Politik

Krankenkassen in Not: Strafzinsen fressen Beitrags-Reserven auf

Lesezeit: 2 min
27.05.2016 16:31
Die Krankenkassen schlagen Alarm und fordern Hilfe wegen der Strafzinsen der EZB, die für die Reserven im Gesundheitsfonds fällig werden. Die Ersatzkassen wollen deshalb Geld aus Fonds entnehmen. Der Kassenverband will mit den Mitteln Zusatzbeiträge drosseln. Die Kassen wollen für die Rentner in Aktien investieren können - ein durchaus riskanter Plan.
Krankenkassen in Not: Strafzinsen fressen Beitrags-Reserven auf

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Thorsten Severin von Reuters hat das Dilemma gut zusammengefasst, in dem sich die Krankenkassen wegen der Negativzinsen befinden:

Berlin, 27. Mai (Reuters) - Die großen gesetzlichen Krankenkassen schlagen Alarm: Im Gesundheitsfonds schlummern Milliardenreserven, für die wegen der Niedrigzinspolitik der EZB Strafzahlungen fällig werden. Dagegen könnten die Kassen das Geld aus dem Fonds gut gebrauchen, um den Anstieg ihrer Zusatzbeiträge zu drosseln.

In den Gesundheitsfonds fließen Beitragseinnahmen und Zuschüsse vom Bund. Nach einem festgelegten Schlüssel wird das Geld an die Krankenkassen in monatlich gleichen Raten verteilt. Zwischenzeitlich wird der Fonds voll entleert und dann wieder aufgefüllt. Damit stets ausreichend Liquidität zur Verfügung steht, müssen hohe Summen kurzfristig auf Terminkonten geparkt werden. Dort wird das Geld allerdings negativ verzinst - mit anderen Worten: Es werden dafür Strafzinsen fällig. Der Hintergrund ist die Zins-Politik der EZB, die Banken und deren Kunden zwingen will, Geld zu investieren und nicht zu horten.

Nach Angaben des Bundesversicherungsamts (BVA) wurden deshalb allein 2015 1,8 Millionen Euro Negativzinsen fällig. In diesem Jahr könnten es deutlich mehr werden: Allein im Januar und Februar gingen der gesetzlichen Krankenversicherung wegen der negativen Einlagezinsen bereits 800.000 Euro verloren.

Die Krankenkassen halten den Liquiditätspuffer für viel zu hoch. Ende 2015 betrug die Reserve rund zehn Milliarden Euro. Gesetzlich vorgeschrieben ist eine Mindestrücklage von 25 Prozent einer Monatsausgabe. 2015 hätten deshalb eigentlich 4,13 Milliarden Euro gereicht - also sechs Milliarden Euro weniger.

Der Ersatzkassenverband vdek, der unter anderem die Marktführer Techniker Krankenkasse und Barmer vertritt, fordert, die Liquiditätsreserve auf 35 Prozent einer Monatsausgabe zu reduzieren. Dadurch würden vier Milliarden Euro frei. Diese könnten von den Kassen nach den Vorstellungen des vdek genutzt werden, um die Zusatzbeiträge in Schach zu halten. Ohne eine gesetzliche Änderung geht das aber nicht. "Wir fordern, dass die Politik diese Maßnahme kurzfristig noch vor den Bundestagswahlen umsetzt", sagt Verbandschefin Ulrike Elsner zu Reuters: "Damit würden weniger Beitragsgelder auf dem Kapitalmarkt verbrannt und der Druck auf die Zusatzbeitragssätze würde sich zumindest zeitweise reduzieren."

Im Schnitt liegen die Zusatzbeiträge, die allein von den Arbeitnehmern zu zahlen sind, bei 1,1 Prozent. Bis 2019 werden sie nach Berechnungen des GKV-Spitzenverbands schrittweise auf bis zu 1,8 Prozent steigen.

Aus dem CDU-geführten Gesundheitsministerium kommen bisher eher ablehnende Signale. Auch SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach will die Rücklage derzeit nicht antasten. "Ich halte die Liquiditätsreserve in der jetzigen Größenordnung für angemessen und sehe keinen akuten Handlungsbedarf", sagt er zu Reuters. Die entnommenen Beiträge würden schnell aufgebraucht sein und dann erneute Forderungen aufkommen, die Reserve abzubauen, wodurch ein Teufelskreis entstehe. Die Rücklage sei zudem wichtig im Falle außergewöhnlicher Belastungen wie einer Epidemie.

