Das neue Jahr in Syrien begann verheißungsvoll mit einem „fragilen Waffenstillstand“, wie der russische Präsident Wladimir Putin sagte. Regierung und bewaffnete Gruppen in Syrien zeigten sich – durch die Vermittlung von Russland, Iran und der Türkei – zu neuen Verhandlungen bereit, die am 23. Januar 2017 in Astana, der Hauptstadt von Kasachstan, beginnen sollen.
Ausgeschlossen von der Vereinbarung sind die international als terroristisch eingestuften „Front zur Eroberung von Syrien“ (Jabhat al Fatah al-Sham, bisher al Nusra-Front), der selbst ernannte „Islamische Staat im Irak und in der Levante“ (arabische Abkürzung: Daesh) und die Gruppen, die mit diesen kooperieren. Dass einigen Gruppen noch immer die nötige Distanz zu diesen Al-Khaida-Ablegern fehlt, zeigt sich derzeit im Barada-Tal bei Damaskus, bei Hama und in Idlib.
Wiederaufbau in Aleppo
Eine große Regierungsdelegation besuchte am Neujahrstag die nordsyrische Stadt Aleppo, um sich ein Bild von den wirtschaftlichen Zerstörungen zu machen. Geleitet wurde die 15-köpfige Delegation von Ministerpräsident Imad Khamis. Der gelernte Elektroingenieur war früher Minister für Elektrizität und kennt das Ausmaß der zerstörten syrischen Infrastruktur nur zu gut. Alle Seiten müssten in den Wiederaufbau von Aleppo einbezogen werden, versprach Khamis und rief dazu auf, „neue Visionen“ für die Stadtentwicklung vorzulegen. Der Flughafen, die zivile Infrastruktur, die Versorgung mit Strom und Wasser, Schulen, Krankenhäuser – vieles sei zu restaurieren. Besonders weit oben auf der Agenda steht auch für Khamis der Wiederaufbau des Industriesektors der Stadt, der vor dem Krieg täglich Millionen US-Dollar in die Kassen der Geschäftsleute spülte. Voraussetzung für alles sei, dass die innersyrische Versöhnung voranschreite, betonte Khamis. In Aleppo bedeutet das eine neue und nachhaltige Verständigung von der städtischen Geschäftswelt von Aleppo mit den konservativen Bewohnern im Umland. Beide trennen Welten. Während die städtische Bevölkerung sich modern, aufgeschlossen, laizistisch zeigt, ist die ländliche Bevölkerung meist konservativ religiös orientiert und lebt in Großfamilien und Stammesverbänden.
In Damaskus wurde wenige Tage später eine dreitägige Messe der Vereinigung der syrischen Exporteure eröffnet. Mit dabei mehr als 100 irakische Geschäftsleute und Industrielle, die den syrischen Kollegen mit Rat, Tat, Investitionen und Aufträgen beiseite stehen sollen. Der angestrebte bilaterale Handel soll vor allem syrische Unternehmen der Textilbranche, in der Landwirtschaft, Transport, Verpackung und im Finanzsektor unterstützen. Der für Wirtschaft und Außenhandel zuständige Minister Adib Mayyaleh würdigte die syrischen Unternehmer für ihr Durchhaltevermögen. Trotz Zerstörung und Plünderung hätten sie ihre Produktion aufrechterhalten. Nun hoffe er auf die Wiederherstellung der Handelsbeziehungen mit dem Irak, was den syrischen Unternehmen nutzen solle.
Mit einer Nadel Tunnel graben
„China, Iran, Russland, Weißrussland, Irak und einige arabische Länder” seien heute die wichtigsten Handelspartner Syriens, sagt Minister Mayyaleh im Gespräch mit den Deutschen Wirtschafts Nachrichten in Damaskus. Mayyaleh hat Ökonomie in Frankreich studiert und leitete 11 Jahre lang die Zentralbank Syriens. Der Interviewtermin findet spät am Abend statt, der Terminkalender von Adib Mayyaleh ist dicht gedrängt. Er spricht leise, während er den vor sich liegenden DWN-Fragenkatalog abarbeitet.
