Politik

Top-Ökonom: Die USA sind der kranke Mann der Weltwirtschaft

Lesezeit: 8 min
29.07.2015 01:29
Der Chefvolkswirt der Bremer Landesbank, Folker Hellmeyer, fordert die Emanzipation Europas von den USA. Die US-Regierung versuche, die Euro-Zone nach dem Prinzip „Teile und herrsche!“ zu destabilisieren. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Der Konsum auf Pump in den USA sei nicht nachhaltig und habe die USA schon wieder auf Crash-Kurs gebracht. Die viel gescholtene Euro-Zone habe die viel bessere Wirtschaft. Europa sollte sich daher in Richtung Chinas und Russlands orientieren.

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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der Euro-Zone – und in diesem Fall damit auch Europa – wird wieder einmal der Untergang vorhergesagt. Wie steht es denn um die wirtschaftliche Substanz der Euro-Staaten?

Folker Hellmeyer: Die wirtschaftlichen Grundlagen der Eurozone und ihrer Länder sind sehr viel substantieller als die der USA, Japans oder Großbritanniens. Die mediale Berichterstattung darüber ist trotz meines beständigen Bemühens, diese Themen im „Mainstream“ in den Fokus zu rücken, ernüchternd. Von daher freue ich mich, die Fakten hier präsentieren zu dürfen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sehr gerne, wir sind auch überzeugte Europäer...

Folker Hellmeyer: Werfen wir zunächst den Blick auf Strukturdaten:

Bei den öffentlichen Haushalten ist die strukturelle Kerngröße, die nachhaltige Prognosen über die Tragfähigkeit des Geschäftsmodells der Volkswirtschaften zulässt, der konjunkturell bereinigte Primärhaushalt. Hier hat die Eurozone per 2015 laut IWF (Fiscal Monitor 04/2015) einen Überschuss in Höhe von 1,2% der Wirtschaftsleistung. Die USA liefern ein Defizit in Höhe von 1,8% des BIP. Das Vereinigte Königreich wartet mit -2,4% des BIP auf und Japan bringt es auf sportliche -5,4% des BIP. Ergo hat die Eurozone das Tal der strukturellen Defizite durchschritten, die USA, das UK und Japan nicht. Durch Reformen ist die internationale Konkurrenzfähigkeit der schwachen Länder der Eurozone wiederhergestellt worden. Damit hat die Eurozone eine solide aktive Handels- und Leistungsbilanz ganz im Gegensatz zu den USA und dem UK, die hier mit strukturellen Defiziten konfrontiert sind.

Entscheidend ist die Unternehmensstruktur. Dafür eignet sich der Blick auf die „Hidden Champions“ (Definition: Nummer 1 im Heimatmarkt und unter den Top 3 der Weltwirtschaft). Japan hat mit 127 Millionen Menschen circa 250 Hidden Champions, die USA haben mit 320 Millionen Menschen circa 350 und Deutschland hat alleine 1.300 „Hidden Champions“. Die Zahl für die Eurozone sollte im Dunstkreis knapp unter 2.000 liegen. Jetzt dürfen Sie auch eine Ahnung haben, warum die NSA & Co. hier Wirtschaftsspionage betreiben.

Der Blick auf die Konjunktur ist gleichfalls ermutigend. Dazu bedienen wir uns der Frühindikatoren der OECD (aktueller Wert 100,0). Während die Indikatoren für die Eurozone seit Oktober letzten Jahres von 100,3 auf 100,7 anzogen, sanken die Indikatoren der USA von 100,4 auf 99,5, des UK von 100,6 auf 99,8, während Japans Indikator unverändert bei 99,9 Punkten verharrte.

Anders ausgedrückt, war die Reformpolitik der Eurozone trotz fraglos großer Schmerzen unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit richtig und faktisch unverzichtbar. An die Adresse der USA, Japans und des UK ist die Mahnung gerichtet, dass man mit Interventionen - was nichts anderes als Kosmetik ist - „eine Nacht“, aber nicht die Zukunft gewinnen kann.

Sofern Interventionen mit Reformen verbunden sind, also das Modell der Eurozone, sind Interventionen als temporäres Mittel vertretbar.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wenn man Ihre Zahlen genau betrachtet, muss man eigentlich zu dem Schluss kommen: Die USA sind der „kranke Mann“ der Weltwirtschaft. Wo liegen die Probleme der US-Wirtschaft?

