Was ist digitale Erschöpfung und woher kommt sie?
Sie klagen über Müdigkeit, obwohl Sie acht Stunden geschlafen haben? Können sich bei der Arbeit nicht konzentrieren, obwohl Sie nichts körperlich Anstrengendes tun? Ihre Erholung mit dem Smartphone oder einer Serie bringt keine Erleichterung mehr? Dann gehören Sie womöglich zu den vielen Menschen, die unter einem bislang nicht diagnostizierten, aber schnell um sich greifenden Zustand leiden: der digitalen Erschöpfung. Darüber sprechen inzwischen nicht nur Psychologen, sondern auch Vertreter der IT-Branche. Paradoxerweise sind es nicht nur die Technologien, die das Problem verursachen – sie bieten auch Lösungen. Doch sind wir in der Lage, sie zu nutzen?
Digitale Erschöpfung ist ein physischer, kognitiver und emotionaler Erschöpfungszustand, der durch den ständigen Gebrauch digitaler Technologien entsteht. „Zwar handelt es sich bislang nicht um eine offizielle Diagnose, aber sie ist ein immer häufiger auftretendes Phänomen des modernen Lebens“, erklärt die Psychologin Ilona Laukienė gegenüber unseren litauischen Kollegen von Verslo Zinios. Digitale Erschöpfung äußere sich ähnlich wie ein Burnout: verminderte Konzentration, Reizbarkeit, sinkende Produktivität, ständige Müdigkeit selbst in Ruhephasen, zunehmende Nervosität und schlechtere Schlafqualität. Auch Augen-, Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen können auftreten.
Die Ursachen liegen sowohl in unserer Arbeitsweise als auch in der Art, wie wir Freizeit verbringen. Der technologische Fortschritt hat ein neues Arbeitsmodell hervorgebracht – geprägt von Videokonferenzen, ständiger Erreichbarkeit, einer Vielzahl von Informationskanälen, spezialisierten Apps und einem endlosen Informationsstrom. All dies führt zu kognitiver Überlastung und beeinträchtigt die Konzentrationsfähigkeit. „Doch selbst in Pausen oder nach der Arbeit greifen wir wieder zu unseren Geräten. Wir wollen uns beim Scrollen entspannen, ermüden dabei aber nur noch mehr und tun uns selbst keinen Gefallen. Es entsteht sogar eine Art Abhängigkeit – wir suchen ständig nach einem neuen Dopamin-Kick“, warnt die Psychologin.
Organisationen müssen digitale Hygiene ermöglichen
Experten für digitale Arbeitsplätze berichten, dass sie selbst stark von der digitalen Informationsflut betroffen sind. Auch von Kundenseite häufen sich Anfragen, wie mit diesem Phänomen umzugehen sei. „Es gibt viele Möglichkeiten – technologische, organisatorische und individuelle –, digitale Erschöpfung zu reduzieren“, sagt Rimas Kareiva, Leiter des Kompetenzzentrums für digitale Arbeitsplätze beim IT-Dienstleister Atea. Technologische Lösungen auf Organisationsebene stoßen jedoch zunächst auf die Kultur des Unternehmens. „Es braucht eine klare kulturelle Übereinkunft über die Trennung von Arbeit und Freizeit: Bis wann darf man erreichbar sein? Wie schnell muss man auf E-Mails reagieren? Welche Grenzen setzen wir uns? Wenn moderne Unternehmen verstehen, dass nur ausgeruhte Mitarbeitende produktiv sind, dann suchen sie nach Wegen, die Informationsflut zu begrenzen – etwa durch weniger Kanäle, zentralisierte Tools oder Schulungen“, erklärt Kareiva.
Wichtig sei, dass der Einzelne nicht allein mit unzähligen Tools gelassen werde. Produktivitätslösungen müssten auf organisatorischer Ebene eingeführt werden – etwa durch E-Mail- und Kalenderkonfiguration, den Einsatz von Tools wie Microsoft Planner oder Viva oder durch KI-gestützte Apps. Besonders hilfreich sind laut Kareiva Fokus-Zeiten: „Ich selbst nutze das regelmäßig. Während bestimmter Zeitfenster konzentriere ich mich ausschließlich auf Aufgaben, die Fokus erfordern. In dieser Zeit erhalte ich keine E-Mails oder Nachrichten – so werde ich nicht gestört.“ Diese Einstellungen lassen sich auch individuell vornehmen – man muss nur in den Systemeinstellungen („Benachrichtigungen“ oder „Fokuszeit“) der verwendeten Geräte oder Apps suchen und sie entsprechend anpassen.
