Britische Buchmacher gehen weiterhin klar von einem Verbleib Großbritanniens in der EU aus. Die Quoten einschlägiger Wettanbieter sehen derzeit mit etwa 65-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen Sieg der EU-Befürworter bei dem Referendum am 23. Juni voraus.
Der Online-Wettanbieter Betfair beziffert die Wahrscheinlichkeit eines Verbleibs derzeit mit 67 Prozent. Vor zwei Tagen betrug die Wahrscheinlichkeit noch 60 Prozent – unklar bleibt, ob das Attentat auf die Labour-Abgeordnete Jo Cox mit dem Anstieg in Verbindung steht. Am 9. Juni signalisierte Betfair noch eine Wahrscheinlichkeit von fast 76 Prozent, dass die Briten am 23. Juni für einen Verbleib in der Europäischen Union plädieren werden.
Der Buchmacher Ladbrokes stuft die Wahrscheinlichkeit eines Verbleibs Großbritanniens in der EU mit 66 Prozent ein – 34 Prozent der Briten würden demnach für einen Austritt votieren. Auch Ladbrokes verzeichnete in den vergangenen Wochen einen Anstieg der EU-Skeptiker und neuerdings einen leichten Dämpfer.
Die Buchmacher von William Hill zahlen für jedes Pfund, dass auf einen Verbleib gewettet wird, 1,44 Pfund aus – für ein auf einen Austritt gesetztes Pfund gibt es derzeit 2,75 Pfund. Interessant ist die Aufgliederung nach einzelnen Regionen: In Schottland wird demnach mit einem deutlichen Sieg der EU-Befürworter gerechnet – für ein in Schottland gesetztes Pfund auf den Brexit würden mehr als 11 Pfund ausgezahlt. In Wales und England hingegen scheint der Wahlausgang umstrittener zu sein.
Nach Angaben von Paddy Power werden zwar 60 Prozent der einzelnen Wetten auf einen Brexit gesetzt. Die Summe macht allerdings nur 14 Prozent des gesamten Betrages dieser Wetten aus. Vor wenigen Tagen lag die durchschnittlich gesetzte Summe für eine Brexit-Wette bei 36 Pfund, der für einen Verbleib dagegen bei 333 Pfund – das ist fast das Zehnfache. Offenbar rechnen die Brexit-Wetter selbst nicht so recht mit einem Erfolg, sonst würden sie höhere Summen setzen.
Der Mord an Cox hat allem Anschein nach zwar nichts mit dem Brexit zu tun, sondern wurde von einem psychisch kranken Mann verübt. Trotzdem könnte sich das Ereignis auf das Abstimmungsverhalten auswirken. Folker Hellmeyer von der Bremer Landesbank schreibt in einer Einschätzung: "Volksbefragungen haben immer eine starke emotionale Komponente und in der Tat ist es nicht abwegig, dass dieser Mord eine Rolle spielen kann. Sollte sich jedoch herausstellen, dass dieser Mord keine innenpolitischen Hintergründe hat, besteht auch die Möglichkeit, dass die Auswirkungen auf ein Brexit-Votum vernachlässigbar sein werden."
Die Buchmacher sehen seit Wochen einen klaren Vorsprung der EU-Befürworter. Umfragen dagegen schwanken traditionell. Schon bei den britischen Parlamentswahlen lagen die Umfragen komplett daneben: Sie sagte ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus, das sich in der Realität als klarer Sieg für David Cameron zeigte.
Politiker und Lobbyisten aller Couleur nützen jeden Twist der Brexit-Debatte zu neuen Sprechblasen. Die meisten Inhalte sind apokalyptischer Natur. Wie im Fall Cox werden Ereignisse aber auch genutzt, um nicht miteinander zusammenhängende Ereignisse politisch zu instrumentalisieren. So schrieb der Spectator, dass Nigel Farage zwar nicht schuld an dem Mord sei, doch seine radikalen Parolen dazu führen, dass Menschen auch radikale Taten begehen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederum sagte: "Ich glaube, dass die Lehre daraus ganz allgemein sein muss, dass wir einander mit Respekt begegnen müssen, auch wenn wir unterschiedliche politische Auffassungen haben", sagte Merkel am Freitag in Berlin. Sie kritisierte eine "Überhöhung" und "Radikalisierung" der Sprache, die oft die Auseinandersetzung noch anheize. "Deshalb sind wir alle, die wir demokratische Spielregeln schätzen und wissen, wie wichtig das ist, auch in der Wahl der Sprache, auch in der Wahl der Argumente .... Grenzen zu ziehen und mit Respekt anders Denkenden gegenüberzustehen, auch anders Glaubenden, anders Lebenden, anders Liebenden". Sonst werde die Radikalisierung kaum aufzuhalten zu sein.
Das ist alles durchaus zutreffend und sollte im allgemeinen politischen Diskurs unbedingt berücksichtigt werden. Es hat jedoch unmittelbar nichts mit dem konkreten Fall eines psychisch kranken Mörders zu tun. Solche Ereignisse gibt es, seit es Menschen und Politik gibt: In Deutschland waren unter anderem Wolfgang Schäuble und Oskar Lafontaine Opfer solcher Attentate geworden.