Finanzen

Die ersten Blasen im US-Finanzsystem platzen

Lesezeit: 12 min
10.02.2018 23:16
Der Flash-Crash an den Aktienmärkten der letzten Woche ist ein erstes Zeichen dafür, dass die globale Blase platzen könnte.
Die ersten Blasen im US-Finanzsystem platzen

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In den 2000er Jahren propagierten und diskutierten führende amerikanische Ökonomen, etwa der spätere Notenbankpräsident Ben Bernanke, ein neues Phänomen – die ‚Great Moderation‘, eine neue Ära frei von größeren Konjunktur- und Wachstumsschwankungen, mit drastisch reduzierter zyklischer Volatilität und vor allem mit anhaltend niedrigen Inflationsraten. Das Phänomen wurde anscheinend in den damals publizierten Wirtschaftszahlen untermauert. Als Erklärungen wurden in der Diskussion angeführt:

  • Die Deregulierung des Arbeitsmarktes
  • Sehr gute Führung der Geldpolitik
  • Andere Faktoren wie Bedeutungsverlust des Lagerzyklus durch die just-in-time Produktion

Diese Lobpreisung gerade auch der Fed-Notenbankpolitik durch viele Experten und Finanzanalysten trug markant zum sorg- und ruchlosen Boom bis 2007 bei. Die effektive Inflation lag in den 2000er Jahren viel höher als in den Indikatoren der Notenbanken ausgewiesen. Die Notenbank hatte 2000 vom Konsumentenpreisindex (CPI) zum Konsumdeflator als Inflationsmaßstab gewechselt. Dieser liegt trendmäßig rund ein halbes Prozent pro Jahr niedriger. Darüber hinaus bezog sich der neue Indikator auf die Kernrate des Konsumdeflators (PCE), d.h. ohne Energie und Nahrungsmittel. Just diese beiden Komponenten stiegen bis zum Sommer 2008 explosionsartig an – eine Folge unter anderem zu niedriger Zinsen und des damit verbundenen jahrelangen Dollarzerfalls seit 2003. Schließlich war auch die Messung anderer gewichtiger Komponenten, insbesondere der Wohn- und Gesundheitskosten, höchst zweifelhaft. Sie ist bis heute nicht korrigiert. Die Fed hatte dadurch die Zinsen viel zu lang viel zu niedrig belassen. Zusammen mit der Deregulierung des Finanzsektors hatte sie einen spekulativen Boom im Wohnungsbau und im Immobilienmarkt erzeugt, der 2008 platzte. Verborgen hatte sich eine Verschuldungslawine mit großer Hebelwirkung aufgebaut.

Die Perzeption einer ‚Goldilocks‘-Ökonomie schwappte damals auch auf Europa und die BRICs über und begünstigte einen ähnlichen Boom. Die EZB, die Bank of England und andere Zentralbanken mussten die Zinsen ähnlich tief halten, was in den Peripherieländern der Eurozone und im UK einen spekulativen Bau- und Immobilienboom analog demjenigen der USA bescherte. Mit der Großen Finanzkrise von 2008/09 und der Eurokrise, dem heftigsten Wirtschaftseinbruch seit den 1930er Jahren, verschwand das Thema ‚Great Moderation’ in der Versenkung. Manche Protagonisten erinnern sich seither nur ungern an ihre euphorischen Aussagen von damals.

Heute ist das Thema zurück – wenn auch weniger in akademischen Zirkeln als in der Politik und an den Finanzmärkten.

In der amerikanischen Finanzpolitik haben die republikanische Kongressmehrheit und Präsident Trump ein Steuerpaket geschnürt, welches eine Eskalation des strukturellen Budgetdefizits und einen rapiden weiteren Anstieg der Staatsverschuldung enthält. Dabei beruht das Ganze noch auf Annahmen des Budget-Büros des Kongresses (CBO) exakt wie in der ‚Great Moderation’: Kein signifikanter Konjunkturrückschlag bis 2027 und Absenz von Inflation. Treffen diese Annahmen nicht zu, wird es ein finanzpolitisches Desaster geben. Zudem sind in den Projektionen des CBO die mehr verdeckten Defizitelemente etwa bezüglich Sozialversicherungen und öffentlichen Pensionskassen gar nicht enthalten.

