Politik

Auf keinem guten Weg: Frankreich gräbt sich in der Krise ein

Lesezeit: 6 min
13.09.2016 01:26
Angesichts der bevorstehenden Wahlen ist Frankreich in einen dauerhaften Krisen-Modus übergegangen. Der Status Quo soll um jeden Preis gehalten werden - was vor allem jungen Menschen den Eintritt in den Arbeitsmarkt erschwert. Die Schockstarre kann für ganz Europa gefährlich werden.
Auf keinem guten Weg: Frankreich gräbt sich in der Krise ein

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Frankreich, die zweite große Volkswirtschaft der EU, hat größte Probleme, Probleme die Auswirkungen auf ganz Europa haben: Geringes Wachstum, fast 10 Prozent Arbeitslosigkeit, Staatsschulden, die sich der 100-Prozent-Marke nähern, über 30 Milliarden Euro Leistungsbilanzdefizit. Lösungen können nur umfassende Reformen bringen, die aber auf enormen Widerstand stoßen.

Am 15. September halten die französischen Gewerkschaften einen Aktionstag ab. Dies bedeutet, dass das Land für 24 Stunden – wieder einmal – gelähmt sein wird. Das Ziel: Man will die Rücknahme der im Juli beschlossenen Reform des Arbeitsrechts erreichen. Diese Reform wird aber von der OECD als Voraussetzung für eine Überwindung der Rezession und der Arbeitslosigkeit gesehen. Ohne Korrektur würden die bisher geltenden, starren Regeln jeden Aufschwung verhindern.

Damit nicht genug. Zahlreiche Intellektuelle stellen angesichts der zahlreichen Probleme nicht die bestehenden, stark vom Staat dominierten Strukturen in Frage, die die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen behindern. Vielmehr wird intensiv diskutiert, wie zusätzliche staatliche Eingriffe die Arbeitslosigkeit und die immer größere Kluft zwischen Reich und Arm bekämpfen könnten.

Nicht zuletzt halten die Unternehmer und Manager an dem in Frankreich traditionellen Klassengeist fest: Entscheidend ist, wer schon Teil des Establishments ist, wer möglichst schon von Geburt Teil der „classe dirigeante“ ist.

Der Kündigungsschutz hat letale Folgen

Am 9. August 2016 ist das neue Arbeitsgesetz – Loi Travail – im Amtsblatt veröffentlicht worden und somit in Kraft getreten. Das sollte der Start für einen flexiblen Arbeitsmarkt sein. Schon der Start verlief holprig: Die Regierung umging das Parlament, weil nicht mit einer mehrheitlichen Zustimmung zu rechnen war, und nützte eine Sonderbestimmung in der Verfassung und beschloss das Gesetz im Alleingang.

Bislang galt in Frankreich ein starrer Kündigungsschutz, der die Wirtschaft lähmt, wie dies auch in Deutschland bis 2004 der Fall war, als endlich das Kündigungsschutzgesetz novelliert wurde.

Der Kündigungsschutz hat letale Folgen, die die Gewerkschafter schlicht weg leugnen:

- Bestehende Belegschaften können nicht an Konjunkturschwankungen angepasst werden. Die Unternehmen müssen weiterhin die Lohnkosten finanzieren und sind daher nicht in der Lage, auf Veränderungen zu reagieren.

- Somit kommt es in vielen Fällen zur Schließung von Betrieben, die bei geringerer Zahl der Arbeitnehmer überleben könnten. Statt einiger Mitarbeiter verlieren alle den Arbeitsplatz.

- Die Firmen nehmen nach Möglichkeit keine Arbeitnehmer auf, weil sie in schwierigen Phasen nicht kündigen können. Aus diesem Grund werden sogar Aufträge abgelehnt, die zwar attraktiv wären, aber nur eine kurzfristige Ausweitung der Belegschaft rechtfertigen würden.

- Die Arbeitnehmer, die einen Arbeitsplatz haben, scheuen den Wechsel, um den Kündigungsschutz nicht zu verlieren. Somit fehlt der für einen Arbeitsmarkt entscheidende Zug zu attraktiven, innovativen Firmen. Die „Abstimmung der Arbeitnehmer mit den Füßen“ über die besten Arbeitgeber findet nicht statt.

All das nehmen die französischen Gewerkschafter nicht zur Kenntnis. Sie sind auch nicht bereit nach Deutschland zu schauen, wo seit der Lockerung die Arbeitslosigkeit dramatisch zurückgegangen ist und mit knapp über 4 Prozent fast Vollbeschäftigung herrscht. Dabei fand in Deutschland keine totale Beseitigung der Schutzbestimmungen statt und dies ist auch in Frankreich nicht Gegenstand der Loi Travail. In Frankreich liegt die Arbeitslosigkeit hartnäckig bei 10 Prozent. Als vor wenigen Tagen der aktuelle Wert mit 9,9 Prozent ausgewiesen wurde, galt dies als Erfolgsmeldung.

