Klingbeil: „Wir müssen durch höheres Wirtschaftswachstum die Einnahmen stärken – nur so gewinnen wir neue finanzielle Spielräume.“
Die Unternehmenszahlen der größeren deutschen Konzerne für das erste Halbjahr 2025 widersprechen der Hoffnung der Bundesregierung auf ein höheres Wirtschaftswachstum: BMW verzeichnet im ersten Halbjahr einen Gewinneinbruch um fast ein Drittel. Bei Mercedes-Benz bricht im zweiten Quartal der Gewinn um mehr als zwei Drittel ein. Und Porsche kappt seine Prognose zum zweiten Mal binnen weniger Monate.
Auch der Ifo-Geschäftsklima-Index, der wichtigste sogenannte Frühindikator für die deutsche Wirtschaft, liegt im Juli weiter auf sehr niedrigem Niveau. Der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, fasst bei ntv zusammen: „Der Aufschwung der deutschen Wirtschaft bleibt blutleer.“
Drei Jahre Rezession: Kein kräftiger Aufschwung erwartet
Einen kräftigen Aufschwung erwarten die meisten Ökonomen nicht. „Die Stimmung der Unternehmen liegt weiterhin sehr deutlich unter ihrem langjährigen Durchschnitt, und die Zuversicht kommt nur im Schneckentempo zurück“, sagte DekaBank-Volkswirt Andreas Scheuerle im Interview bei ntv.
Anscheinend glaubt nur Bundeskanzler Merz und sein Finanzminister Klingbeil an ein baldiges höheres Wirtschaftswachstum, denn nur wenn die Wirtschaft wieder anspringt, steigen die Steuereinnahmen weiter – und das Loch im Staatshaushalt kann kleiner werden. Die letzte Steuerschätzung des Bundesfinanzministeriums prognostizierte, dass die Steuereinnahmen insgesamt für den Zeitraum der Finanzplanung niedriger ausfallen als noch in der Steuerschätzung vom Oktober 2024.
Schwarz-Rot und die 172-Milliarden-Euro-Haushaltslücke
Die Finanzlücke für den Bundeshaushalt wächst rasant: Für die Jahre 2027 bis 2029 fehlen inzwischen 172 Milliarden Euro. Besonders dramatisch sieht es im Jahr 2027 aus, wo 34,3 Milliarden Euro im Etat klaffen.
Trotz des Milliardenlochs im Bundeshaushalt finanziert die Koalition munter weiter teure Projekte wie die Mütterrente, die abgesenkte Gastro-Steuer oder den geschätzten 777 Millionen Euro teuren Erweiterungsbau des Bundeskanzleramtes. Von konkreten Sparvorschlägen ist dagegen wenig zu sehen. CDU, CSU und SPD bauen hingegen auf die Annahme, dass ein starkes Wirtschaftswachstum die Einnahmeseite von allein stabilisiert. Doch um das Haushaltsloch von 34,3 Milliarden Euro im Bundeshaushalt für 2027 zu schließen, müsste die deutsche Wirtschaft in den nächsten zwei Jahren insgesamt um mindestens 7 bis 9 Prozent wachsen. Diese enormen Wachstumsraten wären notwendig, um die Löcher im Staatshaushalt mit neuen sprudelnden Steuereinnahmen zu deckeln.
Hoffnung auf ein Wirtschaftswachstum von bis zu 9 Prozent?
Doch der Glaube an diese Entwicklung stößt bei Experten auf Unverständnis: Finanzwissenschaftler Jens Boysen-Hogrefe vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) beziffert das notwendige Wachstum auf „mindestens sieben bis neun Prozent“, um allein die Lücke im Haushalt 2027 zu decken, als „utopisch“. Der ausgewiesene Finanzexperte sitzt auch im „Arbeitskreis Steuerschätzungen“ des Bundesfinanzministeriums. Auch Friedrich Heinemann vom ZEW hält die Projektionen für eine Illusion. Der Leiter des Forschungsbereichs Öffentliche Finanzen am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hält es für eine blanke Illusion, dass die deutsche Wirtschaft nach Jahren der Stagnation wieder derart in Schwung kommen könnte, dass nicht gespart werden muss: „Über Wachstum allein wird sich die Budgetlücke nicht schließen lassen.“
Das letzte Mal, dass das BIP der Bundesrepublik überhaupt eine Wachstumsrate von sieben Prozent erreichte, war mitten in den Wirtschaftswunderjahren: 1969 (7,5 %). Danach betrug der Zehn-Jahres-Durchschnitt nie mehr als 2,9 Prozent.
Experten warnen vor Fehlkalkulation beim Wirtschaftswachstum
Die Grundannahme bleibt fragwürdig: Ein Prozent mehr Wirtschaftsleistung führt in der Regel zu einem Prozent höheren Steuereinnahmen. Laut Regierung sollen dem Bund im Jahr 2027 rund 400 Milliarden Euro zufließen. Für den Haushaltsausgleich wären jedoch 430 Milliarden notwendig. Die aktuelle Frühjahrsprojektion rechnet jedoch nur mit einem jährlichen Wachstum von rund einem Prozent.
Trotz dieser Warnzeichen plant das Finanzministerium weiter auf Basis optimistischer Prognosen. Es beruft sich auf Maßnahmen wie Investitionsanreize, Ausgaben für Verteidigung und Infrastruktur, die angeblich das Wachstum ankurbeln sollen. Der Haushaltsentwurf 2026 verweist sogar auf „erste Auswirkungen“ dieser Programme in den aktuellen Wirtschaftsprognosen.
