Politik

30. Juni 2019: Die lange Nacht der Saboteure

Lesezeit: 5 min
29.06.2019 08:14
Kommenden Sonntag tritt der EU-Rat zusammen, um über die Besetzung der Spitzenposten zu entscheiden. Die Wünsche des Parlamentes spielen dabei offenbar keine Rolle. Überhaupt wurden die drängenden Probleme des Kontinents im Wahlkampf zu dessen neuer Zusammensetzung nicht berücksichtigt.
30. Juni 2019: Die lange Nacht der Saboteure
21.06.2019, Brüssel: Arbeiter reinigen während des EU-Gipfels ein Panel mit EU-Logos. (Foto: dpa)

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Kommenden Sonntag, am 30. Juni, spätnachmittags tritt der EU-Rat zusammen, um über die Besetzung der Spitzenposten in der EU zu entscheiden. Wohlgemerkt der Rat, also das Gremium, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind. Man will das EU-Parlament, das am 2. Juli erstmals nach der Wahl zusammentritt mit einer Entscheidung konfrontieren, die in der Folge nur schwer zu bekämpfen ist. 

Offenbar wurde das Aufmucken des Parlaments in den Staatskanzleien überhaupt nicht goutiert: Die Abgeordneten wollten, dass jedenfalls der Spitzenkandidat oder die Spitzenkandidatin einer Parlamentsfraktion Präsident oder Präsidentin der EU-Kommission werden sollte. Wie immer stoßen Initiativen, die das Parlament stärken würden, auf den Widerstand der Mitgliedstaaten. Also geht es Sonntagnacht – das Frühstück für Montag ist schon bestellt – um die üblichen Eitelkeiten.

Gesucht werden nicht die besten Köpfe, sondern bequeme Kandidaten

Welches Land setzt sich durch? Wenn der Kommissionspräsident aus einem Land kommt, dann muss der Präsident der Zentralbank aus einem anderen sein. Natürlich, was sonst? Und der ständige Vorsitzende des Rates und der Parlamentspräsident haben selbstverständlich auch in das komplizierte Geflecht von Länder- und Parteiinteressen zu passen. Nicht zuletzt: Alle Akteure sollen so schwach sein, dass sie die Regierungen der Mitgliedsländer nicht ernsthaft stören.

An diesem Wochenende wird um die Spitzenpositionen gefeilscht. Und anschließend findet in den Staaten das Gezerre über die Bestellung eines, einer allen Parteien und Machtblöcken genehmen Kommissars oder Kommissarin statt. Immer noch hat jedes Mitgliedsland Anspruch auf einen Kommissar und so müssen sich auch in den nächsten Jahren 28, nach dem Brexit 27 Personen eifrig profilieren um nicht vergessen zu werden.

Konstruktive Kritik wird nicht gehört oder populistisch missbraucht

Im Gerangel der Saboteure um Posten für genehme Personen geht die EU unter. Erschreckend ist der Gleichklang. 

  • Die traditionellen Parteien betonen zwar in ihren Parolen stets die EU, die Integration und die Zukunft Europas, aber sabotieren in der Praxis die Integration, wo es nur geht. 
  • Die in jüngster Zeit aufstrebenden, nationalistischen Parteien trommeln gegen die ach, so übermächtige EU und wollen die Entscheidungen in die Länder zurückholen: Die Regierungen von Kleinstaaten inszenieren sich gerne als Herrscher einer Großmacht. 

Alle übersehen, dass nur eine funktionierende Union – das Wort bedeutet Gemeinschaft – den alten Kontinent wettbewerbsfähig machen kann. 

In diesem aus Egoismen geborenen Chaos wird jede notwendige Kritik behindert. Politiker, Experten und Journalisten, die sich konstruktiv für eine gedeihliche Entwicklung der EU einsetzen, finden kein Gehör: Hinweise auf Mängel und Forderungen nach besseren Lösungen werden von den Schönfärbern als Verrat am europäischen Gedanken zurückgewiesen und dieselben Hinweise werden von den nationalistischen EU-Gegnern als Bestätigung ihrer undifferenzierten Attacken missbraucht. 

