Im Sommer 2014 herrschte in der westlichen Öffentlichkeit großes Erstaunen: Aus dem Nichts war im Nahen Osten ein „Islamischer Staat“ (IS) entstanden. Niemand konnte sich wirklich erklären, wie eine schwer bewaffnete und gut ausgerüstete Truppe von radikalen Islamisten trotz Rundum-Beobachtung durch die zahlreichen Geheimdienste von einem Tag auf den anderen zur größten Bedrohung des Weltfriedens hatte werden können. Seitdem vergeht kein Tag, an dem nicht IS-Terroristen als Gefahr für Europa beschworen werden. Die Bürgerrechte in Europa und den USA wurden eingeschränkt, Muslime sind seither einem unerträglichen Generalverdacht ausgesetzt. Die Lage in Syrien wurde immer schlimmer, tausende Syrer flüchten seither nach Europa – wo ihnen Misstrauen und Ablehnung entgegenschlagen.
In der aktuellen Flüchtlingsdiskussion wird zwar gelegentlich angeregt, man möge über die Entstehung von Flüchtlingswellen nachdenken, und diese möglichst schon am Ort des Geschehens stoppen. Doch im Hinblick auf Syrien und Libyen bleiben die Anregungen allgemein und vage, wodurch der Eindruck entsteht, man könne im Grunde nichts machen – Krieg gäbe es überall und jederzeit. Die EU schickt Kriegsschiffe ins Mittelmeer, um trotz aller Warnungen von Menschenrechtsorganisationen die Flüchtlingsboote abzuschießen. Gleichzeitig weigern sich große europäische Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Polen oder Spanien, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
Nun aufgetauchte Dokumente zeigen, dass dieses Elend mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verhindern gewesen wäre. Doch eine Mischung aus Inkompetenz, Zynismus und eiskaltem Machtkalkül haben offenbar dazu geführt, dass die Lage im Nahen Osten mit der Gründung des IS außer Kontrolle geraten ist.
Der amerikanische Watchdog Judicial Watch hat einen teilweise deklassifizierten Bericht des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency (DIA) veröffentlicht. Aus diesem geht hervor, dass die DIA bereits im Jahr 2012 Hinweise für die Entstehung eines Islamischen Staats im Nahen Osten gehabt hatte. Demnach hätten sich syrische Oppositions-Gruppen bemüht, einen solchen Staat als wirksamste Waffen gegen den syrischen Präsidenten Baschar al Assad aufzubauen. Doch die US-Geheimdienste hätten den Plan nicht verhindert, im Gegenteil: Sie sahen in dem Vorhaben eine Chance, ihre eigenen Interessen im Nahen Osten durchzusetzen. Das oberste Ziel war im Jahr 2012 der Sturz von Assad.
Der investigative Journalist Nafeez Ahmed, der früher für den Guardian gearbeitet hat und heute für das US-Magazin Vice schreibt, veröffentlicht auf der Website Medium eine ernüchternde Analyse der Entwicklung. Er erklärt, dass die westlichen Staaten in „Koordination mit den Golf-Staaten und der Türkei, bewusst gewalttätige islamistische Gruppen finanziert hat, um Assad zu destabilisieren – obwohl sie antizipierten, dass dies zum Entstehen eines ,Islamischen Staates‘ im Irak und Syrien führen könnte“.
Doch anstatt die Unterstützung für die Gruppen, deren Nähe zu Al Kaida den Geheimdiensten selbstverständlich bekannt war, zu stoppen oder - noch besser - gegen sie entscheiden vorzugehen, entschloss man sich in Washington und anderen westlichen Hauptstädten, die Entwicklung positiv zu sehen. Ahmed schreibt:
„Aus dem kürzlich deklassifizierten US-Dokument geht hervor, dass das Pentagon den Aufstieg des ,Islamischen Staats‘ als direkte Folge dieser Strategie vorhergesehen hat. Doch das Pentagon beschreib diese Möglichkeit als strategische Chance, um ,das syrische Regime zu destabilisieren‘.“
Die Strategie folgte laut Middle East Eye den Überlegungen der RAND Corporation, die schon vor Jahren empfohlen hatte, man möge die unterschiedlichen Glaubensrichtungen der Muslime gegeneinander ausspielen. Wenn sich Schiiten und Sunniten gegenseitig bekämpfen, gäbe dies der US-Regierung die Möglichkeit, ihren Einfluss in der Region zu vergrößern. Die Strategie ist als „divide et impera“ („teile und herrsche“) gut bekannt und seit jeher fester Bestandteil aller politischen Aktivitäten.
Ahmed, der ein höchst angesehener Journalist ist und der zur Untermauerung seiner Analyse mit zahlreichen Fachleuten aus dem Militär und bei Geheimdiensten gesprochen hat, spricht in diesem Zusammenhang von „Heuchelei“, wenn der Westen nun einen globalen Kampf gegen den IS führe. Er verweist auch auf die geostrategische Bedeutung des Konflikts, der er als Stellvertreter-Krieg ausmacht: Die Vorläufer des IS hätten vom Westen Geld und Waffen erhalten, weil, wie in dem Dokument steht, „der Westen, die Golf-Staaten und die Türkei die syrische Opposition unterstützen, während Russland, China und der Iran auf der Seite des Assad-Regimes“ stünden.
Aus dem Geheimdienst-Papier geht hervor, dass alle anderen Geheimdienste der USA über die Vorgänge ebenso im Bild waren wie das Verteidigungsministerium, das Außenministerium und die westlichen Verbündeten. Ob Deutschland auch von den Plänen der Islamisten in Kenntnis gesetzt wurde, geht aus dem Papier nicht hervor, ist aber wegen der Breite der Koalition gegen den IS anzunehmen.
Ahmeds Fazit:
„Der Aufstieg des IS hat dazu geführt, dass es neue Maßnahmen zum Kampf gegen den Terrorismus gibt – wie die Massenüberwachung und die Orwell‘sche Pflicht der Bürger, sich gegenseitig zu bespitzeln. Pläne, die die Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks in die Lage versetzen, Medien zu zensieren, zielen unverhältnismäßig auf Aktivisten, Journalisten und ethnische Minderheiten, vor allem Muslime.
Doch der neue Bericht des Pentagon enthüllt, dass anders als von den Regierungen des Westens behauptet, dass die Ursache für die Bedrohung von ihren eigenen, zutiefst fehlgeleiteten Politik kommt, weil sie heimlich den islamistischen Terror unterstützt hat, um dubiose geopolitische Zwecke zu verfolgen.“