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Wechsel an der Spitze reicht nicht: VW muss sich neu erfinden

Lesezeit: 10 min
09.10.2015 01:17
Der vorsätzliche Betrug durch die Software-Programmierung für die Motorsteuerung ist nur ein Aspekt der Volkswagen-Krise. Ein anderer betrifft die systematische Überschreitung und Aushebelung von Emissions-Grenzwerten in der Praxis durch die Entwicklung immer größerer oder extrem gesundheitsschädigender Fahrzeuge mit ungenügender Emissionstechnologie. Dieser Aspekt wird mittel- und langfristig aufgearbeitet und korrigiert werden müssen – und zwar für die gesamte Autoindustrie.
Wechsel an der Spitze reicht nicht: VW muss sich neu erfinden
Alle Aktionäre, nicht nur die Huaptanteilhaber, hätten umgehend informiert werden müssen. Der Verlust der Wertpapiere ist immens. (Grafik: ariva.de)

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Man stelle sich vor, der ganze Vorstand und Aufsichtsrat hätten ursprünglich nichts von der Manipulation der ECU-Steuereinheit bei den 11 Millionen Modellen mit dem EA189-Motor gewusst. Das ist das bestmögliche Szenario. Irgendwann seit dem 14. Mai 2014, als die Nachforschungen der amerikanischen Umweltschutz-Agentur EPA begannen, muss in diesem Fall diese Untersuchung zum Vorstand durchgedrungen sein – wahrscheinlich ziemlich rasch. Die EPA beließ Volkswagen mehrfach die Möglichkeit, eine Korrektur anzubringen und substantielle Verbesserungen vorzunehmen. VW versteifte sich aber in den Diskussionen, dass die EPA keine geeignete Messtechnologie habe. Zu diesem Zeitpunkt hätte eine sofortige interne Überprüfung angeordnet werden müssen. Nicht erst jetzt. Der Vorstand hätte auch den Aufsichtsrat informieren und sich auf alle möglichen Schritte und Reaktionen durch die EPA und andere Teilhaber einstellen müssen. Aufsichtsrat und Vorstand hätten Plan B, C, D ausarbeiten lassen müssen. Vorstand und Aufsichtsrat hätten die Öffentlichkeit möglichst rasch über die laufende Untersuchung durch die EPA informieren müssen. Nichts von alledem ist geschehen. Dies lässt nur wenige Interpretationen zu: Entweder sind Vorstand und Aufsichtsrat unfähig oder Teile von Vorstand und Aufsichtsrat wussten Bescheid und haben die Verhaltensweise zumindest seit 2014 sogar so angeordnet und absichtlich verschleiert.

Warum ist das wichtig? Weil die Volkswagen AG eine börsennotierte Gesellschaft ist, bis vor kurzem noch das Schwergewicht im deutschen Aktienindex DAX und auch prominent im Eurostoxx50 der größten Unternehmen Europas vertreten war. Mit der Zulassung an der Börse ergeben sich eine ganze Reihe von Verpflichtungen und Regeln. Kursrelevante Informationen müssen zwingend sofort an die Aktionäre weitergegeben werden. Das dürfte im Falle von Volkswagen nicht geschehen sein. Doch nicht nur die Aktionäre, sondern auch die Kreditgeber der Volkswagen AG, die Investoren in Unternehmensanleihen und die Banken, verlangen eine Zustimmung und Offenheit in der finanziellen Darstellung. Ohne diese können sie einem Großschuldner wie VW keine weiteren Kredite mehr zur Verfügung stellen. VW ist wie andere Autohersteller auch über die Leasing-Tochter ein sehr bedeutender Emittent von Unternehmensanleihen auf den Kapitalmärkten (total rund 90 Milliarden Euro) und auch Bankschuldner (total 20 Milliarden Euro).