Man drischt Parolen, statt Lösungen anzubieten

Schon im Wahlkampf um die Plätze im EU-Parlament haben die Parteien in jämmerlicher Weise ihre Inkompetenz demonstriert. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Problemen fand nicht statt, nirgendwo wurden Lösungen angeboten, niemand interessierte sich für die Frage, wer denn bereits politische Leistungen vorzuweisen hat, die eine entsprechende Kompetenz demonstrieren. Vielmehr wurde endlos die Bedrohung durch Flüchtlinge strapaziert, obwohl der Zustrom bedeutungslos geworden ist, trommelte man ständig nationalistische Ladenhüter, die nur Schaden anrichten, und hetzte gegen amerikanische Internet-Firmen statt die Digitalisierung Europas zu unterstützen. Sehr beliebt waren auch Proteste gegen den Klimawandel nach dem Muster „Pfeifen gegen die Angst hilft“. 

Der Umgang mit dem Klimawandel ist demaskierend: 

  • Man sagt nicht konkret, mit welchen Maßnahmen man dem drohenden Anstieg der Meere, den bereits eingetretenen Hitzewellen, Kälteperioden, Starkregen, Hagelschlägen und Überschwemmungen begegnen kann. 
  • Wäre es nicht lohnenswert, für Retentionsbecken einzutreten, in denen Wassermassen aus Meeren und Flüssen gestaut werden können? Oder für Bauordnungen zu sorgen, die besser auf die Naturkatastrophen abgestellt sind? Und anderes mehr. 
  • Laute Proteste, die Formulierung von unrealistischen Klimazielen, die man an beliebig ausgewählten Terminen in der Zukunft erreichen will, die Veranstaltung von Tagungen, bei denen alle besorgte Mienen machen, sind hingegen sehr beliebt und wirkungslos. 
  • Den Menschen redet man ein, dass der Klimawandel verhindert wird, wenn man weniger Auto fährt, das Flugzeug meidet und bei der Heizung spart. Die eingeforderten Korrekturen sind notwendig, doch diese allein können den Klimawandel nicht aufhalten.

Datenschutz ist wichtig. Also ist die DSGVO wichtig. Weiterdenken untersagt.

Keiner Partei fiel es im Wahlkampf ein, die Abschaffung der größten Groteske aus dem Repertoire der EU-Regeln zu fordern: Die Datenschutzgrundverordnung hat sich als sinnlose Behinderung aller Unternehmungen und Institutionen erwiesen und stellt somit eine beachtliche Wirtschaftsbremse dar. Nur der angestrebte Schutz der Bürger vor dem Missbrauch der Daten, vor dem Eindringen der verschiedensten Akteure in die Privatsphäre, vor den zahllosen Belästigungen findet nicht statt. Der kritische Bürger, die kritische Bürgerin bekommt von der Politik eine peinliche Antwort: Datenschutz ist wichtig, also ist die DSGVO gut. Kritisch denken ist nicht erlaubt, eine Korrektur der Datenschutz-Verordnung nicht erforderlich

Alles für die Rettung der Staatsbudgets, keine Rücksicht auf die Bürger

Auch die noch gravierendere Belastung der europäischen Wirtschaft war kein Thema im Wahlkampf und wird also auch in der nun beginnenden Periode nicht korrigiert. Die Null- und Minuszinsen werden von der Europäischen Zentralbank eifrig als Wirtschaftsförderung gefeiert, weil doch in der Folge die Kredite so billig sind. Tatsächlich sollte man niemandem einen Kredit geben, der nicht für eine angemessene Verzinsung der ausgeborgten Mittel sorgen kann. Ohne Zweifel bedeuten extrem hohe Zinsen eine Erschwernis, aber davon ist ohnehin nicht die Rede. In Wahrheit geht es aber nicht um die Förderung der Wirtschaft, sondern um finanzielles Morphium für die überschuldeten Staaten, die keine Zinsen zahlen können. Und was hören die Bürger für eine klägliche Botschaft: Die meisten Staaten stecken tief in der Schuldenfalle, also wird sich an der Nullzinsenpolitik nichts ändern können. So, als ob eine Sanierung der Staatshaushalte ohnehin nicht vorgesehen wäre, man sich also mit dem Weg in den Staatsbankrott abgefunden hätte.