Die Verzweiflung der Jungen

Das größte Problem bildet die Jugendarbeitslosigkeit, die 24 Prozent beträgt. Dieses katastrophale Phänomen ist auch durch den Kündigungsschutz mitbestimmt, aber nicht nur.

- In Frankreich hängt der erfolgreiche Eintritt in das Berufsleben mehr als in anderen Ländern von der Situation der Familie ab. Diesen Umstand betonen die Experten der OECD ebenso wie die französischen Soziologen. Dieses Phänomen ist auf zwei Ebenen zu orten: Es geht nicht nur darum, dass Kinder aus Haushalten mit höherer Bildung in der Schule leichter bestehen können. Ständig wird beklagt, dass bei Bewerbungen die Qualifikation sehr oft weniger zählt als die soziale Stellung der Familie. Diese Umstände sind besonders erstaunlich, da in Frankreich in fast allen Bereichen Auswahlverfahren – concours – um einen Studien- oder einen Arbeitsplatz besonders gepflegt werden.

Dazu kommt, dass das französische Bildungssystem in einer problematischen Verfassung ist. Zur Illustration einige Krisenzonen:

- Traditionell waren die französischen Lycées besonders anspruchsvoll und auf höchstem Niveau. Der jüngste innerfranzösische Ergebnisvergleich kommt zu dem Schluss, dass man die aktuellen Anforderungen an das Abitur –baccalauréat – mit den Kriterien vergleichen müsste, die 1950 für den Abschluss der Unterstufe– BEPC – gegolten haben.

- Im PISA-Test der OECD, der die Kenntnisse der Schüler in den OECD-Staaten vergleicht, belegt Frankreich weit abgeschlagen Plätze hinter der Nummer 20.

- Größten Wert legt man in Frankreich auf die Rolle der „Grandes Écoles“, die in fast allen Wissensbereichen als extrem fordernde Kaderschmieden konzipiert sind, die auch als Garanten für die künftige Karriere agieren. Allerdings haben diese Institute Mühe, flexibel auf die sich extrem rasch ändernden Herausforderungen zu reagieren und neigen dazu, eine abgehobene Welt für sich zu bilden.

- Die Lehrlingsausbildung sieht zwar zwei Ebenen vor – das Berufsbefähigungszeugnis CAP und das breit angelegte Berufsbildungszeugnis BEP – doch werden diese Möglichkeiten nur von wenigen genützt.

Angesichts von 24 Prozent Jugendarbeitslosigkeit ist die Wut der Jungen selbstverständlich. Allerdings mit den Gewerkschaften gegen die Loi Travail auf die Straße zu gehen, bedeutet gegen die eigenen Chancen zu demonstrieren.

Die Globalisierung wurde nicht gemeistert

In der Periode 1990 bis 2014 hat Frankreich ein extrem niedriges Wachstum von durchschnittlich etwa 1 Prozent erzielt und lag damit vor Italien und sogar nach Griechenland am Schluss des OECD-Vergleichs.

Es ist nicht ausreichend gelungen, die Herausforderung der Globalisierung zu meistern: Diese bestand und besteht in der Entwicklung einer hoch spezialisierten Industrie, deren Erzeugnisse auf dem Weltmarkt bestehen und durch die Qualität weniger preisabhängig sind. Unter diesen Umständen ist die Verlagerung der einfachen Produktionen in Billiglohnländer volkswirtschaftlich verkraftbar.

Dass dies in Frankreich nicht in entsprechendem Umfang geschehen ist, zeigt sich an zwei aktuellen Daten: Der Industrie-Anteil an der gesamten Wertschöpfung liegt in Frankreich unter 20 Prozent, in Deutschland über 30 Prozent. Die Leistungsbilanz weist einen Abgang von über 30 Mrd. Euro aus, Deutschland verzeichnet einen Überschuss von etwa 250 Mrd. Euro.

Die Staatsausgaben lähmen die Wirtschaft

Behindert wurde und wird die Entwicklung nicht nur durch den Kündigungsschutz und die Verschlechterung der Bildungssystems. Eine entscheidende Rolle spielt auch die hohe Staatsquote. Die Ausgaben des Staates nehmen in Frankreich über 57 Prozent der Wertschöpfung in Anspruch. Im Durchschnitt der EU liegt der Wert bei etwa 48 Prozent, sodass Frankreich schon innerhalb Europas weit abgeschlagen ist. Gegenüber Ländern wie den USA, Japan oder die Schweiz, die alle Werte in der Größenordnung von 35 bis 40 Prozent aufweisen, ergibt sich ein eklatanter Wettbewerbsnachteil.

