Junckers Diagnose der Lage der EU im Wortlaut:
Vor einem Jahr stand ich hier und habe Ihnen gesagt, dass unsere Union in keinem guten Zustand ist –, dass es an Europa fehlt in dieser Union und an Union fehlt in dieser Union.
Ich werde mich heute nicht hinstellen und Ihnen sagen, dass nun alles in Ordnung ist. Denn das ist es nicht.
Lassen Sie uns eine ganz ehrliche Diagnose stellen.
Unsere Europäische Union befindet sich – zumindest teilweise – in einer existenziellen Krise.
Im Laufe des Sommers habe ich aufmerksam zugehört, wenn mir die Abgeordneten dieses Parlaments, Regierungsvertreter, viele nationale Parlamentarier und europäische Bürgerinnen und Bürger erzählt haben, was ihnen auf dem Herzen liegt.
Ich habe mehrere Jahrzehnte europäischer Integration miterlebt. Es gab viele starke Momente. Und natürlich gab es auch schwierige Zeiten und Krisenzeiten.
Aber nie zuvor habe ich so wenige Gemeinsamkeiten zwischen unseren Mitgliedstaaten gesehen. So wenige Bereiche, bei denen sie sich darauf einigen können, zusammenzuarbeiten.
Nie zuvor habe ich so viele Spitzenpolitiker nur von ihren innenpolitischen Problemen reden hören, wobei Europa stets nur beiläufig erwähnt wurde – wenn überhaupt.
Nie zuvor habe ich erlebt, dass Vertreter der EU-Institutionen ganz andere Prioritäten setzen – manchmal sogar in direktem Widerspruch zu den nationalen Regierungen und den nationalen Parlamenten. Gerade so, als gäbe es kaum noch Schnittpunkte zwischen der EU und den Hauptstädten ihrer Mitgliedstaaten.
Nie zuvor habe ich nationale Regierungen derart von populistischen Kräften geschwächt und von drohenden Wahlniederlagen gelähmt gesehen.
Nie zuvor habe ich so viel Spaltung und so wenig Gemeinsinn in unserer Union gesehen.
Wir stehen nun vor einer sehr wichtigen Entscheidung.
Geben wir nun etwa dem ganz verständlichen Gefühl der Frustration nach? Verfallen wir allesamt in kollektive Depression? Wollen wir zusehen, wie sich unsere Union vor unseren Augen auflöst?
Oder sagen wir: Ist das nicht der Moment, sich zusammenzureißen? Der Moment, die Ärmel hochzukrempeln und unsere Anstrengungen zu verdoppeln und zu verdreifachen? Ist das nicht der Moment, in dem Europa mehr denn je eine entschlossene politische Führung braucht – statt Politikern, die einfach das Schiff verlassen.
Unsere Betrachtungen zur Lage der Union müssen mit einem Sinn für Realität und großer Ehrlichkeit beginnen.
Zuerst einmal sollten wir zugeben, dass wir in Europa eine Menge ungelöster Probleme haben. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.
Von hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit über staatliche Schuldenberge und die ungeheure Herausforderung der Flüchtlingsintegration bis hin zu der sehr realen Bedrohung unserer Sicherheit im In- und Ausland – jeder einzelne EU-Mitgliedstaat ist von den anhaltenden Krisen unserer Zeit betroffen.
Wir stehen sogar vor der traurigen Aussicht, dass eines unserer Mitglieder unsere Reihen verlässt.
Zweitens sollten wir uns bewusst sein, dass die Welt auf uns blickt.
Ich bin gerade vom G20-Treffen in China zurückgekommen. Europa besetzt sieben Stühle am Tisch dieses wichtigen globalen Forums. Und doch gab es – trotz unserer großen Präsenz – mehr Fragen als wir gemeinsame europäische Antworten hatten.
Wird Europa also weiterhin in der Lage sein, Handelsvereinbarungen zu treffen und Wirtschafts-, Sozial- und Umweltstandards für die Welt zu gestalten?
Wird sich die europäische Wirtschaft endlich erholen oder für die nächsten zehn Jahre in geringem Wachstum und niedriger Inflation feststecken?
Wird Europa weiterhin weltweit führend sein, wenn es um den Kampf für die Menschenrechte und Grundwerte geht?