Am 3. September 2015 gestanden die VW-Ingenieure die Manipulation gegenüber der EPA ein, nachdem sie überführt worden waren. Doch auch danach erfolgte keine Information an die Aktionäre. Am 18. September gab die EPA in einem veröffentlichten Bericht bekannt, dass Volkswagen bei illegalen Praktiken erwischt worden sei und die Busse bis maximal 18 Milliarden USD (37.500 USD pro zugelassenes Fahrzeug) betragen könnte. Erst im Anschluss daran informierte der Vorstand seinen eigenen Aufsichtsrat und die Öffentlichkeit, gemäß Aussagen aus dem Aufsichtsrat sogar gleichzeitig. Im Minimum können diejenigen Aktionäre, welche nach dem 3. September 2015 Aktien gekauft haben, die nachher eingetretenen Kursverluste einfordern. Nun wussten der Vorstand oder Teile dessen nicht erst am 3. September, dass die Software mit einer illegalen Abschaltvorrichtung manipuliert war, sondern schon vorher, möglicherweise schon lange vorher. In seinem im Voraus abgedruckten Statement vor einem Kongressausschuss hat der für die USA zuständige VW-Chef Horn eingeräumt, er sei im Frühling 2014 intern darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Grenzwerte verletzt würden und die EPA eine Prüfung auf illegale Abschaltvorrichtungen vornehmen könnte. Im Konzern war somit dieses Wissen um das Risiko schon damals vorhanden. Die Bandbreite von erfolgversprechenden Investorenklagen verschiebt sich dadurch zeitlich nach vorne.

Schlimmer noch wäre es, wenn Teile des Vorstandes oder des Aufsichtsrates vom Betrug seit 2008 wussten, ihn aber nicht verhinderten oder den Betrug sogar angeordnet haben. Dann ist ein ganzes Spektrum von Investorenklagen möglich.

Was weiß man bisher? Der Konzern hat eine problematische Kommunikationsstrategie gewählt. Einzelne Medien werden häppchenweise mit Informationen oder Interviews gefüttert, wohl in der Erwartung, dass sie sich für diese Gunst erkenntlich zeigen. Gleichzeitig aber werden von enttäuschten, aktuellen und ehemaligen VW-Kadern und Mitarbeitern immer mehr Informationen preisgegeben, die ein Bild abrunden.

Die Volkswagen AG ist gemessen an jedem Standard ein riesiger Konzern, der größte in Deutschland, und einer der zehn größten der Welt. Doch der Skandal betrifft nicht etwas, was in der schieren Größe oder Unübersichtlichkeit des Konzerns gründet. Etwa die Tatsache, dass der Betrug an einem wenig beachteten Ort geschah. Sondern im Zentrum des Konzerns, in Wolfsburg, bei der Dieselmotoren-Entwicklung für ein Volumenprodukt, das im ganzen Markenverbund Verwendung fand, bei VW, Audi, Skoda, Seat. Bei verschiedenen Modellen dieser Marken, etwa beim VW Golf, Passat, Jetta, Beetle, Tiguan und Sharan, aber auch bei den leichten Nutzfahrzeugen von VW; beim Audi A3, A4 und A6 usw. Und nicht nur für Teilmärkte, sondern global, für Europa, die USA, Korea, Australien usw. Der Motor wurde schließlich auch 11 Millionen Mal verbaut. Es war wahrscheinlich in den Jahren 2009 bis 2014, in denen er eingesetzt wurde, der wichtigste oder einer der beiden wichtigsten Motoren des Konzerns. Dieser setzte in der Strategie und im Marketing voll auf den Dieselmotor. Die EA 189-Motoren waren die ersten auf der Common-Rail-Einspritzung basierenden Diesel-Motoren für die Volumenprodukte, nachdem der Konzern vorher anders als andere Hersteller auf die Pumpe-Düse-Einspritztechnik gesetzt hatte. Mit der Pumpe-Düse-Technik waren die verschärften Grenzwerte für die Stickoxide und andere Emissionen nicht einzuhalten. Deshalb erfolgte die Umstellung auf Common-Rail-Einspritztechnik. Der Motor war also zentral für die Konzernentwicklung – und nicht etwas Nebensächliches. Die Frage der Motorenwahl war sogar Gegenstand eines Wechsels im Top-Management. Der vorher verantwortliche VW-Markenchef Bernhard hatte auf eine Kooperation mit Daimler gesetzt und wollte essentiell Daimler Ad-blue Technik lizenzieren. Doch der neue Konzernchef Winterkorn lehnte das ab und wollte eine hauseigene Entwicklung.

