Der Europarat hat die ukrainische Polizei für die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung in Odessa mitverantwortlich gemacht, bei denen im Mai vergangenen Jahres 48 Menschen getötet und mehrere hundert andere verletzt wurden. Es gebe „deutliche Hinweise“ für eine Mitschuld der Polizei an den „tragischen Ereignissen“, heißt es in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht. Die drei Autoren werfen den ukrainischen Behörden auch massive Versäumnisse bei den Ermittlungen vor.
Die Arbeitsgruppe wurde vom ehemaligen Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, Nicolas Bratza, geleitet. Unterstützt wurde der Brite vom früheren ukrainischen Richter am Straßburger Gerichtshof, Wolodimir Butkewitsch, sowie vom ehemaligen Generalstaatsanwalt der Ukraine, Oleg Anpilogow.
Die Untersuchungen seien weder unabhängig noch effizient gewesen, kritisierten die Juristen. So sei bis heute nicht geklärt worden, warum die Polizei weitgehend passiv geblieben sei und „wenn überhaupt, nur wenig“ getan hatte, um zwischen den verfeindeten Lagern zu intervenieren und die Gewalt zu beenden. Zeugen zufolge reagierte die Polizei auf erste Notrufe zunächst gar nicht.
Mit der Festnahme von Gewalttätern unter den über 2000 Demonstranten sei erst mehrere Stunden nach Beginn der Zusammenstöße begonnen worden, stellten die Autoren unter Berufung auf Angaben des ukrainischen Bürgerbeauftragten fest. Zu diesem Zeitpunkt habe es bereits 41 Tote gegeben. Erst ein Jahr nach den Vorfällen erhob die Generalstaatsanwaltschaft von Odessa Anklage gegen den damaligen regionalen Polizeichef Petro Luzjuk.
Bei 42 Opfern handelt es sich um Gegner der prowestlichen Regierung in Kiew. Die meisten von ihnen kamen ums Leben, nachdem in einem Gewerkschaftshaus, in das sie sich verschanzt hatten, ein Feuer ausgebrochen war - laut Ermittlungen der ukrainischen Behörden durch vorsätzliche Brandstiftung. Demnach war es einigen Anhängern der Regierung gelungen, durch eine Hintertür in das Gebäude zu gelangen. Die mutmaßlichen Brandstifter wurden bis heute nicht ermittelt. Andere Opfer starben durch Schüsse oder Molotowcocktails.
Laut Europarat dauerte es über 40 Minuten, bis die Feuerwehr eintraf - obwohl diese sofort nach Ausbruch der Flammen alarmiert wurde und sich die nächste Feuerwehrstation ganz in der Nähe des Gewerkschaftshauses befindet. Die Gründe für das verspätete Eintreffen sind ebenfalls bis heute unklar.
Die Autoren kritisieren, dass die Ermittlungen nicht von einem unabhängigen Gremium geleitet wurden, sondern vom ukrainischen Innenministerium - also der Dienstaufsicht von Polizei und Feuerwehr. Dies entspreche nicht den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention für unparteiische Ermittlungen. „Zutiefst besorgniserregend“ sei auch die Entscheidung der ukrainischen Justiz, „mangels Beweisen“ die Ermittlungen gegen zwei Aktivisten einzustellen, denen unter anderem Mord in mehreren Fällen zur Last gelegt wurde. Einer von ihnen hatte Zeugen zufolge mit einem Holzknüppel auf prorussische Demonstranten eingeschlagen, die sich mit einem Sprung aus dem Fenster des Gewerkschaftsgebäudes vor den Flammen retten wollten.
Laut dem Bericht brachten Mitglieder des ukrainischen Parlaments unterdessen einen Gesetzentwurf für eine Amnestie zugunsten der regierungsfreundlicher Teilnehmer an den Ausschreitungen ein. In dem Entwurf sind demnach die beiden Aktivisten, die von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens profitierten, namentlich erwähnt.
Ähnlich massive Kritik hatte dieselbe Arbeitsgruppe an der Untersuchung der gewaltsamen Zusammenstöße auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz mit etwa hundert Todesopfern vom Februar 2014 geübt. Die Ermittlungen seien lückenhaft, nicht zuletzt wegen der „Obstruktion“ durch das Innenministerium, hieß es in einem im März veröffentlichten Bericht.
Die Beauftragten des Europarats hatten bei mehreren Besuchen in der Ukraine Vertreter der Regierung, der Staatsanwaltschaft, Abgeordnete des Parlaments sowie Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen getroffen. Wie bereits in der Vergangenheit beklagen sie auch in ihrem neuen Bericht, dass ihnen das ukrainische Innenministerium keine vollständige Einsicht in die Ermittlungsakten gewährte.