Die Syrer seien entschlossen, ihr Land wieder aufzubauen. Selbst wenn es keine Kompensation von den Staaten gäbe, die mit ihrer Finanzierung von Kampfgruppen die Zerstörung der syrischen Wirtschaft mit zu verantworten hätten, könne das den Willen der Syrer nicht brechen. „Wir können mit einer Nadel Tunnel graben. Mit unseren Händen werden wir unsere Fabriken und Häuser wieder aufbauen“. Hauptsache sei, dass das Ausland aufhöre „sich hier einzumischen”, so Mayyaleh. „Dann werden wir Syrien wieder aufbauen können.“
„In den sechs Jahren Krieg haben wir sechs Jahre Bruttosozialprodukt verloren“, so der Minister. Das lag nach Angaben der Weltbank 2010 bei 58,6 Milliarden US-Dollar. „Wir haben alle Öl- und Gasförderanlagen und die Quellen verloren.“ Die Zerstörung der Ölquellen durch wildes Fördern sei nicht nur ein finanzielles, sondern auch ein ökologisches Problem. „Wir haben unsere Ernten verloren. Wir exportierten Gerste und Weizen, heute müssen wir das importieren.” Allein die Kosten für die Zerstörung des Stromsektors schätzt der Minister auf Milliarden Syrische Pfund. „Wir haben die syrische Wirtschaft im Allgemeinen verloren. 2011 sagte mir ein Nobelpreisträger, Syrien sei – nach der Stufentheorie des US-Ökonom Walt Whitman Rostow für wirtschaftliches Wachstum – in der Phase des „wirtschaftlichen Aufstiegs“ (take-off). Wir hatten alle notwendigen Voraussetzungen geschaffen, Infrastruktur, Investitionen.“ Schon ein Jahr zuvor, 2010, hatte die Weltbank dem Entwicklungsland Syrien für 2015 einen steilen ökonomischen Aufstieg auf Platz fünf der arabischen Ökonomien vorausgesagt.
Minister Mayyaleh seufzt, hält einen Moment inne und fährt dann fort: „Und heute? Die gesamte Infrastruktur, an der wir 40 Jahre lang gebaut haben, ist zerstört. Wir hatten ein Eisenbahnnetz, das gibt es nicht mehr. Wir hatten Autobahnen, die sind zerstört oder von bewaffneten Gruppen besetzt. Der gesamte hydroenergetische Bereich, die Wasserkraftwerke, Dämme – alles verloren. Wir haben 40 Jahre unserer Arbeit verloren und wir sind im 6. Kriegsjahr, so sieht es aus.” Satellitenbilder zeigten deutlich die Zerstörung in den syrischen Provinzen: Aleppo, Damaskus, Homs, Hama, Idlib, Rakka, Deir Ezzor – keine Stadt sei verschont geblieben. „Wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg braucht Syrien einen umfassenden Fonds für den Wiederaufbau.“
Brain Drain und Wirtschaftssanktionen
Häuser, Straßen, Strommasten und Pipelines könne man wieder aufbauen, was sehr viel schwerer wiege, seien die sozialen Verluste des Krieges. Auf der einen Seite die vielen Toten, auf der anderen Seite „die vielen Lebenden, darunter viele Kriegsversehrte, die Medizin brauchen, die versorgt werden müssen, für die Geld gebraucht wird, damit sie ihre eigene Zukunft wieder aufbauen können“. Und dann sei da noch der „Brain Drain nach Europa“, die Abwanderung der Eliten: „Glauben Sie etwa, diese gut ausgebildeten, jungen Leute kommen nach Syrien zurück?“ Deutschland und Europa böten Syrern mit Diplom und guter Ausbildung finanzielle Unterstützung und Aufenthaltsrecht. „Alle diese Menschen, die hier 12 Jahre zur Schule gegangen sind, die vielleicht fünf Jahre lang studiert haben – alles staatlich finanziert – wir haben sie verloren.“
Jenseits der Schäden durch Krieg und Abwanderung der professionellen Elite, wird das Land auch durch Sanktionen der Europäischen Union und der USA belastet. Die US-Administration verhängte erstmals 1979 Sanktionen gegen Syrien, die 2004 und 2011 ausgeweitet und verschärft wurden. Die Europäische Union, 2010 der viertgrößte Handelspartner Syriens, zog 2011 nach. Im Mai desselben Jahres wurden alle EU-Syrien-Projekte gestoppt, dann folgten wirtschaftliche Strafmaßnahmen.