Die bisherige Verlautbarung hat gemäß Presseberichten ergeben, dass 2008 die Software bewusst und vorsätzlich installiert wurde, weil die regulatorischen Anforderungen für die Stickoxid-Emission ohne substantiellen Mehraufwand nicht zu schaffen waren. Andrerseits war der Vertrieb nicht bereit, zusätzliche Kosten für eine Stickoxid-Verbrennung mit Ad-blue Zusatz zu schultern. Es war also eine bewusste, quasi betriebswirtschaftliche Entscheidung. Bei den teureren Modellen mit größeren Dieselmotoren wurde eine Ad-blue Verbrennung eingebaut, bei den kleineren 1.6 und 2.0 Liter Aggregaten dagegen nicht. Angesichts der Vorgeschichte, Tragweite und Bedeutung für die Brot- und Butter-Modelle ist es undenkbar, dass die Probleme dieses Motors nicht die Aufmerksamkeit des Managements genossen. Es waren auch verschiedene Konzernbereiche involviert, Motoren-Entwicklung, aber auch der Vertrieb, wahrscheinlich auch, was die Kosten anbetrifft, die Finanzen. Natürlich war die Programmierung komplex, aber einen einfachen Hinweis gab es. Andere Autohersteller wie auch Volkswagen für die teureren Modelle schafften die Norm nur mit Hilfe eines Ad-blue Zusatzes. Dieser fehlte bei dem erwähnten Motor aus Kostengründen.

Typischerweise werden solche komplexen Entscheidungen nicht auf unterer Ebene, sondern auf hoher und höchster Stufe entschieden oder jedenfalls abgesprochen. Bekannt ist außerdem, dass im ganzen Konzern die Modellentwicklung immer von zwei Entscheidungsträgern abhing, dem Konzernchef und gleichzeitigen Entwicklungschef Winterkorn, und dem Aufsichtsrats-Vorsitzenden Piech. Beide waren bis dieses Frühjahr enge Vertraute. Entweder wurden beide (oder einer von beiden) hintergangen. Dann ist es Ausdruck einer desaströsen Kultur im Unternehmen. Die Zielsetzungen waren viel zu ambitiös. ‚Bad news’ war nichts für die Karriere. Wer nicht liefern konnte, war ein Verlierer. Oder sie wussten davon. Martin Winterkorn hielt vor zwei Wochen fest, dass er davon keine Kenntnis hatte und einen solchen Betrug für unmöglich hielt. Der Aufsichtsrat bestätigte ihm am Tag seiner Ablösung, dass er nichts davon gewusst habe. Es gilt immer die Unschuldsvermutung, solange nichts bewiesen ist, genauso im Fall des früheren Aufsichtsratschefs Piech.

Das Umfeld ist wichtig, in dem sich das Ganze abspielte. VW stand unter großem Druck. 2007 hatte der neue Vorstandsvorsitzende Winterkorn ein ambitiöses, langfristiges Ziel ausgegeben: VW sollte der größte Autohersteller der Welt werden. Der Ölpreis explodierte 2008 auf über 100$ per barrel, gleichzeitig lag der EUR/USD-Wechselkurs bei über 1.50. Damit war der US-Markt für VW stark in Gefahr. Der Druck, eine kostengünstige und treibstoff-sparende Lösung zu präsentieren, war immens. Ein neuer, leistungsfähiger Dieselmotor musste her. Offenbar hatten die Ingenieure es nicht geschafft, eine billige Lösung ohne die aufwändigere Harnstoff-Einspritzung zu entwickeln. Das Ganze spielte sich auch in einer laxen Athmosphäre gegenüber Umweltvorschriften ab, die keineswegs nur Volkswagen betraf. Frühere Dieselmotoren mit Pumpe-Düse-Einspritzung hatten nicht einmal einen Partikelfilter, und viel schlechtere Abgaswerte als der neue Common Rail-Einspritzer. Und nun? Die amerikanischen Hersteller produzierten vor allem riesige SUV’s, Trucks, Pick-up’s und Vans, die in Bezug auf den CO2-Ausstoß miserable Werte lieferten. Volkswagen war auch unter Druck, weil Porsche bereits seit Jahren Aktien aufkaufte. Zwar versicherte bis zu diesem Zeitpunkt Porsche laufend, es ginge nicht um eine Übernahme, sondern nur darum, eine Übernahme durch Dritte zu verhindern. Schließlich war die Subprime-Krise in den USA bereits ausgebrochen. Es gab das Risiko eines Wirtschaftsabschwungs.