Folker Hellmeyer: In den USA hat es seit 2008 keine Reformen gegeben. Man wiederholt gerade das Wirtschaftsmodell, das zur Krise 2008/2009 geführt hat. Die USA haben eine konsumgetriebene Ökonomie. Circa 70% der Wirtschaftsleistung stehen damit im Zusammenhang. Seit der Lehman-Pleite sind die mittleren US-Einkommen nominal um circa 3,5% gestiegen. Die Konsumverschuldung legte dagegen nominal um 25% zu. Mittlerweile werden die Kredite im Automobilsektor so vergeben wie am Immobilienmarkt vor 2008. Die Ankaufbedingungen für Hypotheken sind bei Fannie Mae und Freddie Mac wieder auf dem Niveau von 2007. Die volkswirtschaftlichen Nachfragekurven sind eben nicht wie in der Eurozone von wiederkehrenden Einkommen, sondern von Nachfrage auf Pump geprägt. Das ging nicht gut, und das geht auch zukünftig nicht gut. Die USA sind der kranke Mann, und für diese falsche Struktur werden sie ihren Preis zukünftig zahlen müssen.

Sollte es zu einer wirklichen Zinswende in den USA kommen, wird dieser negative konjunkturelle Anpassungsprozess beschleunigt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie haben neulich in einem Vortrag in München gefragt: Steht die Welt vor einer neuen Teilung? Sind die Spannungen zwischen den USA und Europa damit zu erklären, dass Europa im Grunde eine bessere Performance hat als die USA?

Folker Hellmeyer: Wir sind mit der größten Auseinandersetzung um Macht seit 1945 konfrontiert. Die USA sind bemüht, ihren westlichen Machtbereich zu konsolidieren, um sich dann der Herausforderung der aufstrebenden Länder zu stellen, die mittlerweile für 56% der Weltwirtschaftsleistung, für 85% der Weltbevölkerung und 70% der internationalen Devisenreserven stehen. Dabei forcieren die USA eine Teilung der Welt, erkennbar Westeuropa gegen Russland, aber im größeren Stil: der Westen gegen die aufstrebenden Länder. Die Globalisierung erhöhte das Potentialwachstum der Weltwirtschaft. Eine jetzt im Raum stehende Entglobalisierung wäre eine weltwirtschaftliche Hypothek. Das belastete exportstarke Länder, ergo Deutschland und die Eurozone.

Die Konsolidierung des US-Machtbereichs hat mehrere Facetten.

Erstens gilt es aus Sicht der USA, die potentiell dynamischen Synergieeffekte aus einer voll funktionierenden Eurozone und den daraus erwachsenen Machtansprüchen innerhalb der westlichen Gemeinschaft keinen angemessenen Entwicklungsraum zu bieten. „Divide et impera“ lautet hier die Losung. Nur unter diesem Aspekt sind auch die Spitzen gegen Herrn Schäuble und unsere Reformpolitik nachvollziehbar. So kann man die Sanktionspolitik gegen Russland, die maßgeblich Kontinentaleuropa schwächt, aber auch die US-Mittelmeerpolitik, deren Kosten hier fiskalisch und gesellschaftspolitisch anfallen, interpretieren.

Der zweite Aspekt liegt in dem Versuch der Gleichschaltung. Irreversible Verträge werden angeboten. Bezüglich der Bilanzierung haben wir uns irreversibel bereits in die Hände nicht demokratisch legitimierter Interessenvertreter (IFRS-Board in London) begeben, die damit Determinationsmacht über die Form und Geschwindigkeit des Managements unserer Ökonomie und in der Folge der Gesellschaft haben. Das TTIP-Abkommen ist der nächste irreversible Vertrag, der eine nachhaltig bindende Wirkung und mittel- langfristig nach meinem Dafürhalten eine Unterordnung ohne Mitspracherecht in Washington zementiert. Unsere deutsche und europäische Außenpolitik sollte wissen, dass es die US-Doktrin gibt, dass die USA sich nur an Verträge halten, die zu ihren Gunsten ausfallen (Bush-Doktrin). Wie kann man da irreversible Verträge schließen. Man verhaftet alle kommenden Generationen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Es fällt auf, dass in der Euro-Krise die US-Politik eher lauwarm agiert hat; die US-Ökonomen dagegen haben aus allen Rohren geschossen, und gesagt: Der Euro ist am Ende. Will die US-Regierung den Euro zerstören, um einen lästigen Wettbewerber aus dem Weg zu räumen?

