milliarden Euro. (Vergleich: der Bundeshaushalt 2014 beträgt ca. 300 Milliarden Euro.) Das kleine Griechenland bringt es sogar auf 120 Milliarden Euro! In der Schweiz liegen ca. 1000 Milliarden Euro nur aus Europa, davon 200 Milliarden aus der BRD. Einnahmeverlust für die Bundesrepublik: 130 Milliarden Euro („Den Milliarden auf der Spur“, Süddeutsche Zeitung, 14.07.2014). Die OECD schätzte das weltweit in Steueroasen von reichen Anlegern und Institutionen gebunkerte Geld 2013 sogar auf 21 Billionen US-Dollar.

Angesichts dieser Summe ist das Umdefinieren der Euro-Krise zur Staatsschuldenkrise schlicht ein Akt ideologischer Verlogenheit. (P.S.: Auch dieses Geld, Herr Maier, ist ja ein Stück Enteignung der normalen Steuerzahler und Sparer, da es in der Saldenbetrachtung immer heißt: Was einer zu wenig bezahlt, müssen andere mehr bezahlen. Auch dies ist also ein Teil der von Ihnen geschilderten „Plünderung der Welt“). Es ist schon ein Skandal, wie sich unsere politische Führung dazu stellt, während sie gleichzeitig den Südländern Strafpredigten zur soliden Finanzpolitik hält und den Bewohnern dort fast unsägliche Belastungen zumutet (die griechischen Reeder zahlen immer noch keine Steuern). Die Frage der Revolution ist in diesem Zusammenhang eine sehr abstrakte. Die Völker haben eine hohe Duldungsfähigkeit; je mehr „Austerität“, je mehr Empörung, aber auch je mehr Apathie und Auffressen der Energie für den tagtäglichen Überlebenskampf. Sie können das in den Krisenländern gut beobachten. Eher sehe ich in der globalisierten Strategie der Umverteilung Anlässe zur Revolte. Das System, mit dem wir global funktionieren, fährt uns vor die Wand, sozial, ökonomisch, ökologisch. Aber was wird das Ergebnis sein? Lassen Sie uns eher hier und jetzt versuchen, das Ruder zu verstellen. Diese Hoffnung ist ja letztlich auch der Anlass und der Sinn Ihres Buches.

Michael Maier: Kann der Staat wirklich für mehre Gerechtigkeit sorgen? Wir stellen doch eher fest, dass Umverteilung bevorzugt in einer Form der Klientel-Politik erfolgt, bei der Lobbyisten, Partei-Organisationen und Eigeninteressen bestimmen, wer am Ende profitiert?

Reinhard Crusius: Natürlich kann er das, denn diese Umverteilung der Einkommen und Vermögen ist politisch gemacht, der Staat hat mit Finanzgesetzen, Steuergesetzen, Handelsabkommen, Wettbewerbsregeln das so organisiert in den letzten 30 Jahren, also kann er das (theoretisch) auch wieder anders machen. Die Frage ist, ob er dazu den Willen oder noch die Kraft hat, denn inzwischen – das untersuchen und belegen Sie auch in Ihrem Buch – schreibt doch längst die Finanzwirtschaft, das globale Kartell der vor allem finanzwirtschaftlichen Multis, die Partituren. Die Staaten und verantwortungslose überstaatliche Gremien haben sich Stück für Stück selbst entmachtet – und mit TTIP und TISA steht der nächste gewaltige Akt der staatlichen/politischen Selbstkastration vor der Tür. Der von Ihnen zitierte Machtwille der politischen Eliten weicht augenscheinlich zunehmend einem zwar immer machtloseren, aber dafür gut vergoldeten Drang zu den Fleischtöpfen, zum Beispiel in der EU.

Da zeigt sich aber auch, dass diese Dunkelmänner an der Spitze der EU – anders kann ich sie im Zusammenhang mit TTIP und TISA nicht bezeichnen – nicht machen können, was sie wollen. Es gibt inzwischen Widerstand, es gibt Wiki-Leaks, Offshore-Leaks, es gibt Attac, Transparency und andere NGO’s, die das durchkreuzen, und es gibt zum Beispiel Internetportale wie das Ihre, Herr Maier, oder die Nach-Denk-Seiten, es gibt Bereiche der öffentlich-rechtlichen Medien, die das neoliberale Ideologiegebäude hier und da einreißen, es gibt eine zunehmende Anzahl hilfreicher, ja aufregender Bücher bzw. Dokumentationen von Journalisten und Wissenschaftlern, es gibt Medien, die langsam wach werden.

