Welche Bundesregierung und welcher Bundespräsident kann eigentlich so viel Leid und Elend in einem reichen Land wie Deutschland vertreten? Umso ärgerlicher, wenn Bundespräsident Gauck auf dem Katholikentag im Mai 2014 eine "grassierende Gleichgültigkeit" der Menschen in Deutschland beklagt und als eine Ursache dafür zu erkennen glaubt, dass es vielen Menschen in Deutschland gut geht. Gauck wörtlich: "Wenn unser Leben uns in den Schoss fällt, denken wir nicht mehr daran, dass wir es gestalten und verantworten müssen." Vergisst er dabei nicht wieder einmal den sehr großen Anteil derer, denen das "gute" Leben nicht in den Schoss fällt, denen es eben nicht gut geht und die sich immer frustierter in ihr Privatleben zurückzuziehen versuchen?
Das gesellschaftliche Engagement, das Gauck verlangt, wird zudem von der herrschenden Elite, zu der Gauck zählt (Jahresgehalt mit Aufwandsentschädigung 277.000 Euro) durch Verweigerung von Mitspracherechten, viel Kungelei und vor allem brutale Selbstbedienung der Manager und selbst der Volksvertreter abgetötet. Seit Vorlage des Konzepts der Hartz-Gesetze ist die Beteiligung an Bundestagswahlen von 82 % auf nur noch 71 % abgestürzt und ist dabei die Beteiligung in den ärmeren Wahlkreisen besonders niedrig.
Wie vertraut mit der Situation normaler Menschen ist der Bundespräsident eigentlich, was weiß die deutsche Elite über deren Schicksal?"
Dabei könnte - theoretisch - alles so schön sein. Über viele Jahrzehnte ist ein großer Teil der schweren körperlichen Arbeit durch Maschinen und vieles an langweilig wiederholender Arbeit durch Automaten ersetzt worden. Im Ergebnis wird in der deutschen Wirtschaft pro Arbeitsstunde heute etwa drei Viertel mehr als 1970 produziert. In der deutschen Industrie ist es sogar allein ab 1991 schon mehr als doppelt so viel. Die Lebenserwartung bei Geburt hat seit 1970 bei Männern um über 10 Jahre, bei Frauen um über 9 Jahre zugenommen. Doch was hat Deutschland oder besser seine wirtschaftliche und politische Führung daraus gemacht? Arbeit ist immer mehr zu einem der Hauptfaktoren für die stark zunehmenden psychischen Erkrankungen und andere Leiden geworden. Und Menschen, die keine Arbeit haben, leiden seit den unsozialen Hartz-Gesetzen ganz besonders.
Seit den 70er-Jahren ist Arbeit für die Mehrheit der Arbeitnehmer deutlich stressvoller geworden. Die Produktivität wurde nämlich nicht nur durch mehr Automateneinsatz gesteigert, sondern auch durch mehr Druck auf die Arbeitnehmer. Gleichzeitig ist Arbeit unsicherer geworden. Die Leiharbeit auf Zeit wurde massiv hochgefahren. Arbeitsverhältnisse auf Probe haben sich enorm ausgebreitet. Das Konjunkturrisiko wurde so immer mehr auf die Arbeitnehmer verlagert. Der Fortschritt in der neoliberalen Globalisierung erlaubt die glaubwürdige Drohung mit Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer und hält Arbeitnehmer unter verstärktem Druck. Gleichzeitig sind immer mehr Unternehmen aus der Tarifbindung ausgeschieden. Den Schutz der Gewerkschaften und der von ihnen ausgehandelten Tarifverträge gibt es nur noch in 70 % der westdeutschen und 53 % der ostdeutschen Unternehmen.
Praktisch bestand und besteht das angebliche Arbeitsplatzwunder, auf das die Bundesregierung so grenzenlos stolz zu sein scheint, weitestgehend aus einem Ersatz von Vollzeitbeschäftigten durch geringfügig Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte und Solo-Erwerbstätige, die neuen Selbstständigen einschließlich der 1-Mann-AGs (Abb. 17874). Immer mehr Arbeitsleistung wurde zu entsprechend niedrigerer Entlohnung in Teilzeitarbeit, vor allem der Frauen, gepresst. Zwischen 1993 und 2013 verdoppelte sich der Anteil der in Teilzeitbeschäftigten auf mehr als 27 % oder 7,5 Millionen. Dabei suchen 1,8 Millionen in Teilzeitbeschäftigte nach längerer und besser bezahlter Arbeit, finden sie aber nicht. In der Alt-EU hat Deutschland neben Großbritannien den höchsten Anteil an Teilzeitbeschäftigung, wenn man von einer Sondersituation in den Niederlanden absieht.
Deutschland hatte nach der letzten Eurostat-Statistik den größten Niedriglohnsektor in Westeuropa (Abb. 15972) und befindet sich in der Spitzengruppe von vergleichbaren Ländern mit dem höchsten Anteil der in Arbeit Armen (Abb. 18044 „working poor“). Es gibt bisher keinen Mindestlohn und, wenn er einmal kommt, wird er jahrelang erhebliche Ausnahmen haben und überhaupt viel zu niedrig sein, zumal er bis 2018 nicht an die Verbraucherpreisentwicklung angepasst werden soll.