Die Fiskalexpansion wird noch verstärkt durch den Budgetkompromiss für die nächsten zwei Jahre, ein Ergebnis von überparteilichem Konsens im Kongress und Präsident Trump. Dabei werden die Militärausgaben sowie Zivilausgaben deutlich erhöht, ohne die geringste Gegenfinanzierung. Das projektierte Budgetdefizit für die nächsten Jahre wird wieder auf deutlich über 1000 Milliarden ansteigen und damit rund 6 Prozent des BIP erreichen – wenn alles gut geht. Denn die Administration ist für die nächsten 13 Monate von allen Zwängen befreit, sie kann praktisch beliebig die Verschuldung erhöhen. Die Schuldenobergrenze ist für diesen Zeitraum aufgehoben. Und selbst auf zwei Jahre hinaus hat sie großen Spielraum. Weitere kostspielige Budgets können bewilligt werden, ohne dass die langfristige Budget- und Verschuldungssitutuation in Betracht gezogen werden muss (Sequester).

Die finanzpolitischen Impulse gehen von einer Ausgabenexpansion im Militärbereich sowie von den Steuersenkungen für Unternehmen und wohlhabende Haushalte aus. Das sind ausgerechnet diejenigen Sektoren der Wirtschaft, welche in den vergangenen 17 Jahren profitiert haben. In einem fortgeschrittenen Stadium des Zyklus und mit der Perspektive hoher struktureller Budgetdefizite wären dort substantielle Budgetkürzungen bzw. Steuererhöhungen wohl eher angemessen. Besorgniserregend ist die Tatsache, dass die massive Ausdehnung der Rüstungsausgaben mit einer politischen Agenda verbunden ist, welche zukünftige Konflikte und weitere Rüstungsausgaben geradezu vorzeichnet. Die Suprematie gegenüber Russland und China herzustellen und darüber hinaus ein praktisch weltweites Mandat für ‚regime change’ anzustreben, repräsentieren einen Bruch der Wahlversprechen von Trump. Sie sind angesichts der Erfahrungen mit dem ‚Kampf gegen den Terror’ in den letzten 15 Jahren eine Garantie für mehr Kriege, sinnlose Opfer und rasant steigende, bisher nicht prognostizierte Kosten.

Das alles soll mit einer höheren Trendwachstumsrate des BIP problemlos finanziert werden können. Zahlen von bis zu 4 Prozent werden da herumgereicht – eine Phantasienummer. Der Arbeitsmarkt ist gemessen an konventionellen Indikatoren ausgetrocknet. Das Wirtschaftswachstum könnte nur vom Produktivitätswachstum kommen. Es ist keinesfalls einzusehen, weshalb das so sein sollte.

Fehler der bisherigen Geldpolitik

Die Geldpolitik der vergangenen 9 Jahre hat nämlich denkbar ungünstige Voraussetzungen dafür geschaffen. Nullzinsen und die erste Phase quantitativer Lockerung konnten 2008/09 einen Absturz der Wirtschaft verhindern und vermochten den Finanzsektor zu stabilisieren. Das war richtig und durchaus mutig vom damaligen Fed Präsidenten Bernanke. Er konnte sich auf langjährige eigene Forschungsergebnisse für die Große Depression der 1930er Jahre und für die Situation einer Schuldendeflation abstützen.

Doch nachher kamen weitere Phasen quantitativer Lockerung sowie lange Jahre der Nullzinsen. Begründet wurde dies damit, über einen Vermögenseffekt die Konjunktur anzukurbeln. Der Vermögenseffekt ist wirklich eingetreten, und wie. In diesem Aufschwung ist die Blase nicht mehr auf Teilmärkte beschränkt. Sie betrifft alle Aktivklassen und ist global. Staatsanleihen, Aktien, Kreditaufschläge, Immobilienpreise, Kunst, Bitcoin, Fußballer-Saläre und -Transfersummen, alles ist weit jenseits von Gut und Böse bewertet und stellt eine noch nie dagewesene Verzerrung des normalen Preisgefüges dar.