Technologie gegen Technologie: Hilfe aus den Geräten selbst
Obwohl der Einfluss von Organisationen groß ist, können Menschen ihre digitale Erschöpfung auch durch digitale Hygiene und gute Arbeitsgewohnheiten selbst managen. „Man kann E-Mails in Kategorien sortieren – so erkennt man schneller, was dringend ist und was warten kann. Auch sollte man nicht 20 Fenster gleichzeitig offen halten – das verlangsamt den Computer und lenkt ab. Kurze Pausen zur Erholung von Augen und Kopf nach 30–45 Minuten konzentrierter Arbeit helfen ebenfalls, Erschöpfung vorzubeugen“, erinnert Ernestas Braževičius, Produktmanager für digitale Arbeitsplätze bei Atea.
Auch Multitasking sollte vermieden werden. „Unsere Aufmerksamkeit ist begrenzt. Mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, funktioniert kaum. Selbst bei E-Mails kann man sich Regeln setzen – es passiert nichts, wenn man nicht sofort antwortet“, so Braževičius. Manche Geräte helfen inzwischen sogar aktiv: Neue Monitore mit Augenverfolgung erkennen schlechte Lichtverhältnisse und aktivieren automatisch einen Blaulichtfilter. Sie dimmen sich auch nach bestimmter Zeit – eine Einladung zur Pause.
Und auch Headsets helfen: „Die Software eines großen Peripherieherstellers enthält Funktionen für Wohlbefinden, reduziert nicht nur Lärm, sondern misst auch Aufmerksamkeitsphasen. Funktionen wie ‚Vision Breaks‘ erinnern an Augenpausen, ‚Hydration Reminders‘ daran, etwas zu trinken“, so Braževičius. Viele Smartphones analysieren heute auch die Bildschirmzeit und fordern zur Begrenzung auf.
Doch technologische Mittel allein reichen nicht – besonders wenn man auch nach der Arbeit ständig vor Bildschirmen sitzt. Deshalb sollte man sich in der Freizeit bewusst von Displays fernhalten und alternative Erholungsformen suchen.
Technologie bewusster nutzen – so reduzieren Sie die Belastung im Arbeitsalltag
Auch wenn digitale Technologien Teil des Problems sind, bieten sie zugleich praktikable Ansätze zur Lösung. Entscheidend ist, wie sie genutzt und in die Arbeitskultur eingebettet werden. Folgende Maßnahmen helfen, digitale Erschöpfung systematisch zu verringern:
- Fokuszeiten aktiv einrichten: Viele Programme wie Outlook, Teams oder Viva ermöglichen die Einrichtung störungsfreier Zeitfenster. Während dieser Phasen werden Benachrichtigungen blockiert – Konzentration wird wieder möglich.
- Kanäle reduzieren und zentralisieren: Statt paralleler Kommunikation über E-Mail, Chat und Projekt-Tools sollten Unternehmen klare Kommunikationswege definieren. Das reduziert Kontextwechsel und entlastet das Gehirn.
- Klare Erwartungen formulieren: Reaktionszeiten auf E-Mails und Erreichbarkeiten sollten intern abgestimmt werden. Wer weiß, wann er nicht antworten muss, gewinnt mentale Ruhe.
- Digitale Werkzeuge konfigurieren: Funktionen wie automatische Ruhehinweise, Kalenderstrukturen und Prioritätskennzeichnungen helfen, Informationsflut besser zu steuern.
- Technische Unterstützung nutzen: Neue Monitore und Headsets bieten inzwischen integrierte Pausenerinnerungen, Blaulichtfilter und Ergonomiehilfen. Auch Smartphones können per Bildschirmzeit-Analyse zur Selbstregulierung beitragen.
Digitale Erschöpfung ist kein Einzelfall, sondern Systemversagen
Digitale Erschöpfung betrifft Millionen – und sie ist kein persönliches Problem, sondern ein strukturelles. Technologien schaffen enorme Möglichkeiten, setzen Menschen aber auch unter konstanten Druck. Wenn Organisationen keine Regeln etablieren, entsteht Überforderung statt Effizienz. Die paradoxe Lösung liegt in der bewussten Nutzung genau jener Werkzeuge, die uns überlasten. Digitale Erschöpfung ist die neue Zivilisationskrankheit – und zugleich ein Weckruf für eine gesündere Arbeitswelt.