Folker Hellmeyer: Ich bin der festen Überzeugung, dass die US-Politik nicht lauwarm agiert hat. Ganz im Gegenteil. Das ist wie mit einem Eisberg. Man sollte nicht nur auf die Oberfläche achten. Was unterhalb der Oberfläche liegt, hat eine viel größere Bedeutung. Ergo ist diese Wahrnehmung der lauwarmen Reaktion sehr wohl medial gewollt, aber faktisch grundfalsch. Das weiß man spätestens auch seit Mitte 2011 im Kanzleramt.

Die eingesetzten Speerspitzen sind US-Ökonomen, die bereits willfährige Begleiter aller Fehlentwicklungen in den USA in den letzten 20 Jahren waren. Könnte es sein, dass Ökonomen, Finanz- und Wirtschaftsmedien bewusst für US-Interessen eingesetzt werden? Wir wissen von Herrn Snowden ja auch, dass die US-IT-Branche willfähriger Begleiter der US-Außen- und Innenpolitik war, und unter Umständen weiter ist.

Es geht nicht um die Zerstörung der Eurozone, sondern es geht um das Mittel der Kontrolle der Prozesse und ein Verhindern der nachhaltig positiven Synergieeffekte – das klassische „Divide et impera“ im Rahmen der US-Machtpolitik.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Mit den Russland-Sanktionen haben die USA der EU schweren Schaden zugefügt. Sollte sich die EU da jetzt nicht mal endlich widersetzen?

Folker Hellmeyer: Ja, das fordere ich immer wieder ein. Unsere EU-Politiker sind gewählt, unsere Interessen zu vertreten. Dafür müsste es dann allerdings auch eine sachgerechte Darstellung der Situation in der Ukraine geben. Da müsste man seitens der EU unter Umständen massive Fehleinschätzungen eingestehen. Man müsste vor allen Dingen den Rücken gegenüber Washington gerade machen. Können „wir“ das?

Fakt ist, dass die ökonomische Zukunft in den aufstrebenden Ländern liegt. Die EU hat doch nicht nur Russland die ökonomische Zuverlässigkeit aufgekündigt, sondern faktisch allen aufstrebenden Ländern, die nicht zum engeren Freundeskreis der USA gehören.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Bisher haben alle US-Interventionen (Irak, Libyen, Syrien) dazu geführt, dass die Europäer die Rechnung bezahlen. Mit den Flüchtlings-Strömen werden Millionen Menschen ins Elend gestürzt und suchen in Europa Rettung. Wäre es nicht an der Zeit, in Richtung Washington zu sagen: „Genug ist genug!“?

Folker Hellmeyer: Ja, das gilt auch vor dem Hintergrund der westlichen Werte der Toleranz und des Pluralismus. Man kann unseren heutigen westlichen Zeitgeist weder in Afghanistan, noch im Irak oder in Libyen, Ägypten, Syrien oder der Ukraine herbeiputschen oder herbeibomben. Als Hanseat weiß ich, dass belastbarer Wandel nur durch Handel und dadurch gestiftete gemeinsame Interessen realisierbar ist. Alles andere ist grobe Machtpolitik, die mit den westlichen Werten der Toleranz und des Pluralismus, die wir vorgeben, nur wenig, wenn überhaupt etwas gemein hat.

Unser Ziel muss es sein, die Mittelmeerländer nach innen zu stabilisieren. Damit sind wir faktisch verpflichtet, uns gegen die US-Interventionspolitik und ihre stillen, aber potenten Interessenvertreter der Non Government Organisations (NGO) zu stellen, wenn wir es ernst meinen, Schaden von unseren Bürgern in Deutschland und der EU fernzuhalten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was kostet Deutschland eigentlich die Abhängigkeit von den USA?