Was Bernanke, der den Vermögenseffekt in einigen wissenschaftlichen Artikeln thematisiert hatte, sowie andere Ökonomen und Vordenker dieser Strategie leider unterlassen hatten, ist neben dem Vermögens- auch einen Schuldeneffekt einzubeziehen. Die Unternehmen verwendeten die Kreditbonanza, um Dividenden zu erhöhen, ständig wiederkehrende Aktienrückkaufprogramme zu installieren sowie für kostspielige Übernahmen. Sie haben damit die Unternehmensverschuldung erheblich erhöht, das Eigenkapital reduziert und die finanzielle Hebelwirkung in der Bilanz verstärkt. Was sie nicht gemacht haben, war substantiell zu investieren. Hier hat der Nachfrageeffekt keineswegs wie unterstellt gewirkt.

Im vollen Aufschwung sind absolute Schwergewichte, nicht nur Start-ups oder Wachstumsfirmen mit völlig neuen Geschäftsmodellen, durch Jahrzehnte des ‚financial engineering’ sowie endloser Übernahmen und Restrukturierungen ausgehöhlt. Das Musterbeispiel dafür ist ‚General Electric’, der Industriegigant Amerikas vergangener Jahrzehnte schlechthin. Sein CEO und Chairman hat die Firma über zwei Jahrzehnte so ruiniert, dass eine Zerschlagung nicht ausgeschlossen scheint. Dass daneben durch die zu expansive Geldpolitik Unternehmen und Geschäftsmodelle finanziert werden konnten, welche überhaupt nicht profitabel sind und je sein werden, sei quasi nebenher erwähnt.

Auch andere Nachfrageeffekte wurden nicht so genau analysiert. Es wurde effektiv mit Rückgriff auf einige kurz- oder mittelfristige Partialeffekte eine langfristige Geldpolitik mit verzerrter oder sogar schiefer Optik betrieben. Genau wie in der ‚Great Moderation’ wurden die versteckte Inflation nicht erkannt und der enorme Aufbau von finanzieller Hebelwirkung einfach ignoriert. Bernanke’s Analyse hierzu war zu kurz gegriffen.

Zwei Effekte sollen hervorgehoben werden. Der steile Anstieg der Immobilienpreise deutlich über die Niveaus von 2008 lässt zwar die Vermögen der bisherigen Besitzer steigen. Sie erschwert aber den Immobilien-Erwerb für viele jüngere Haushalte und damit eben auch die Neubautätigkeit. Deshalb die enttäuschende Erholung der Verkäufe neugebauter Wohnungen (‚new home sales’) und der Baubewilligungen (‚building permits’) respektive Baustarts (‚housing starts’).

Die effektive Teuerung liegt viel höher als sie der vom Fed penibel verfolgte Konsumdeflator anzeigt. Zwar wurde 2011 ein Fehler der Inflationsmessung beseitigt. Die Fed betrachtet seither den Deflator des privaten Konsums inklusive Energie- und Nahrungsmittelpreise als Indikator. Doch vor allem Wohn- und Gesundheitskosten bleiben drastisch unterschätzt. Effektiv hat über die letzten Jahrzehnte ein Realeinkommens-Abbau stattgefunden. Dieser äußert sich darin, dass rund 50 Prozent der Haushalte praktisch kein Geld auf der Seite habe und unerwartete Ausgaben kaum mehr verkraften können. Ein kreditfinanzierter Lebensstil über ‚auto loans’, Kreditkartenschulden und so weiter kommt hinzu. Auch der private Konsum ist also durchaus auf Sand und nicht auf Vermögen, sondern auf Schulden der Haushalte gebaut.

Die überschwängliche Erwartung hat bis vor zwei Wochen die Finanzmärkte so beflügelt, dass je nach Indikator Bewertungen für die Aktienmärkte auftraten, welche zuletzt 1929, 2000 oder 2007 gesehen worden sind. Die Renditen am Obligationenmarkt sind wegen der vergangen und aktuellen Nullzinspolitik und Kaufprogramme der Notenbanken im globalen Maßstab so niedrig, dass sie keine Inflationsprämie enthalten. Schließlich gibt es keine adäquaten Risikoprämien in Anleihen mit reduzierter Kreditqualität mehr. Fairerweise muss man attestieren, dass heute viele führende US-Ökonomen Reservationen gegenüber der Trump’schen Finanzpolitik, ihren Annahmen und gegenüber dem Stand der Finanzmärkte geäußert haben – im Gegensatz zu den meisten Finanzmarktakteuren. Allerdings erstaunlich gelassen zeigt sich die Mehrheit der Ökonomen bis heute gegenüber der Führung der Geldpolitik während des vergangenen Jahrzehnts. „Nichts gelernt“, würde man etwas provokativ formulieren können.