„Alle Syrer sind davon betroffen, besonders die Armen“, sagt Mayyaleh. Grundlegende Dinge wie Medikamente, Nahrungsmittel oder Ersatzteile aus Europa zu importieren, werden durch die Sanktionen blockiert. Selbst Öl, das Syrien wegen der Zerstörung und Besetzung der Ölquellen durch Terroristen importieren müsse, erreiche nur unter Schwierigkeiten das Land. Probleme gäbe es zudem bei der Versicherung der Lieferungen und bei der Bezahlung: „Versicherungsfirmen schließen mit Syrien keine Verträge ab, Banken akzeptieren nicht unser Geld.“
Die Sanktionen gegen die Ölwirtschaft waren die ersten, die im Herbst 2011 von der Europäischen Union gegen Syrien verhängt worden waren. Bis dahin hatte das Land einen Teil seiner bescheidenen Ölvorkommen (2010 waren es 380.000 Barrel/Tag) nach Europa verkauft. Da die syrischen Raffinerien (Homs, Banias) veraltet waren, erhielt das Land einen Teil des Öls raffiniert aus Europa zurück, für den Energiesektor oder für die chemische Industrie. Alle großen internationalen Ölfirmen waren in Syrien im Geschäft, es wurde in Ausbildung und in die Erneuerung der Förderanlagen investiert. Da die Ölvorkommen zurückgingen, bereitete sich das Land seit 2003 auf die Förderung von Naturgas vor. Große Naturgasfunde im östlichen Mittelmeer vor der syrischen Küste versprachen neue Energiequellen. 2010 trat ein Masterplan des Ministeriums für Öl und Naturressourcen in Kraft, der einen Umbau der Öl- zugunsten der Gasindustrie bis zum Jahr 2025 vorsah.
Während die EU-Sanktionen gegen die syrische Regierung weiter verschärft wurden, hob Brüssel im Mai 2013 die Sanktionen für den Ölsektor ausschließlich für die syrischen Gebiete wieder auf, die zu dem damaligen Zeitpunkt von bewaffneten Gruppen – sogenannten „moderaten Rebellen“ – kontrolliert wurden. Inzwischen ist unbestritten, dass diese Gruppen – darunter auch der so genannte „Islamische Staat im Irak und in der Levante“ (arabische Abkürzung: Daesh) – das syrische Öl direkt oder durch die kurdischen Gebiete im Nordirak in die Türkei schafften und von dort auf dem internationalen Markt verkaufen konnten.
Zu der Frage, ob es trotz Krieg und Sanktionen noch Beziehungen mit Deutschland gäbe, äußert Adib Mayyaleh sich zurückhaltend. 2010 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Wiesbaden) Waren im Wert von 11,4 Milliarden US-Dollar nach Syrien exportiert worden. Mayyaleh liest die Berichte aufmerksam. Für das Jahr 2015 habe die gleiche Behörde Syrien immerhin auf Platz 138 der Handelspartner Deutschlands gelistet, bemerkt er. „Deutschland hat sich in der Vergangenheit uns gegenüber immer etwas rationaler verhalten als beispielsweise Frankreich. Natürlich hat Deutschland hier in der Region auch keine koloniale Vergangenheit, wie Frankreich oder Großbritannien. Daher gab es von unserer Seite mehr Vertrauen. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich so deutlich werde – heute ist Deutschland irgendwie noch der Beste unter den Schlechten.“
Die Syrer - Verwundet an Herz, Leib und Seele
Syrien habe seine nationalen Ressourcen verloren, Fabriken und Landwirtschaft seien weitgehend zerstört, ausländische Investoren hätten das Land verlassen, zählt der Minister auf. „Aber die finanziellen Verpflichtungen der Regierung gegenüber dem öffentlichen Sektor und der Bevölkerung sind natürlich geblieben. Heute ist es doppelt so schwer, allem nachzukommen.“ Dennoch bleibe er überzeugt, dass Syrien „den Elektrizitätssektor, die Öl- und Gasproduktion, die Landwirtschaft wieder aufbauen“ könne. Sehr viel schwerer wögen die sozialen, menschlichen Verletzungen. „Vor allem die Kinder, die zu Beginn des Krieges 5 oder 6 Jahre alt waren, haben das alles zu spüren bekommen. Heute sind sie 12 und haben ihr halbes Leben im Krieg verbracht. Das wird sie für den Rest ihres Lebens begleiten.“ Hier müsse der Staat sehr viel tun, „um ihre Persönlichkeiten zu retten, um die ihnen eigene Lebensenergie zu fördern.“ Die syrischen Menschen seien in ihren Herzen, an Leib und Seele schwer verwundet: „Es wird Generationen dauern, bis wir den syrischen Menschen zurückgewinnen, den es vor dem Krieg gab.“