Seit 2002 ist die Zahl der unsicheren und daher besonders belastenden Zeitverträge um 1,1 Millionen oder fast ein Viertel gestiegen (Abb. 17847). Dabei zählt Deutschland in Westeuropa zu den Ländern mit einem besonders hohen Anteil an befristeten Arbeitsverhältnissen. Auch im öffentlichen Dienst wird bereits zu 70 % nur auf Zeitvertrag eingestellt. Wenn etwas am deutschen Arbeitsmarkt boomt, ist es die Arbeitnehmerüberlassungs-Industrie - bürokratische Umschreibung für „Leiharbeit“, die fast 800.000 Menschen bei schlechterer Entlohnung beschäftigt. Sie ist immer mehr an die Stelle regulärer Arbeitsverhältnisse getreten, wobei im Konjunkturabschwung (oder bei unternehmensspezifischen Problemen) Leiharbeiter regelmäßig als Erste entlassen werden, also einen zudem billigen Konjunkturpuffer darstellten. Bei Entlassung rauscht mehr als jeder dritte Leiharbeiter direkt auf Hartz IV durch, weil ihm das Arbeitslosengeld I entweder nicht zusteht oder weil es zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht ausreicht.
Auch hat die Nacht- und Wochenendarbeit deutlich zugenommen: 2011 arbeitete ein Viertel aller Beschäftigten auch samstags, fünfzehn Jahre zuvor, im Jahr 1996, waren es noch knapp 19 % gewesen. Der Anteil der Personen, die nachts arbeiten, erhöhte sich im selben Zeitraum auf knapp 10 % (Abb. 17433). Je älter die Arbeitnehmer werden, umso länger arbeiten sie: Bei denen zwischen 55 und 64 Jahren arbeiten schon 17 % mehr als 48 Stunden, viele davon in besonders belastender Schichtarbeit. Im internationalen Vergleich der Alt-EU-Länder arbeiten die Deutschen nach einer Übersicht von Eurostat mit die längsten Wochenarbeitszeiten. Es sind fast sechs Stunden jede Woche länger als die von den Tarifparteien in Deutschland in vielen Branchen vereinbarte Arbeitszeit und drei Stunden mehr als beispielsweise in Dänemark.
Unter solchen Umständen kann es nicht überraschen, wenn fast die Hälfte der Deutschen einer neuen Umfrage der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zufolge über wachsenden Stress am Arbeitsplatz klagt. Jeder zweite Befragte muss unter starkem Termin- und Leistungsdruck arbeiten. Knapp 60 % der Befragten gaben an, verschiedene Aufgaben gleichzeitig betreuen zu müssen. Fast jeder Zweite wird bei der Arbeit ständig unterbrochen - etwa durch Telefonate und E-Mails. Weil Ruhepausen nicht in den Arbeitsablauf passen oder sie nach eigenem Bekunden zu viel Arbeit haben, verzichtet jeder Vierte auf eine Pause.
Weiterer Berufsstress kommt von dem neuerdings oft beklagten Mobbing am Arbeitsplatz. Nach der neuen DEGS-Gesundheitsstudie des Robert Koch-Instituts werden 9 % beider Geschlechter im Beruf zum Opfer psychischer Gewalt. Sie werden gemobbt, bedroht oder schikaniert. Da immer noch weniger Frauen als Männer berufstätig sind, bedeutet das Ergebnis, dass Frauen häufiger Opfer psychischer Gewalt am Arbeitsplatz sind als Männer. Über die akute Belastung hinaus drohen hier chronische Folgen für die Gesundheit wie etwa Depressionen oder Angststörungen. Dazu Robert Schlack vom RKI: „Psychische Gewalt am Arbeitsplatz ist auch ein volkswirtschaftliches Problem. Die Leistungsfähigkeit und Produktivität der Betroffenen leidet, und auf diese Weise entstehen hohe wirtschaftliche Verluste. Arbeitgeber sollten daher ein hohes Eigeninteresse an Mobbingprävention haben.“
Es sollte dann kein Wunder sein, dass nach der Gallup-Umfrage von 2013 nur noch 16 % der Arbeitnehmer eine hohe emotionale Bindung an ihr Unternehmen haben und bereit sind, sich freiwillig für dessen Ziele einzusetzen. Dagegen haben 67 % nur eine geringe und 17 % gar keine Bindung mehr (Abb. 18365). Mehr als zwei Drittel machen also nur noch Dienst nach Vorschrift und fast ein Viertel hat innerlich gekündigt. Von denen mit nur noch geringer Bindung meinte eine deutliche Mehrheit, in den letzten 30 Tagen das Gefühl gehabt zu haben, auf Grund von Arbeitsstress innerlich ausgebrannt zu sein. Bei den über 50-Jährigen hatte bei der vorherigen Umfrage der Anteil derer mit der innerlichen Kündigung sogar bei fast jedem Dritten gelegen. Und dann sollte man sich noch erinnern, dass einmal für die große Mehrheit der Deutschen die Arbeit Sinn des Lebens gewesen war.
Lesen Sie bitte den zweiten Teil der Analyse am Sonntag auf den DWN.
Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.
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