Die amerikanische Notenbank hat seit Ende 2016 einen Kurs gradueller geldpolitischer Abkehr von der ultraexpansiven Politik der vergangenen Jahre angekündigt und erste Schritte in die Praxis umgesetzt. Im Voraus angekündigte Zinsschritte bei der Funds Rate in kleinen Schritten bis 2020 und die Reduktion des aufgeblähten Obligationen-Portfolios in homöopathischen Dosen über einen viel längeren Zeitraum, ebenfalls detailliert kommuniziert, sollen den Extra-Stimulus abbauen.

Eine geldpolitische Straffung kann man dies jedoch nicht nennen, wenn der Dollar kollabiert, die Aktien- und Obligationenmärkte in irrationalen Überschwang mit Phantasie-Bewertungen und offenem und verstecktem Aufbau von ‚Leverage’ übergehen, Volatilität und Kreditrisikoprämien komprimiert werden, die Häuserpreise durchs Dach gehen und die vorlaufenden Konjunkturindikatoren eine kommende Überhitzung anzeigen. Mit anderen Worten ist die Notenbank viel zu gemächlich in ihrem Kurs der geldpolitischen Anpassung. Es ist aber ein Danaergeschenk an den Präsidenten.

Grenzen der Geldpolitik: Kein Spielraum für finanzpolitische Wunschkonzerte

Die Geldpolitik akkommodiert nämlich eine absolut verantwortungslose superexpansive Finanzpolitik des Schuldenkönigs mit noch mehr sinnlosen Anreizen – mehr kreditfinanzierte Firmenübernahmen, erhöhte Dividendenzahlungen, erhöhte Aktienrückkäufe und Verschuldung der Unternehmen. In die Realwirtschaft wird vielleicht kurz- oder mittelfristig zusätzlich investiert, aber sicher nicht langfristig. Vor allem aber werden die USA auch unter günstigen Annahmen jährlich ein Defizit von weit jenseits von sechs Prozent des BIP einfahren, dies nach einem 9-jährigen Konjunkturaufschwung und unter völlig unrealistischen Annahmen.

Die schiefe Kombination von Geld- und Finanzpolitik kann aber nicht allein dem Fed angelastet werden. Eine bedeutende Mitschuld tragen die beiden vorangegangenen Präsidenten. Die Bush-Administration mit dem enorm kostspieligen ‚Krieg gegen den Terror’, kombiniert mit den Steuersenkungen vor allem für die Wohlhabenden von 2001). Und die Obama-Administration einerseits mit der Fortsetzung des ‚Kriegs gegen den Terror’, etwas geschickter und sympathischer verkauft. Und andrerseits mit einem kolossalen Fehler, die zeitlich limitierten Steuersenkungen permanent zu machen. Die Obama-Administration hatte es vor den Kongresswahlen 2010 verpasst, die Schuldenobergrenze rechtzeitig anzupassen. Sie war von da an den Blockade-Manövern der Republikaner in der Finanzpolitik ausgeliefert. So hatte sie kein Geld, um ein von ihr angepeiltes Infrastruktur-Programm anzustoßen.

Was also das eine grundlegende Problem der amerikanischen Wirtschaftspolitik darstellt, ist der Konflikt zwischen Geld- und Finanzpolitik in einer Situation einer wenig produktiven Expansion mit hohen und rasch steigenden Budgetdefiziten, eskalierender privater und öffentlicher Verschuldung. Die Geldpolitik will, nach einer zu langen Phase zu niedriger Zinsen und quantitativer Lockerung, eine zudem noch Jahre im Voraus angekündigte gemächliche Normalisierung.

Der eingeschlagene Kurs der Finanzpolitik ist angesichts dessen verantwortungslos. Sie implementiert zum falschen Zeitpunkt verschiedene miserabel konzipierte Impulse, welche für jeden einigermaßen rationalen Zeitgenossen bei Verstand in einen Budget-Crash und eine Verschuldungskrise münden werden. Darum der Anstieg der Renditen bei den längeren Laufzeiten, weil Investoren nicht bereit sind, für diese Misswirtschaft und die Konjunkturüberhitzung langfristig Geld zu leihen. Ausländische institutionelle Investoren haben diese Politik bisher finanziert, weil sie durch das Abstimmen der Duration von Aktiven und Verbindlichkeiten dazu gezwungen waren. Diese Käufer werden jetzt ausfallen, weil der Anstieg der Renditen sie davon befreit. Der einzige potentielle Käufer, die Fed, will das Portfolio nicht durch Verkäufe reduzieren, sondern indem es bei Verfall der Wertschriften nicht vollständig reinvestiert wird. Homöopathie, aber wirksam. Würde die Fed deutlich davon abweichen, käme es zu einem völligen Vertrauensverlust des In- und Auslandes und zu einem Dollar-Crash.

