Immer wieder stellt sich mir bei meiner Analyse-Arbeit die Frage: Wenn sich die Gesellschaft so ungleich entwickelt, wie allseits und selbst von der konservativen Industrieländerorganisation OECD beklagt wird, wo bleiben die Gegenkräfte? Wo die sehr natürliche Reaktion von betroffenen Menschen gegen einen immer unnatürlicheren Zustand?
Robert Reich, der einst Arbeitsminister unter Clinton war und jetzt als Professor of Public Policy an der University of California in Berkeley lehrt, versucht in vielen Aufsätzen und Büchern eine Antwort zu geben. Für ihn (wie auch für mich) sind Auslöser der Entwertung und fortschreitenden Unterentlohnung von Arbeit einerseits die Globalisierung mit der ausländischen Billigstkonkurrenz und andererseits die fortschreitende Automatisierung mit der Konkurrenz der Automaten. Doch das erklärt für Reich die Situation nicht ausreichend. Denn diese Entwicklungen seien nur zum Teil das normale Ergebnis des Marktes für Arbeit, obwohl sie als solche verkauft würden. Die Ungleichentwicklung hätte in USA Ende der 70er-Jahre und am Anfang der 80er eingesetzt, doch die Globalisierung und der technische Fortschritt seien nicht so plötzlich zeitgleich in den USA angekommen.
Die Entwicklung sei daher auch auf das Wirken der politischen Eliten und der großen Multinationals zurückzuführen, die in die Entwicklung der Märkte eingegriffen hätten. Diese hätten beispielsweise die Rechte am geistigen Eigentum, wie Patente, Markenschutz und Copyrights, erweitert und so für besondere Profite für die Pharma- und Bioindustrien und die Unterhaltungsindustrien gesorgt und durch die neuen Monopole die Preise für Verbraucher hochgeschraubt, einschließlich der Kosten des Gesundheitssystems. Sie hätten das Vertragsrecht verändert, um Schiedsgerichte vor privaten Richtern, die von den Konzernen ausgewählt würden, zur Pflicht zu machen. Neue von diesen Eliten durchgesetzte Steuervorschriften hätten zahlreiche Schlupflöcher und niedrigere Steuersätze für hohe Einkommen geschaffen und Vermögenssteuern gesenkt. Freihandelsabkommen hätten die Verlagerung von Arbeit in andere Länder erleichtert.
Gleichzeitig hätten diese Kräfte in USA absichtlich eine Welle von Ängsten unter den Arbeitnehmern erzeugt, um so deren Widerstand zu lähmen. Arbeitnehmer sorgten sich um ihre Arbeitsplätze. Soziale Leistungen seien mit der gleichen Wirkung abgebaut worden. Wirtschaftliche Risiken seien auch in die Beschäftigung eingebaut worden. Heute sei fast jeder fünfte Amerikaner in einem Teilzeitjob beschäftigt. Zwei Drittel lebten von einer Lohnzahlung zur nächsten. Die Gewerkschaften, deren Wirken Angst eindämme könnte, seien zurückgedrängt worden.
Soweit die Bewertung durch Robert Reich. Sie ist direkt auf Deutschland übertragbar, wo Beschäftigung ähnlich unsicher geworden ist und die Arbeitnehmer in Angst um ihre Zukunft gehalten werden. Atypische und unsichere Arbeitsverhältnisse wurden immer zahlreicher. Ihre Zahl stieg in 20 Jahren um drei Viertel (Abb. 18760, 18763); unsichere Leiharbeit boomt. Das Arbeitslosengeld wurde auf nur noch 1 Jahr verkürzt, weniger als in vielen Vergleichsländern (Abb. 18082).
Auch bei uns wurde der Schutz der Gewerkschaften abgebaut. Immer mehr Unternehmen sind aus der Tarifbindung ausgeschieden. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Anteil der Unternehmen, die nach Tarif zahlen, von 60 % auf 35 % fast halbiert. Den Schutz der Gewerkschaften und der von ihnen ausgehandelten Tarifverträge gibt es nur noch für 52 % der westdeutschen und 35 % der ostdeutschen Arbeitnehmer (Abb. 17018). Die deutschen Arbeitnehmer sind also schon überwiegend branchentarif- und in diesem Rahmen auch gewerkschaftsfrei. Zudem hat sich Angst vor Altersarmut ausgebreitet, seitdem die staatliche Rente als unsicher gilt. Eine über viele Jahre durchgehaltene extreme Konsumzurückhaltung ist ebenso mindestens teilweise Ausdruck solcher lähmender Ängste (Abb. 17882).
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Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.
Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.