Es kommt, wie es kommen musste: Am 14. Oktober 2015 informierte die Deutsche Bundesregierung das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages darüber, dass der BND über Jahre hinweg neben amerikanischen auch eigene Suchbegriffe, sogenannte Selektoren verwendete. Es bestehe der Verdacht, dass gegen deutsches Recht verstoßen wurde. Bis in den Herbst des Jahres 2013, so der Verdacht, war es gängige Praxis des BND, europäische Partner, europäische und auch deutsche Unternehmen, aber auch US-Ziele mittels eigener Selektoren ausgekundschaftet zu haben.
Von diesen neuerlichen Erkenntnissen kann nicht wirklich jemand überrascht sein, schon gar nicht das deutsche Bundeskanzleramt. Die Aufgabe des BND kann sich doch nicht darauf beschränken, US-Selektoren in die Anlagen in Bad Aibling einzuspeisen. Das wäre zu wenig für einen Nachrichtendienst wie den BND. Für jeden Nachrichtendienst, so auch den BND, ist das Eigenaufkommen von Informationen für den internationalen Stellenwert eines Dienstes entscheidend. Das gilt insbesondere für die technische Aufklärung. Die BND-eigenen Selektoren folgen genau dieser Logik. Nachrichtendienste leben nun einmal vom Informationsaustausch – nicht immer mit der eigenen Regierung und nicht immer im Rahmen des Auftrages. Was liegt daher naheliegender als die Aufstellung und Einspeisung eigener BND-Selektoren.
Die Ergebnisse und Erkenntnisse daraus können am Markt der Dienste ausgetauscht werden. So weit, so gut. Das Problem besteht darin, dass der BND offenbar auch Selektoren gewählt hat, welche auf eine umfangreiche Spionagetätigkeit gegen Partnerstaaten, ob Nato oder EU, und auch gegen die eigene Wirtschaft und damit Politik schließen lässt. Diese Erkenntnis kommt zu einem Zeitpunkt in dem bisher nur die NSA in Europa am medialen Pranger stand. Es ist auch typisch für Deutschland, dass eine solche Diskussion über den eigenen Dienst in den Medien ausgetragen wird. Ähnliches wäre in Großbritannien und Frankreich nicht vorstellbar. Selbst in Österreich ist der Begriff der Selektoren im Zusammenhang mit den Installationen für die Überwachung des Fernmeldeverkehrs auf österreichischem Territorium nicht einmal Thema. Es wäre aber auch absurd anzunehmen, dass die österreichischen nachrichtendienstlichen Strukturen sich überhaupt der Mühe unterzogen haben, eigene Selektoren zu identifizieren. Oder doch?
Und einmal mehr wird in die falsche Richtung aufgeklärt. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, ob die Ergebnisse der Auswertung nationaler Selektoren mit anderen Diensten geteilt wurden und ob die Bundesregierung(en) davon Kenntnis hatte(n). Dies wirft grundsätzlich die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Abläufen nachrichtendienstlicher Arbeit in Deutschland und anderswo auf.
Die Abgeordneten des Parlamentarischen Kontrollgremiums zu der BND-internen Selektoren-Affäre beabsichtigen, eine Task-Force einzurichten und diese nach Pullach zu entsenden. Es sind zu viele Fragen offengeblieben, wie etwa ob die Einspeisung der Selektoren, seien es eigene oder die der NSA, gegen deutsche Gesetze verstößt. Die Analyse der BND-internen Selektoren ist noch viel brisanter als die Analyse der NSA-Selektoren.
Mit der Einsetzung eines externen „Gutachters“ seitens der Bundesregierung hatte man beabsichtigt, die NSA-Selektoren einer genaueren Überprüfung zu unterziehen. Es wird sich herausstellen, dass es auch einem ehemaligen Richter am Bundesverwaltungsgericht, Kurt Graulich, nicht möglich sein wird, die Masse der NSA-Selektoren auf ihre Relevanz hin zu überprüfen. Selektoren sind überwiegend nicht sofort zuzuordnen; jedenfalls ist für eine umfassende Identifizierung, rechtliche Prüfung und eindeutige Zuordnung dieser Selektoren die Mitarbeit der NSA erforderlich. Hier sind Zweifel durchaus berechtigt, ob die NSA für eine solche Zusammenarbeit zur Verfügung steht oder ob es überhaupt politisch opportun ist, eine solche Zusammenarbeit anzustreben. Wohl eher nicht.
Anders stellt sich die Situation im Hinblick auf die BND-internen Selektoren dar. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die deutsche Regierung bereit sein wird, dem Kontrollgremium des Deutschen Bundestages darüber Auskunft zu geben. Schon im September stand der umfangreiche Schriftverkehr des BND dem Kontrollausschuss des Deutschen Parlamentes nicht zur Verfügung, da der BND in Pullach versehentlich eine große Menge an Datenmaterial irrtümlich vernichtete, berichtet die Zeit am 24. 09. 2015.
Hinter der Offenlegung der BND-eigenen Selektoren verbirgt sich eine brisante Frage; hat die Deutsche Regierung ihre Aufsichtspflicht gegenüber dem BND vernachlässigt; ja, mehr noch: Hat sich die Deutsche Regierung schuldig gemacht, indem der BND politische, wirtschaftliche und personenbezogene Informationen nahezu ungefiltert einem amerikanischen Nachrichtendienst quasi frei Haus geliefert hat. Bis heute ist nicht klar, wie groß die Anzahl der von den USA eingespeisten Selektoren tatsächlich war. Und in der qualitativen Beurteilung der BND-internen Selektoren steht man erst am Anfang.
Bisher ist klar, dass die den Selektoren vorgeschalteten G-10-Filter inhaltlich und technisch zu kurz griffen. G-10-Filter sollten verhindern, dass durch diese Selektoren nicht Deutsches Recht verletzt wird. Nach dem bisherigen Erkenntnisstand waren diese Filter alleine schon technisch dazu nicht in der Lage. Der BND und die Deutsche Bundesregierung haben dieses Manko schlicht in Kauf genommen. Dies ist allerdings nur ein Aspekt dieser Affäre, der Aufschluss geben wird, in welchem Ausmaß sich der BND als eine europäische Außenstelle der amerikanischer Begehrlichkeiten in Europa missbrauchen ließ und warum die Politik dies zuließ. Je länger diese Affäre andauert, umso verständlicher wird die bisherige Passivität der Deutschen Bundesregierung zur Aufklärung dieser Affäre.
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Dr. Gert R. Polli; von 2002 bis 2008 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung der Republik Österreich.