In diesem Umfeld aus ehrgeizigen Zielsetzungen, einer rüden Unternehmenskultur, neuartigen regulatorischen Anforderungen, traditioneller Laxheit mit Umweltstandards, die auch politisch akzeptiert war, technischer und kostenmäßiger Grenzen in der Entwicklung und der Persönlichkeit zweier Unternehmer mit hohen visionären Zielsetzungen wurde der Skandal geboren. Oberflächlich reduziert es sich dann noch auf die Frage, ob die beiden Entscheidungsträger davon wussten oder nicht, und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt.

Doch der Unfall geht weit über Persönlichkeit, Charakter, Wertvorstellungen und Führungsstil von Einzelpersonen hinaus. Dass der Skandal ausgerechnet bei Volkswagen ausbrach, dürfte kein Zufall sein. Seit Jahren ist in der Investorenszene bekannt, dass Volkswagen in Ranglisten der ‚corporate governance’ etwa der deutschen Aktionärsvereinigung IVIS, ganz unten rangiert. Was sind die wichtigsten Punkte, die erwähnt werden?

- Vermischung zwischen Volkswagen und Porsche-Holding Funktionen: Der neu zum Aufsichtsrat-Vorsitzenden ernannte bisherige VW-Finanzvorstand Pötsch war seit Jahren gleichzeitig Finanzvorstand der Porsche Holding Stuttgart. Diese ist mit 31,2 Prozent Kapitalbeteiligung und 50,7 Stimmen größter Einzelaktionär der Volkswagen AG. Der frühere VW-Vorstandsvorsitzende Winterkorn war gleichzeitig Vorstandsvorsitzender derselben Porsche Holding und ist es heute noch. Der neue Vorstandschef Müller war früher als Porsche-Vorstandschef zuständig für Produkte und Technik der Porsche Holding. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates von VW war auch im Porsche Aufsichtsrat. Die wichtigsten Entscheidungsmacher bei Volkswagen sind also auch gleich noch in derselben oder ähnlichen Funktion beim Haupt- bzw. Mehrheitsaktionär tätig. An der Spitze des Konzerns stehen somit die engsten Vertrauensleute der Familien der Mehrheitsaktionäre. Damit ist einerseits ein gewisser Interessenkonflikt institutionalisiert. Wem soll man ‚good news’ oder ‚bad news’ zuerst durchgeben? Dem Hauptaktionär oder allen Aktionären? Andererseits ist keine wirklich unabhängige Überwachung gegeben. Die Interessenvertreter des Hauptaktionärs überwachen sich gleich selber.

- Der wichtigste Punkt ist die Schwäche an unabhängiger Kontroll- und Überwachungsfunktion im Aufsichtsrat. Viele deutsche Unternehmen, selbst Großunternehmen, sind familiengeführt. Dies ist an sich noch nichts Negatives, sondern im Gegenteil Teil des Erfolgs vieler deutschen Exportunternehmen. Die gut geführten Publikums-Aktiengesellschaften haben dann aber starke unabhängige Aufsichtsräte, unter Umständen einen Lead Independent Director, der die Interessen der übrigen Aktionäre wahrnimmt. Ein solches Gegengewicht fehlte in der Ära Piech/Winterkorn vollständig.

- Für den Rest im Aufsichtsrat gelten eine zu geringe Expertise, Verschiedenheit und Erfahrung in der Autoindustrie als Kritikmerkmale. Das Bundesland Niedersachsen ist mit zwei gewichtigen Regierungsvertretern, dem Ministerpräsidenten und dem Finanzchef, im Aufsichtsrat vertreten, die Katar Holding ebenfalls durch wichtige Exponenten. Der Rest sind weitere Vertreter der Haupteigentümerfamilie sowie die paritätische Arbeitnehmer-Vertretung. Volkswagen ist durch eine notorische Nähe von Gewerkschaft, Betriebsrat und Eigentümern bzw. Management gekennzeichnet. Das ist nicht alles schlecht, aber vernebelt offensichtlich die Kontrollfunktion der Mitarbeitervertreter im Aufsichtsrat.

-Diese strukturellen Defizite in der Unternehmensführung sind vor allem in der angelsächsischen Presse aufgegriffen worden. In der Financial Times war die Rede vom größten Unternehmensskandal seit Enron. Dies ist deshalb bedeutungsvoll, weil vor allem angelsächsische Großanleger Käufer von Unternehmensanleihen sind. Auch spielen große, internationale Banken eine wichtige Rolle als Kreditgeber.