Einer der negativsten Effekte dieser Politik der Nullzinsen und Quantitativer Lockerung besteht darin, dass sie Politikern den Eindruck gegeben haben, alles sei möglich, und es existierten keine Grenzen. Sie werden es auf die harte Tour lernen, dass dem nicht so ist. Die USA haben eine so niedrige Sparquote, dass eine praktisch unbegrenzte Budgetexpansion nicht möglich ist. Das Imperium hat sich überdehnt. Es wäre Aufgabe des Finanzministers und des Chefökonomen des Weißen Hauses gewesen, dies dem Präidenten klipp und klar darzulegen – mit der möglichen Konsequenz eines Ausscheidens aus der Administration. Der Präsident ist ein notorischer Schuldenkönig mit zahlreichen Bankrotten zu Lasten Dritter in seiner Historie. Stattdessen haben sie dies noch unterstützt.

Aktienrisiko als zweites Problem der Geldpolitik

Dieser fundamentale Widerspruch zwischen dem Kurs von Geld- und Finanzpolitik wird von einem zweiten Grundproblem überlagert. Die ganze Hausse ist ein einziges (Derivat-) Kartenhaus, basierend auf viel zu viel Verschuldung, versteckter Hebelwirkung und systemischem Risiko. Dieses hat sich als Folge der vergangenen Geldpolitik und mangelnder Regulierung des Finanzsektors herausgebildet. Man hat eben keine wirkliche Konsequenz aus dem Desaster von 2008/09 gezogen, sondern das Ganze nochmals extremer implementiert.

Die erste direkt sichtbare Form ist der Aufbau von ‚margin debt’, d.h. von kreditfinanzierten Käufen von Aktien. Das ist eine hoch prozyklische Standard-Praxis – und hat sich natürlich im ‚Melt-up’ der vergangenen zwei Jahre noch exzessiv gesteigert.

Der zweite Mechanismus betrifft den Vertrieb von Indexfonds mit Hebelwirkung, die in den vergangenen Jahren ein grandioses Geschäft für die Banken geworden sind. Man kann auf alles und jeden einen Indexfonds kaufen, der zwei- oder dreifach oder auch noch mehr gehebelt ist. Der Fonds investiert also das Zwei- oder Dreifache des gezeichneten Betrages in das entsprechende Indexprodukt. Diese Form von Fonds hat sich massiv verbreitert in den vergangenen Jahren. Risikofreudige individuelle Investoren einerseits, und institutionelle Investoren andrerseits haben diese Produkte auf breiter Front gekauft. Letztere als Beimischung in einem Portfolio, um auf billige Art, nicht durch anspruchsvolle Aktien-Selektion oder das Durations-Management der Obligationen, was schwierig ist, sondern durch etwas Hebelwirkung ‚Alpha’ zu generieren. Alpha ist die Out-Performance eines Portfolios gegenüber einem Benchmark, einem Standard-Performance-Maßstab.

Eine dritte, schon gesteigerte Form sind die Risiko-Paritäts-Fonds (‚Risk-Parity’ Funds) – ebenfalls hoch im Schwange. Diese investieren typischerweise in ein gemischtes Portfolio von Aktien und Obligationen. Der Clou ist, dass sie die Allokation systematisch und abhängig von der Volatilität der unterliegenden Aktiven vornehmen. Bei wenig volatilen Märkten investieren sie verstärkt in Aktien, und bei volatileren Märkten in Obligationen. Das ergibt gewaltige Verschiebungen, vor allem wenn die Volatilität sich reduziert oder sprunghaft steigt. Im Boom investierten diese Fonds konzentriert in Aktien, die sie nun bei der explodierenden Volatilität sofort und ohne Rücksicht auf Verluste verkaufen müssen.