Wachstum bleibt Wunschdenken – strukturelle Probleme überwiegen
ZEW-Finanzexperte Heinemann sieht das Problem in strukturellen Engpässen. „Wir bräuchten einen derartigen Boom, den es aber gar nicht geben kann.“ Fachkräftemangel, Kapazitätsgrenzen und geringe Bereitschaft zur Mehrarbeit dämpfen jede Dynamik.
Beide Ökonomen halten es für denkbar, dass durch Wirtschaftswachstum bestenfalls die Hälfte der Haushaltslücke gedeckt werden kann. Ohne drastische Einsparungen bleibt die Finanzierungslücke bestehen. Höhere Wachstumwerte sind auch wegen der internationalen Entwicklung reines Wunschdenken: Im laufenden Jahr liegt das durchschnittliche BIP-Wachstum voraussichtlich bei 3,1 Prozent weltweit – und bei nur einem Prozent in der Euro-Zone. Von den zehn größten Industrieländern erreicht Spitzenreiter Indien 6,4 Prozent. China kommt auf 4,8 Prozent. Die USA schaffen nicht mehr als 2,2 Prozent.
Klingbeil fordert Einschnitte – konkrete Maßnahmen fehlen
Finanzminister Lars Klingbeil spricht offen von einer „enormen Herausforderung“. Jeder Minister müsse jetzt prüfen, wo Einsparpotenziale liegen. Die Vorbereitungen für den Haushalt 2027 laufen bereits, doch konkrete Kürzungsvorschläge fehlen bisher. Statt entschlossener Konsolidierung dominiert weiter die Hoffnung auf ein Wunder durch Wirtschaftswachstum.
Die Zeit drängt. Bereits im Frühjahr müssen die Eckdaten für den Haushalt 2027 stehen. Ohne Kurswechsel und massiven Sparmaßnahmen droht der Finanzpolitik der Absturz – gespeist durch Wunschdenken statt Realitätssinn.
Wirtschaftswachstum in Großbritannien dreimal so hoch wie in Deutschland
In Großbritannien kann man sehen, wie konsequente Reformen und gezielte Investitionen zu messbaren Erfolgen führen – trotz Brexit: Die britische Wirtschaft hat im ersten Quartal 2025 ein beachtliches Wirtschaftswachstum erzielt. Das Bruttoinlandsprodukt legte um 0,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal zu – ein Tempo, das dem deutschen Wert von 0,2 Prozent (Stand: Mai) weit überlegen ist. Die amtlichen Zahlen überraschten viele Experten, da sie nur mit einem Plus von 0,6 Prozent gerechnet hatten. Getragen wurde der Aufschwung vor allem durch die Dienstleister, aber auch die Produktion legte deutlich zu. Die Unternehmensinvestitionen nahmen spürbar zu.
Polens Wirtschaft wächst enorm
Jahr für Jahr liefert Nachbarland Polen Wirtschaftsdaten, bei denen Deutschland neidisch werden kann. „Das reale BIP in Polen in den letzten drei Dekaden hat sich mehr als verdreifacht. Polen hatte ein reales Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3,8 Prozent pro Jahr, während die durchschnittliche Wachstumsrate in Deutschland nur bei 1,3 Prozent lag“, erklärt Thomas Obst vom Institut der deutschen Wirtschaft im Mai bei ZDF heute.
Zudem steckt Polen aktuell in keiner Rezession, sondern wächst kräftig weiter. Eine „einzigartige Erfolgsgeschichte“ sei das, meint Obst weiter, aber in Deutschland würde das immer noch nicht ausreichend anerkannt: „Polen ist aus meiner Sicht der übersehene Nachbar im Osten.“ Dabei wird auch die gegenseitige wirtschaftliche Bedeutung immer größer. „Deutschland ist stabil und unangefochten wichtigster Handelspartner Polens mit einem Anteil von 27,1 Prozent. Insgesamt ist Polen inzwischen die sechstgrößte Volkswirtschaft der EU.
Deutsche Wirtschaft schrumpft – weiter hoffen, statt sparen?
Das Wirtschaftswachstum ist im zweiten Quartal wieder zurückgegangen. Von April bis Juni schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,1 Prozent im Vergleich zum Vorquartal, wie das Statistische Bundesamt am 30. Juli mitteilte.
Damit hat sich die deutsche Wirtschaft schwächer entwickelt als von den meisten Wirtschaftsexperten prognostiziert. Außerdem korrigierten die Statistiker des Bundesamts das Wirtschaftswachstum auch für die ersten drei Monaten des Jahres von 0,4 Prozent auf 0,3 Prozent nach unten. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) kommt in seinem frischen „World Economic Outlook“ gerade zu dem Schluss, dass Deutschland im laufenden Jahr höchstens um 0,1 Prozent wachsen wird – und im kommenden Jahr um nicht mehr als 0,9 Prozent.
Inzwischen sind die Folgen des wirtschaftlichen Abschwungs auch auf dem Arbeitsmarkt angekommen: Im Juli ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland auf knapp drei Millionen gestiegen – ein Plus von 65.000 binnen eines Monats. Im August könnte die Drei-Millionen-Grenze fallen, dann haben so viele Menschen keine Arbeit wie zuletzt vor zehn Jahren. Doch mehr Arbeitslose bedeuten mehr Staatsausgaben. Mehr Staatsausgaben bedeuten noch mehr Schulden auf Kosten der Jüngeren – und das alles bei einer schrumpfenden Wirtschaft.