Folker Hellmeyer: Das ist ein Thema mit vielen Facetten. Da gibt es aus historischer Sichtweise positive Seiten, unter anderem der Klassiker „Marshall-Plan“. Es gibt die Tatsache, dass man uns zumindest vordergründig militärische Sicherheit gibt. Es griffe aber zu kurz, sich in der Würdigung darauf zu beschränken. Die Gleichschaltung der EU in der US-Sanktionspolitik kostet uns entgangenes Wachstum und es kostet uns die Wahrnehmung auf internationaler Bühne als eigenständige politische Größe. Die internationale Wirtschaftsspionage belastet uns laut BDI mit circa 50 Milliarden Euro pro Jahr über alle Ebenen. Nach meinen groben Schätzungen entfällt ein 60% Anteil auf die USA. Ergo reden wir von einem „Clubbeitrag“ von 30 Milliarden Euro pro Jahr für die „Wertegemeinschaft“ mit den USA. Dabei will ich es hier belassen. Sie sehen mich ob dieser Kosten und der damit verbundenen Interessenvertretung durch unsere Eliten betrübt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie sehen ganz klar die Zukunft in der Achse China-Russland. Was bedeutet das Projekt „Seidenstraße“ konkret in diesem Zusammenhang?

Folker Hellmeyer: Es ist das größte Wirtschafts- und damit Wachstumsprojekt in der Geschichte seit Bau der chinesischen Mauer. Es geht um die infrastrukturelle Erschließung von Moskau bis Wladiwostok, bis Südchina, bis Südindien, bis Pakistan und Afrika. Es ist einmal das quantitative Wachstum bei dem Aufbau der Infrastruktur, es ist aber auch die Anbindung von circa 1,5 Milliarden Menschen, die nun voll in die Weltwirtschaft integriert werden. Ergo handelt es sich, im Gegensatz zu dem US-Konsummodell, hier um investives wirtschaftliches Handeln mit ökonomischen Sekundär- und Tertiäreffekten. Die Umsetzung dieses Projekts beginnt im kommenden Jahr und wird die Weltwirtschaft voraussichtlich die nächsten 20 Jahre ökonomisch erfrischen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Müsste Deutschland nicht schleunigst alle Anstrengungen unternehmen, um an dem Projekt zu partizipieren?

Folker Hellmeyer: Das ist so. Leider fliegen wir derzeit aus den Großprojekten raus, weil wir Russland unsere ökonomische Zuverlässigkeit aufkündigten. Es gärt diesbezüglich in vielen Unternehmen in Deutschland. Es gärt aber auch in Ländern wie Österreich, Finnland oder Italien. Je früher das Sanktionsregime gestoppt wird, desto besser werden die Chancen der Partizipation.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum ist der US-Markt für Deutschland weniger wichtiger als die BRICS?

Folker Hellmeyer: Der US-Markt ist groß, das macht ihn attraktiv. Das dynamische Wachstum liegt aber in den aufstrebenden Ländern. Diese 56% der Weltwirtschaft wachsen mit einem Wachstumsclip von 4% - 5%.

Die US-Wirtschaft mit circa 17% Anteil an der Weltwirtschaft wächst mit circa 2%. Wer rechnen kann, erkennt das entscheidende Potential …

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was passiert, wenn der Euro wirklich auseinanderfällt?

Folker Hellmeyer: Erst einmal hätten wie ökonomisches Chaos, das die kleine Frau und der kleine Mann bezahlen würde. Zweitens würde Kontinentaleuropa dann zum lockeren Spielball dritter Mächte, allen voran der Vereinigten Staaten. Die nationale Kleinteiligkeit wäre der Tod unserer humanistisch geprägten kontinentaleuropäischen Agenda.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Bitte um eine subjektive Einschätzung: Wo steht Europa im Jahr 2025?

Folker Hellmeyer: Wenn unsere politischen und wirtschaftlichen Eliten unsere Potentiale verstehen und Verantwortung leben und daraus den Pfad einer Emanzipation gegenüber den USA einschlagen und die Tür gen Osten öffnen, wird die Eurozone 2025 ganz weit vorne stehen. Dann werden die strukturellen Vorteile, die ich eingangs erwähnte, ihre volle ökonomische Blüte erfahren. Der Wohlstand würde gemehrt und mehr Frieden wäre in unserer Hemisphäre die Folge. Dafür setze ich mich ein. Das Negativszenario erspare ich mir, ich bitte um Ihr Verständnis.


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