In Italien stehen die Zeichen auf Sturm. Die italienische Wirtschaft ist seit den EU-Sanktionen gegen Russland schwer getroffen und kann nicht verstehen, warum diese Sanktionen aufrechterhalten werden.
Ernesto Ferlenghi, der Präsident von der für die Russland-Beziehungen zuständigen Industriellenvereinigung Confindustria, gibt im Gespräch mit den Deutschen Wirtschafts Nachrichten ernüchternde Zahlen bekannt: „Die Analyse der Daten der ersten vier Monate des Jahres 2015 ergibt im Vergleich zum gleichen Zeitraum von 2014 einen Rückgang von 11,9 Prozent im Handel zwischen Italien und Russland und von 29 Prozent bei den italienischen Exporten nach Russland. Die italienischen Unternehmen, die seit Jahrzehnten nach Russland exportierten, verlieren ungefähr acht Millionen Euro pro Tag, weil uns die Exporte fehlen. Insgesamt sind uns über zwei Milliarden Euro aus dem Export verloren gegangen.“
Die Wirtschaft in Italien wird zunehmend nervös. Doch während sich die Unternehmen mit politischen Einordnungen zurückhalten, sieht sich Premier Matteo Renzi gezwungen zu reagieren. Er kündigt Steuersenkungen an und will sich vom Austeritätskurs der EU verabschieden. Bereits in den vergangenen Wochen war Renzi auf Konfrontation mit der EU und hier insbesondere mit Deutschland gegangen. Er hatte am Höhepunkt der Griechenland-Krise den deutsche Kurs scharf attackiert und hatte wegen der „Demütigung“ Griechenlands in Richtung Berlin ausgerufen: „Genug ist genug!“ Auch in der Flüchtlingsfrage fühlt sich Italien im Stich gelassen. Erst diese Woche war eine neuerliche Quoten-Regelung in der EU gescheitert. Renzi fordert Solidarität und sagte in Richtung seiner unwilligen Kollegen: „Wenn das Europa ist, dann brauchen wir es nicht!“
In der Flüchtlingsfrage zeichnet sich allerdings etwas Entspannung ab: In Italien könnten dieses Jahr nach Ansicht der Behörden möglicherweise weniger Bootsflüchtlinge ankommen als ursprünglich erwartet. „Der Trend wird es uns vielleicht erlauben, unter unserer nationalen Planung zu bleiben. Die ließ uns befürchten, dass mehr als 200.000 Menschen kommen werden“, sagte der für Migration zuständige Präfekt Mario Morcone am Dienstag. „Stattdessen scheint der Trend auf einer Linie mit dem vergangenen Jahr zu liegen“, sagte er. 2014 waren insgesamt etwa 170.000 Bootsflüchtlinge in Italien angekommen. „Bis zum 21. Juli hatten wir etwa genauso viele Ankünfte wie im vergangenen Jahr, 85.361 Personen“, sagte Morcone, der im italienischen Innenministerium die Abteilung für Migration leitet, vor dem Abgeordnetenhaus in Rom.
Ursprünglich hatten die Behörden erwartet, dass in diesem Jahr erstmals mehr als 200.000 Migranten über das Mittelmeer nach Italien kommen könnten.
Doch diese mögliche Entspannung führt nicht dazu, dass Italien seinen EU-kritischen Kurs ändert. Der Grund für die gespannte Lage liegt darin, dass die italienischen Staatsschulden trotz der unermüdlichen Hilfe durch den treuen Landsmann Mario Draghi an der Spitze der EZB weiter gestiegen sind. Italien hat bei den Staatsschulden soeben sogar das wesentlich größere Deutschland überholt. Die Verbindlichkeiten betrugen im ersten Quartal 2,184 Billionen Euro, wie die EU-Statistikbehörde Eurostat am Mittwoch mitteilte. Deutschland, das Anfang des Jahres noch die meisten Schulden hatte, kam Ende März auf 2,176 Billionen Euro. Beim Verhältnis der Schulden zur Wirtschaftsleistung klafft die Entwicklung weiter auseinander: Deutschlands Wert sank auf 74,4 Prozent, auch weil die Wirtschaft stärker wuchs als die Neuverschuldung. Die Schuldenquote Italiens stieg dagegen auf 135,1 Prozent.
Renzi will jedoch nicht in die griechische Falle tappen und bereitet einen handfesten Konflikt mit der EU vor: Er sagte am Donnerstag im italienischen Fernsehen, dass Europa den verschuldeten Staaten helfen müsse: Europa müsse den Schulden-Staaten „die Hand zur Hilfe reichen und sich nicht bloß als Gouvernante (maestrina) mit dem Rotstift“ auspielen.
Renzis neuer Kurs ist auch auf das weitere Erstarken der Protestpartei Movimento 5 Stelle zurückzuführen: Die zweitgrößte Partei ist den regierenden Sozialdemokraten auf den Fersen und hat, wie die FT berichtet, seit den Wahlen im März weiter an Boden gewonnen.
Die Gruppe von Beppe Grillo ihrerseits sieht sich veranlasst, den Ton ebenfalls zu verschärfen: In Spanien hat die Protestpartei Podemos nach dem Beinahe-Crash in Griechenland deutlich an Zustimmung verloren. Politische Beobachter glauben, dass die mögliche Katastrophe eines Euro-Austritts den Protestbewegungen in Europa schaden könnte, wie die FT berichtet.
Daher hat Beppe Grillo am Donnerstag ein bemerkenswert gehässiges Posting auf seinem Blog veröffentlicht. Er schreibt, dass die deutsche Politik in der direkten Nachfolge des Nationalsozialismus stehen, die die „Staaten der Peripherie zur Schulden-Protektoraten“ machen wolle. Grillo greift in dem Posting den zuvor noch von ihm bejubelten Rebellen Alexis Tsipras frontal an und schreibt, die Weigerung von Tsipras, aus dem Euro auszusteigen, sei dessen „Todesurteil“ gewesen. Tsipras habe geglaubt, er könne die „Ehe zwischen dem Euro und der Austerität aufbrechen“. Doch er sei damit geendet, „sein Land wie ein Vasall in die Hände Deutschlands auszuliefern“. Italien solle sich von der „Zwangsjacke des Euro“ befreien und der EU mit „den hohen Schulden Italiens drohen“. Grillo schreibt in dem Posting ohne weitere Erklärung von „Adolf Schäuble“.
Diese Entwicklung dürfte die Bundesregierung ebenso wie die Euro-Retter in Brüssel und in Nordeuropa alarmieren: Sie zeigt, dass ein ganz neuer, ekelhafter Stil der politischen Auseinandersetzung in der EU zum Standard wird. Die Euro-Gegner werden aus der für alle sichtbaren Demütigung der über weiter Strecken der Lage nicht gewachsenen Syriza-Regierung eine Lehre ziehen: Sie werden den Euro und die EU frontal attackieren, um mit einem klaren Feindbild zu Wahlerfolgen zu kommen.
Es erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt unwahrscheinlich, dass die EU oder die Euro-Retter in der Lage sind, politische Antworten auf diese Trends zu finden. EU-Präsident Donald Tusk hatte erst kürzlich gesagt, er sähe die EU in einem vorrevolutionären Zustand. Die Lösung: Es gäbe keine Alternative zum aktuellen Kurs. Viel leichter kann man es seinen Feinden wirklich nicht machen.