Die Neubesetzung der Führungsspitze ändert nichts an dieser institutionellen Struktur. Es gibt einige personelle Veränderungen, aber keine strukturelle Umwälzung. Keine personelle und strukturelle Neuaufstellung des Aufsichtsrates, keine unabhängigen Direktoren im Aufsichtsrat mit Expertise in der Autoindustrie oder in der ‚corporate governance’, kein ‚Lead Independent Director’. Was sich ändert, sind erstens zwei wesentliche Neubesetzungen, der Position des Vorstands- und des Aufsichtsratschef. Beide sind von ihren bisherigen Funktionen in der Porsche Holding her engste Vertraute der Eigentümerfamilien. Dabei dürfte diejenige des Aufsichtsratschefs problematischer sein. An fachlicher und menschlicher Qualifikation soll nicht gezweifelt werden. In seiner Funktion als Finanzchef hat er die Probleme in den USA und anderswo nicht kommuniziert gegenüber Publikumsaktionären und anderen Teilhabern wie Kreditgebern. Das mag ihm übel genommen werden und Anleger misstrauisch stimmen.

Die zweite Maßnahme ist die Untersuchung durch eine amerikanische Kanzleifirma, welche der Aufsichtsrat in Auftrag gegeben hat. Daran ist nichts Problematisches. Es ist damit zu rechnen, dass große Teile des Aufsichtsrates ein ehrliches Interesse nach Aufklärung haben. Allerdings findet diese Untersuchung nicht im luftleeren Raum statt. Bei allem Willen nach Aufklärung gibt es ein zweites Interesse, eine Restriktion. Das Resultat soll nicht so ausfallen, dass Volkswagen nachher in Prozessen enorm hohe Summen zahlen muss.

Problematisch ist, dass es keine zweite Untersuchung durch einen Regulator gibt. Die Automobilindustrie ist schlicht unterreguliert, wenn es um externe Effekte auf Dritte geht. In anderen Industrien führt der Regulator eine Untersuchung durch oder beauftragt eine solche, wenn es um die vorsätzliche und absichtliche Verletzung von Normen, Standardpraktiken durch ein Unternehmen geht. Dies ist beispielsweise in der Finanzindustrie (Banken, Versicherungen), in der Energieindustrie oder in der Pharmaindustrie der Fall.

In Bezug auf die Maßnahmen hat die Unternehmensleitung einen erheblichen Arbeitsaufwand nach diesem monumentalen Scherbenhaufen. Rund elf Millionen Motoren oder Autos müssen überarbeitet, durch Bestandteile ergänzt oder ausgetauscht werden. Dieses Programm soll im Jahr 2016 durchgezogen werden. Für die größeren 2.0 Liter Motoren soll ein Software-Update genügen. Wenn dem so wäre, fragt man sich, warum dies vorher nicht lautlos bei den regelmäßigen Service-Intervallen gemacht worden ist. Für die kleineren 1.6 Liter Motoren sind hingegen umfangreichere Anpassungen inklusive neuen Bestandteilen wie Düsen und Harnstoff-Einspritzungsanlagen notwendig.

Die nächste große Maßnahme ist eine Anpassung der Produkt- und Investitionsplanung. Volkswagen hatte angekündigt, für die nächsten Jahre fast 100 Milliarden Euro in die Entwicklung und Fertigung neuer Autos zu investieren. Dieses Budget wird nun radikal zusammengestrichen werden müssen. Das wird nicht mit linearen Kürzungen gehen, sondern die Produktplanung wird neu ausgerichtet werden. Gleichzeitig wird die begonnene Kostensenkungs-Runde massiv verschärft. Betriebsrat und Vorstand haben bereits angekündigt, dass es schmerzhafte Einschnitte geben werde. Für dieses Programm ist der bisherige Finanzchef als Aufsichtsratschef sicher sehr kompetent. Selbst Desinvestitionen, d.h. Verkäufe des Multimarken-Portfolios müssten zumindest wohl angedacht werden. Auch eine Kapitalerhöhung könnte wohl ins Hause stehen.

Schließlich ist der Aufwand vielleicht doch so eng begrenzt. Volkswagen zog gestern Mittwoch die Applikationen für Dieselfahrzeuge, die in den USA zum Verkauf geplant waren, überraschend zurück. Gemäß einem Bericht des Guardian lässt dies die Möglichkeit offen, dass die illegale Abschalteinrichtung auch in den 2016er Modellen des Konzerns in den USA enthalten ist. Auch im Vereinigten Königreich sind gemäß Guardian mehrere Tausend 2016er Modelle in den letzten zwei Wochen ausgeliefert worden, welche die illegale Abschalt-Vorrichtung enthalten. Die Aufklärung könnte also noch weitere Überraschungen zu Tage fördern.