Hier ist wichtig zu wissen, dass leider die Medien in den Krisenländern fast ausschließlich in den Händen derselben Oligarchen sind, die auch die Wirtschaft, die Finanzwirtschaft und weitgehend auch die Politik dort beherrschen – leider! Das alles hat im Übrigen mit Demokratie nur noch die Hülle gemeinsam, und wir sollten deutlicher ansprechen, dass aktuelle Tendenzen in Europa leise, aber eindeutig von der „demokratischen Wertegemeinschaft EU“ Abstand nehmen. Bezeichnenderweise ist die letzte vernagelte Bastion bei uns die „wissenschaftliche“ Ökonomie. Die Politiker sind entweder strategisch eingebunden in diese weltweite Auseinandersetzung zwischen monopolartiger (Finanz-)Wirtschaft und Staat/Öffentlichkeit/Politik, es gibt aber auch die Masse der uninformierten, nur neoliberal begläubten Mitläufer in der EU-Politik, zum Beispiel bei unseren Mandatsträgern. Aber sie alle, wie Sie ja richtig bemerken, wollen wieder gewählt werden, an den zunehmend lukrativen Hebeln oder eher Töpfen der Macht bleiben. Das ist sicher die Chance, Bewegung in die Sache zu bringen.

Sie haben recht mit der Zustandsbeschreibung in ihrer Frage (Klientelpolitik/unerträglicher Lobbyismus/zunehmende Eigeninteressen der Gewählten/abnehmende Durchsicht/steigende Korruption). Aber das programmiert auch die Gegenstrategie: mehr Öffentlichkeit und Transparenz; Kampf gegen jede Art von Entstaatlichung, von Privatisierung, von Beraubung des Staatsbürgers zum Beispiel durch PPP; Kampf gegen eine neoliberale Strategie, die immer auf eins hinausläuft: Entmachtung des öffentlichen Sektors, Dominanz des privatwirtschaftlichen Renditeprinzips in allen gesellschaftlichen und sozialen Bereichen, Umleitung des erarbeiteten Volksvermögens in die Kassen der Großkonzerne, Befreiung des Profitstrebens von jeder Art von Sozialbindung und Verbraucherschutz, am liebsten auch von jeder Art von Besteuerung, Betrug der normalen Arbeitnehmer und Steuerzahler, der Hilfsempfänger und Rentner um die Teilnahme an der gestiegenen Produktivität, also dem erarbeiteten „Mehrwert“, Ausblendung jeder Art persönlicher Verantwortung im gesellschaftlichen/wirtschaftlichen Leben. (Auf das letztere machen Sie, ganz wichtig, deutlich aufmerksam!) Ich hoffe zum Beispiel, dass zunehmend auch die Mittelständler aufwachen und sich nicht mehr so blind vor den Karren der Großwirtschaft spannen lassen (wie die EU-Politik sie weitgehend fördert), die immer mehr Konzentration herstellt und immer weniger Markt und damit für den Mittelstand immer weniger Arbeits- und Gewinnmöglichkeiten. Die Handwerkskammern zum Beispiel müssten, wenn sie die Interessen ihrer Klientel wirklich vertreten würden, an vorderster Front stehen im Kampf gegen TTIP und TISA. Also nochmal zu Ihrer Frage, ob der Staat für mehr Gerechtigkeit sorgen kann: Ja, der Staat könnte, aber wir müssen ihn zwingen! Das wird mühsam, aber der Erhalt von Demokratie, Freiheit und sozialer Solidarität lohnt es.

Lesen Sie hier den zweiten Teil des Interviews:

„Europa gehört den Bürgern, nicht den Eliten“

Der Ökonom Reinhard Crusius glaubt, dass Europa nur vor einer Katastrophe bewahrt werden kann, wenn die Bürger selbst das Heft in die Hand nehmen. Er plädiert dafür, das bequeme Wegducken und Lamentieren zu beenden und die Politiker zu zwingen, transparent und verantwortlich zu handeln. Europa sei, so Crusius, ein großartiger Kontinent - zu wertvoll, um ihn den Finanz-Eliten zu überlassen, die die Menschen auf "Lohnstückkosten" reduzieren.

***

Reinhard Crusius, geboren 1941 in Gütersloh; viele Jahre Arbeit als Schriftsetzer; Studium über Zweiten Bildungsweg in Hamburg; Diplom-Volkswirt, Dr. rer. pol.; Habilitation an der TU Berlin. Diverse Aufsätze, Rundfunkbeiträge und Veröffentlichungen.

Das Buch kann beim Tectum-Verlag direkt bestellt werden (hier).

Außerdem ist das Buch auf Amazon erhältlich, und natürlich im guten bewährten Buchhandel.

 

 

Michael Maier

Die Plünderung der Welt

Wie die Finanz-Eliten unsere Enteignung planen 288 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag 19,99 € (D), 20,60 € (A)

Auch als E-Book erhältlich

ISBN 978-3-89879-853-2

FinanzBuch Verlag, München 2014

Das Buch ist überall im Buchhandel erhältlich. Beim Verlag kann es hier bestellt werden.

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