Die vierte Form sind systematische Volatilitäts-Strategien, die auf eine Reduktion der Volatilität setzen. Diese Form hat in den vergangenen zwei Jahren zur niedrigsten Volatilität der Geschichte geführt. Fonds oder Index-Produkte mit entsprechender Orientierung verkaufen systematisch Volatilität im Markt. Sie reduzieren die Marktvolatilität dadurch, und haben zusammen mit den vorgenannten Strategien den ‚Melt-up’ im amerikanischen Aktienmarkt verursacht. Der Clou dabei ist: Relativ geringe investierte Summen sind durch die Volatilitätsstrategien so fähig, riesige unterliegende Beträge an Aktien in Bewegung zu setzen

Jede dieser Investitionsprodukte und -formen stellt für sich allein besehen kein Risiko dar. Das Risiko-Management der einzelnen Bank kann das problemlos bewältigen. Im System, im Zusammenspiel vieler, welche gleichgerichtete und sich verstärkende Strategien fahren, ist dies ein nicht erkanntes und jedenfalls nicht behandeltes Systemrisiko. Nicht nur die Fed, auch die SEC haben versagt, solche Produkte und Marktstrukturen überhaupt zuzulassen oder zu dulden. Es ist dies aber keineswegs zufällig. Es ist Ausfluss der Orientierung, mit Geldpolitik systematisch und langfristig einen Vermögenseffekt zu schaffen, und den Finanzsektor zu deregulieren – abgesehen vom Eigenhandel der Banken.

Die Konsequenz dieser derivate-getrieben Blase betrifft auch die Tatsache, dass Investoren sich nicht mehr abgesichert haben. Sie haben, getrieben vom ‚Melt-up’ und im Vertrauen auf den ‚Fed-Put’ nicht wie in der Vergangenheit durch eine Kombination von Absicherungen über Verkaufsoptionen und Verschreiben von Kaufoptionen das Aktien-Portfolio bewirtschaftet. Nur so ist die Volatilitäts-Struktur der vergangenen Quartale zu erklären.

Es ist viel zu viel Risiko im Markt, nicht nur in den Derivaten, sondern generell, auch bei den institutionellen Investoren im Kassamarkt. Die institutionellen Investoren sind nämlich ebenfalls im Aktienmarkt überinvestiert. Sie fahren eine zu hohe Aktienquote am Gesamtportfolio, weil die Anlage-Renditen auf Obligationen zu wenig hergeben gegenüber den Sätzen für die Verpflichtungen. Hohe Obligationenpreise oder anders formuliert niedrige Zinsen sind nicht ein Segen, sondern eine Katastrophe für viele institutionelle Investoren. Denn die Zinsen sind auch Abdiskontierungs-Faktor für deren Verbindlichkeiten. Durch den Zinsrückgang des vergangenen Jahrzehnts ist nicht nur der Anlageertrag institutioneller Portfolios komprimiert, sondern auch der Wert der Verbindlichkeiten explodiert und zusätzlich noch eine riesige Durations-Lücke entstanden. Um dem zu entweichen, haben viele institutionelle Investoren ihre Quote an Aktien und an Krediten mit schlechter Bonität massiv hinauffahren müssen. In Europa mussten sie zusätzlich bis ans ganz lange Ende der Zinskurve gehen, um diese Durationslücke in vertretbarem Maß zu halten. Dieses lange Ende hat es in sich: Der erste Zinsanstieg um 100 oder 200 Basispunkte hat eine katastrophale Wirkung auf den Wert der Obligationen – besonders bei sehr niedrigen Zinsen.

Ausblick

Wie geht es weiter? Es hängt teilweise von Jerome Powell ab, dem neuen Fed-Vorsitzenden. Er ist seit wenigen Tagen im Amt. Über ihn bekannt ist, dass er der bisherigen Fed-Politik immer zugestimmt hat und offenbar für eine weniger strenge Regulierung des Finanzsektors eintritt. Er operiert dabei in einem personellen Vakuum. Der niedrigen Zinsen und einer Schuldenagenda zugeneigte Präsident kann aus Alters- und Mandatsgründen praktisch die ganze Fed-Führung neu bestimmen. Besonnenere Köpfe wie Stanley Fischer oder Bill Dudley haben unter verschiedenen Titeln bereits das Weite gesucht oder ihren vorzeitigen Abgang angekündigt. Es ist immer falsch, eine Person bereits im Voraus abzuqualifizieren oder in eine bestimmte Ecke zu stellen. Daher muss die Beurteilung mit einem sehr großen Vorbehalt erfolgen.