Die Konklusion ist folgende: Global zeichnet sich eine scharfe Wachstumsabschwächung oder Rezession am Horizont ab, welche die USA und Europa zunächst weniger betrifft, sondern vor allem China und die Schwellenländer. In den USA und in Europa sind Sektoren betroffen, die vorher stark expandiert haben mit dem China- und Schwellenländer-Boom. Das betrifft ganz sicher den Energiesektor, den Minensektor, den Investitionsgüter-Sektor im Allgemeinen. Sekundär und nachgelagert sind der Bankensektor und die Automobilindustrie betroffen. Letztere sind frühzyklische Sektoren. Die klassischen Instrumente der Konjunkturpolitik, Geldpolitik und Finanzpolitik sind nicht mehr wirksam beziehungsweise politisch verbaut.

Was sich in den Finanzmärkten aufbaut, ist eine Neubewertung von Risiko. Die Aktienkurse in Europa sind im Abschwung, vor allem frühzyklische Sektoren wie Minen, Energie, Automobil, haben schon teilweise schwer gelitten. Banken und andere zyklische Sektoren noch in Topbildung. Parallel dazu ist eine Ausweitung der Kreditrisiko-Prämien in den Finanzmärkten zu beobachten, speziell in diesen hauptsächlich betroffenen Sektoren. Innerhalb dieser Sektoren ist auch die Risikoverteilung noch sehr ungleich. Es gibt Unternehmen, bei denen die Spreads extrem angestiegen sind, andere nur moderat oder durchschnittlich.

Im Autosektor ist Volkswagen am stärksten betroffen, dies eindeutig wegen des Skandals. Die Aktien sind rund 60 Prozent abgestürzt seit dem Höchststand im März, die Kreditspreads haben sich scharf ausgeweitet, die Absicherungskosten (CDS) sind noch weit stärker angestiegen. Vorläufig spiegelt diese Risikowahrnehmung die Kosten des Skandals und ein wenig die Wachstumsverlangsamung in China und die Rezession in Schwellenländern wider. Für Volkswagen wird wichtig sein, inwiefern die Untersuchung weitere Überraschungen ergeben wird. Falls die Konzernspitze 2008 eingeweiht war und den Betrug angeordnet hat, wird es teurer werden. Dann ist auch wichtig, was Vorstand und Aufsichtsrat 2014 und 2015 wussten, und warum sie wie gehandelt haben.

Mittel- und längerfristig sind andere Risiken vorhanden. Erst einmal ist die Autobranche sehr zyklisch, und dabei kapital- und entwicklungsintensiv. Die Wachstumsabschwächung in China und die Rezession in den Schwellenländern wird sich 2016 wohl noch vertiefen. Für VW dürfte der US-Markt ein unternehmensspezifischer Verlustbringer werden. Dort ist der Reputationsschaden wohl enorm. Das ganz große Fragezeichen steht über den Verkäufen in Europa, wo VW Marktführer ist mit ungefähr 36 Prozent Marktanteil bei den Personenwagen, davon ein ganz grosser Teil Dieselmotoren. Wichtig ist, inwiefern sich die Reputationsschäden in den Verkäufen niederschlagen werden. Mit einer ehrlichen Kommunikation könnte sich wohl vieles abwenden lassen. VW hat große Lager an Fertigfahrzeugen, welche wahrscheinlich mit Abschlägen verkauft werden müssen. Dann hat VW Financial Services auch ein operatives Leasinggeschäft, bei dem der Konzern die Fahrzeuge nach Ablauf des Leasings zurücknehmen muss. Diese werden teilweise durch Discounts losgeschlagen werden müssen. Die Finanzierungskosten von VW werden steigen, weil die Bonität von VW reduziert ist. Dies wird die Absatzchancen und Margen reduzieren. Kern wird sein, überzeugend darlegen zu können, dass Volkswagen nur ein normales Autorisiko darstellt, und kein Compliance-Risiko mehr enthält. Nur dann ist der Zugang zum Kapital- und Kreditmarkt garantiert.

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