Nur hat die Nullzinspolitik dramatisch negative Folgen:

  • Nachdem die Preise weiter steigen, kommt eine Entwertung der Geldvermögen zustande.
  • Der Aufbau einer ausreichenden Altersvorsorge wird extrem erschwert.
  • Die Bürger sparen zum Ausgleich mehr, um den Wert der Reserven zu erhalten. Diese Mittel fehlen naturgemäß im Konsum und bremsen die Wirtschaft.
  • Die Anleger konzentrieren sich auf Alternativen und treiben so die Immobilienpreise in astronomische Höhen. Um Wohnungen zu finanzieren braucht es enorme Mittel, die anderswo nicht eingesetzt werden können.
  • Die drohende Schuldenfalle: Bei einer Änderung der Wirtschaftslage müssen die Preise fallen. Viele finanzieren den Wohnungskauf über Schulden, bei niedrigeren Preisen sinkt der Wert der Objekte, aber die Schulden müssen weiter bedient werden.
  • Auch bei den anderen Vermögenswerten, von den Aktien bis zu den Uhren und Juwelen treibt die Flucht der Anleger vor den Zinsen für Anleihen und Sparbücher die Preise in unrealistische Höhen. 

Das wären doch Themen für einen Wahlkampf. Oder denken auch schon die Neulinge auf dem politischen Parkett nur an künftige Ministerämter? Und dann werde man ja auch billiges Geld für die überforderten Budgets brauchen.

Milliarden für die Bauern, aber bei den Bauern kommt wenig an

Das Budget der EU wird von den Ausgaben für die Landwirtschaft und den ländlichen Raum dominiert. Da werden aberwitzig viele Milliarden in einem Verschiebebahnhof durch Europa bewegt. 

  • Die Staaten überweisen Milliarden nach Brüssel und 
  • aus Brüssel fließen die Milliarden zurück an die Staaten, etwas anders verteilt. 
  • In den Staaten werden die Gelder aus Brüssel aus den nationalen Budgets ergänzt. 
  • Am Ende kommt, wie bereits zahlreiche Berechnungen zeigen, bei den Bauern wenig an. 
  • Auf den vielen Wegen versickert viel Geld bei den Bürokraten, die sich nicht selten als mächtige Potentaten aufspielen. Schließlich sind sie es, die die Subventionen an Bauern und Organisatoren von Regionalprojekten vergeben. Selbstverständlich wird dieses über 28 Länder gelegte Geflecht genau kontrolliert, damit kein Cent falsch verwendet wird. 
  • Nur: Das  gesamte System, das jährlich die enorme Summe von rund 90 (!) Milliarden Euro verschlingt, gehört ersatzlos gestrichen. Die Gelder sollten in den Staaten bleiben und direkt in die Regionen fließen, wodurch sie effektiv und effizient eingesetzt würden.

Eine wirksame Klimapolitik, ein intelligenter Datenschutz, Wohnungen, die man sich leisten kann, Zinsen, die das Sparen und den Aufbau einer Altersvorsorge ermöglichen, eine effektive Entwicklung des ländlichen Raums, ein digital konkurrenzfähiges Europa – sind das keine Themen, mit denen man in der Öffentlichkeit punkten kann? Sicher sind viele, wichtige Bereiche von den Steuerfragen über Regelungen der Finanzwirtschaft bis hin zu zahlreichen, anderen Sparten in einem Wahlkampf schwerer zu platzieren. Für eine besser funktionierende EU zu werben, sollte doch mindestens so attraktiv sein wie das aktuelle Angebot: Muss man unbedingt gegen Flüchtlinge hetzen, die EU in Frage stellen, den Euro in Misskredit bringen und die sinnlose Regulierungswut übereifriger Beamten und profilierungssüchtiger Kommissaren verteidigen? 

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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