Wird Europa die Stimme erheben und mit einer Stimme sprechen, wenn territoriale Integrität bedroht – und Völkerrecht verletzt wird?
Oder wird Europa vom internationalen Parkett verschwinden und es anderen überlassen, die Welt zu gestalten?
Ich weiß, dass Sie hier in diesem Haus nur allzu bereit wären, klare Antworten auf diese Fragen zu geben. Aber wir müssen unseren Worten gemeinsame Taten folgen lassen. Sonst bleiben es nur: Worte. Und mit Worten allein können wir keinen Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen.
Drittens sollten wir einsehen, dass wir nicht all unsere Probleme mit einer weiteren Rede lösen können. Oder mit einem weiteren Gipfel.
Denn dies sind nicht die Vereinigten Staaten von Amerika, wo der Präsident eine Rede zur Lage der Union vor beiden Kammern des Kongresses hält und Millionen von Bürgerinnen und Bürgern jedes Wort live im Fernsehen mitverfolgen.
Im Vergleich dazu zeigt unsere Rede zur Lage der Union hier in Europa sehr deutlich, wie unvollständig das Wesen unserer Union ist. Heute spreche ich vor dem Europäischen Parlament. Und am Freitag treffe ich gesondert in Bratislava mit den Staats- und Regierungschefs zusammen.
Also kann ich mit meiner Rede nicht lediglich Ihren Beifall suchen und außer Acht lassen, was die Staats- und Regierungschefs am Freitag sagen werden. Ich kann auch nicht in Bratislava mit einer anderen Botschaft erscheinen als heute vor Ihnen. Ich muss also berücksichtigen, dass unsere Union zwei Ebenen der Demokratie hat, die gleichermaßen wichtig sind.
Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Europa. Unsere Europäische Union ist viel komplexer. Und wenn wir diese Komplexität ignorieren, wäre dies ein Fehler, der uns zu falschen Lösungen führen würde.
Europa kann nur funktionieren, wenn Reden, die das gemeinsame Projekt unterstützen, nicht nur in diesem hohen Hause gehalten werden, sondern auch in den Parlamenten all unserer Mitgliedstaaten.
Europa kann nur funktionieren, wenn wir alle nach Einheit und Gemeinsamkeit streben und das Gerangel um Kompetenzen und die Rivalitäten zwischen Institutionen hinter uns lassen. Nur dann ist Europa mehr als die Summe seiner Teile. Und nur dann kann Europa besser und stärker werden, als es heute ist. Nur dann werden die Vertreter der EU-Institutionen und der nationalen Regierungen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unser gemeinsames Projekt zurückgewinnen.
Die Europäer sind unsere endlosen Streitereien, die Querelen und das Gezerre nämlich leid.
Die Europäer wollen konkrete Lösungen für die entscheidenden Probleme, vor denen unsere Union steht. Und sie wollen mehr als Versprechen, Entschließungen und Gipfel-Schlussfolgerungen. Davon haben sie schon genug gehört und gesehen.
Die Europäer wollen gemeinsame Entscheidungen, die anschließend auch rasch und wirksam umgesetzt werden.
Ja, wir brauchen eine langfristige Vision. Und die Kommission wird eine solche Zukunftsvision im März 2017 – rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge – in einem Weißbuch darlegen. Wir werden aufzeigen, wie wir unsere Wirtschafts- und Währungsunion stärken und reformieren können. Wir werden auch den politischen und demokratischen Herausforderungen Rechnung tragen, mit denen unsere Union der 27 in Zukunft konfrontiert sein wird. Und natürlich wird das Europäische Parlament, ebenso wie die nationalen Parlamente, eng in diesen Prozess eingebunden sein.
Eine Vision allein reicht aber nicht aus. Was unsere Bürgerinnen und Bürger viel mehr brauchen, ist, dass jemand lenkt und auf die Herausforderungen unserer Zeit reagiert.
Europa ist wie ein aus vielen Schnüren gedrehtes Seil – es hält nur, wenn alle – die EU-Organe, die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente – am selben Strang und in die gleiche Richtung ziehen. Wir müssen erneut zeigen, dass das in ausgewählten Bereichen, in denen gemeinsame Lösungen am dringendsten benötigt werden, möglich ist.