Unmittelbar spürbar für die Unternehmen und die Privathaushalte sind allerdings nicht die Staatsquoten, sondern die Abgabenquoten, also die bezahlten Steuern und Abgaben. Dieser Wert liegt in Frankreich bei etwa 49,7 Prozent und stellt eine enorme Behinderung der Wirtschaft dar. Wenn von jedem Euro fast 50 Cent an den Staat fließen, ist der Spielraum für Investitionen und Konsumausgaben gering. Heuer und 2017 treten einige Erleichterungen in Kraft, die aber die Abgabenquote nur minimal senken werden.

Zu den Steuern und Abgaben von 49,7 Prozent kommen noch sonstige Einnahmen des Staates, sodass für 2015 ein Gesamtdefizit von 3,5 Prozent auszuweisen war. Diese Daten wurden am 5. September vom nationalen Wirtschaftsforschungs- und Statistik-Institut INSEE publiziert.

Die Staatsverschuldung in Frankreich erreichte Ende 2015 96,2 Prozent und liegt bereits sehr nahe bei 100-Prozent des BIP. Die gesamten Schulden betragen derzeit etwa 2.200 Mrd. Euro, jährlich kommen etwa 75 bis 80 Mrd. Euro hinzu.

Wie in allen Ländern belastet die lange Dauer der Pensionen die Staatsfinanzen. An diese Frage zeigt sich die Reform-Bremse in Frankreich besonders deutlich. 2010 wurde unter Präsident Nicolas Sarkozy das System geändert, wobei als Richtschnur, ohnehin nicht sehr ambitioniert, die Anhebung des Pensionsantrittsalters von 60 auf 62 Jahre ab 2017 beschlossen wurde. Mit Abschlägen bei frühem und Zulagen bei spätem Pensionsantritt sollten die Franzosen motiviert werden, möglichst bis 65, 67 oder sogar 70 zu arbeiten. Bei seinem Amtsantritt 2012 kündigte Präsident François Hollande eine Korrektur an, die 2014 erfolgt ist und im Endeffekt wieder das Alter 60 zur Regel machte. Die Aufwendungen für Pensionen entsprechen fast 14 Prozent des BIP.

Mit noch höheren Steuern sollen die Probleme gelöst werden

Obwohl die hohe Staatsquote die Wirtschaft lähmt, wird die wirtschaftspolitische Diskussion von der Forderung nach „mehr Staat“ dominiert. Der Liberalismus stößt auf Ablehnung. Das geht so weit, dass sich auch die Regierung bereits generell gegen TTIP, dem geplanten Handelsabkommen zwischen der EU und den USA ausgesprochen hat, und nicht mehr nur für Korrekturen eintritt.

Im Mittelpunkt steht die Kluft zwischen Arm und Reich, die in Frankreich traditionell groß ist und derzeit weltweit eine gravierende Erscheinung ist, die alle Gesellschaften belastet. Der französische Ökonom Thomas Piketty propagiert in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ die Einführung neuer oder die Verschärfung bestehender Vermögensteuern und die Anhebung der Einkommensteuer für Spitzenverdiener. Mit diesen Instrumenten soll die Umverteilung von Reich zu Arm gelingen.

Wenig beachtet wird der Umstand, dass die Besteuerung der Vermögen nur zwei mögliche Effekte hat: Entweder die Vermögen werfen einen Ertrag ab, dann ergibt die Vermögensteuer in ihrem wirtschaftlichen Ergebnis eine zusätzliche Einkommensteuer. Oder die Vermögen werfen keinen Ertrag ab, dann bedeutet die Vermögensteuer eine Schritt für Schritt stattfindende Enteignung, die nur einmalig, bis das Vermögen aufgezehrt ist, erfolgen kann.

Eine Anhebung bei den Spitzenverdienern würde eine relativ kleine Gruppe treffen, also keinen größeren Effekt für das Budget haben. Sie würde allerdings gesellschaftspolitisch positiv wirken, die Spannung zwischen den Klassen entschärfen, meint Piketty und wird dabei von einer Vielzahl von Intellektuellen unterstützt.

Nicht beachtet wird bei dieser Argumentationslinie, dass hier im Endeffekt nur die Einführung neuer und die Anhebung bestehender Steuern propagiert wird. Dies kann bei einer Staatsquote von 57 Prozent nicht die Lösung sein.

Vielmehr sind die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, die Anpassung des Bildungswesens an die modernen Erfordernisse und die Reduktion der Staatsquote die dringend notwendigen Maßnahmen. Für diese Anliegen müsste man sich beim Aktionstag am 15. September einsetzen, nicht für den lähmenden Kündigungsschutz.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF. 

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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