Die Agenda besteht aus drei unterschiedlich schwierigen Punkten

Ein erster Kernpunkt ist, die ganze geldpolitische Konzeption grundlegend und ohne Scheuklappen zu überprüfen beziehungsweise überprüfen zu lassen. Zum zweiten Mal innert einer Dekade in die Situation einer hoch gefährlichen Blase hinein zu laufen ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer fundamental falschen Politik-Konzeption. Das sollte für Makroökonomen ein Anlass darstellen, alle Kernelemente zu hinterfragen und die Schwachstellen detailliert darzulegen.

Der Aktienmarkt ist gemessen an jedem historischen Kriterium erheblich überbewertet. Es wäre ein Fehler, den ‚Fed-Put’ sofort spielen zu lassen. Investoren, welche zu stark mit Hebelwirkung operieren oder überinvestiert sind, müssen eine blutige Nase kriegen beziehungsweise das Risiko-Management anpassen, um nicht Systemrisiken zu schaffen. Ein Durchschmelzen oder eine Implosion des Marktes ist natürlich keine Alternative. Eine Blase kontrolliert entweichen zu lassen, ist schon eine erhebliche Herausforderung – an der in der Vergangenheit viele Zentralbanken gescheitert sind. Zwischen diesen Alternativen die optimale Taktik zu finden, ist nicht ganz einfach. Doch für diese Form von Problematik ist die Fed vorbereitet. Die Institutionen und Prozeduren sind installiert, die Entscheidungsstrukturen sind da. Zu vermuten ist, dass die Fed zu früh einzuspringen gewillt ist, um keine Risiken zu laufen.

Viel schwieriger ist die dritte Gratwanderung. Mit der superexpansiven Finanzpolitik und dem Risiko für noch viel mehr Militär- und Rüstungsausgaben ist ein Zielkonflikt mit der bisher angekündigten Geldpolitik vorgezeichnet. Wichtig ist, dass die langen Zinsen nicht zu stark ansteigen. Das kann für die Fed bedeuten, die kurzen Zinsen stärker und schneller anzuheben, um Inflationsängste und das Vertrauen in den Dollar nicht zu zerstören. Die Frage stellt sich also für den neuen Fed-Vorsitzenden, ob er am bisher kommunizierten gradualistischen Autopilotkurs festhalten oder einen entschlosseneren Kurs der Straffung einschlagen soll. Das Vertrauen des Obligationenmarktes kann er nur bewahren, wenn er die Geldpolitik flexibler als bisher handhabt.

Letzten Endes ist das Ergebnis eine Frage der politischen Agenda der Administration und der Unabhängigkeit der Notenbank. Man kann nicht erwarten, dass der Rest der Welt unendlich Kriege Amerikas finanziert, die außer dem wortbrüchig gewordenen Präsidenten, einigen konfrontationsorientierten Generälen an Schlüsselstellen und dem amerikanischen militärisch-industriellen Komplex inklusive dessen Vertretern im Kongress gar niemand will. Bei einer militärpolitischen Eskalation ist ein Desaster vorgezeichnet. Dann werden die Zinsen rasant und drastisch ansteigen, und der Bullenmarkt respektive die zweite ‚Great Moderation’ sind Geschichte.

Was bedeutet das für die Märkte? Es gibt zunächst eine große Themenrotation weg von Disinflation/Deflation/ PE-Expansion/ tiefe Volatilität zu Reflation/Überhitzung/Inflation und zu hoher Volatilität. Damit verbunden sind zunächst weiter steigende Zinsen. Als Folge wird sich eine gewichtige Sektorenrotation im Aktienmarkt weg von Sektoren mit schwachen Gewinnen / Gewinnprojektionen ohne Basis / PE-Expansion in die mit stark steigenden Gewinnen geben. Der Bullenmarkt wird in Bezug auf Sektoren/Unternehmen viel selektiver werden, auch global gesehen. Der Bullenmarkt wird damit aber in die Endphase kommen, für nicht wenige Märkte, Sektoren und Unternehmen ist das bereits erreicht. Sobald die Zinssteigerungen disruptiv werden, ist das Ganze fertig, mit nachfolgendem Schadenspotential.


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