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sieht zwar Probleme. Notwendig sei jedoch eine "dauerhafte Lösung, die auf festen Regeln basiert", sagt Sprecherin Ann Marini. Ein "Einmaleffekt für 2017" bringe nicht weiter, denn die Beitragssteigerungen drohten über kommendes Jahr hinaus.

Der Chef des AOK-Bundesverbands, Martin Litsch, fordert, der Bund oder die Bundesbank müssten den Sozialversicherungen zur Hilfe eilen und wenigstens einen "Nullzins" für die Fonds-Gelder garantieren. Um den Versicherten Verluste zu ersparen, sei ein "staatliches Auffangnetz" sinnvoll: "Schließlich handelt es sich um eine solidarisch verfasste Pflichtversicherung, in die auch Steuermittel fließen." Nach Angaben aus Versicherungskreisen wird zumindest eine Rechtsänderung erwogen, um einen Teil des Geldes aus dem Gesundheitsfonds langfristig anlegen zu können.

Entgegenkommen zeigt die Regierung bisher nur bei den Reserven, die die Kassen für sich selbst angelegt haben. Den Teil, der für die betriebliche Altersvorsorge ihrer Mitarbeiter zurückgelegt wurde, sollen die Krankenkassen künftig zu zehn Prozent in Aktien anlegen dürfen, damit sie höhere Erträge erzielen können. So sieht es ein Gesetz des Arbeitsministeriums vor, über das der Bundestag noch entscheiden muss. Laut Bundesversicherungsamt verfügen die Kassen über Altersrückstellungen in Höhe von rund 4,7 Milliarden Euro.

Den Krankenkassen geht ein Aktienanteil von zehn Prozent bei den Altersrückstellungen allerdings nicht weit genug. So fordert der GKV-Spitzenverband einen Anteil von 20 Prozent. SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach zeigt sich zu einer entsprechenden Änderung am Entwurf bereit. Das BVA allerdings argumentiert, der Grundsatz der Anlagesicherheit müsse gewahrt bleiben. Auch eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums betont, für den Gesetzgeber stehe im Vordergrund, die Risiken minimal zu halten und einen größtmöglichen Schutz der Gelder zu gewährleisten.


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Kostenloses Experten-Webinar: Die Zukunft der personalisierten Medizin aus der Cloud - und wie Sie davon profitieren

Eine individuelle Behandlung für jeden einzelnen Menschen - dieser Traum könnte nun Wirklichkeit werden. Bei der personalisierten Medizin...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Tesla Grünheide - Protesttage: Polizei schützt Autofabrik mit Großaufgebot
10.05.2024

Die Kundgebungen gegen den Autobauer Tesla in Grünheide erreichten am Freitag einen neuen Höhepunkt. Während eines...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Der Chefredakteur kommentiert: Deutsche Bahn, du tust mir leid!
10.05.2024

Liebe Leserinnen und Leser, jede Woche gibt es ein Thema, das uns in der DWN-Redaktion besonders beschäftigt und das wir oft auch...

DWN
Technologie
Technologie Kein Erdgas mehr durch die Ukraine? Westeuropa droht erneute Energiekrise
10.05.2024

Eines der größten Risiken für die europäische Erdgasversorgung im nächsten Winter ist die Frage, ob Gaslieferungen weiterhin durch die...

DWN
Finanzen
Finanzen DAX-Rekordhoch: Deutscher Leitindex springt auf Allzeithoch bei über 18.800 Punkten
10.05.2024

Der DAX hat am Freitag mit einem Sprung über die Marke von 18.800 Punkten seinen Rekordlauf fortgesetzt. Was bedeutet das für Anleger und...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Streik am Bau: Gewerkschaft kündigt Proteste in Niedersachsen an
10.05.2024

Die IG Bauen Agrar Umwelt hat angekündigt, dass die Streiks am Bau am kommenden Montag (13. Mai) zunächst in Niedersachsen starten...

DWN
Politik
Politik Selenskyj drängt auf EU-Beitrittsgespräche - Entwicklungen im Ukraine-Krieg im Überblick
10.05.2024

Trotz der anhaltenden Spannungen an der Frontlinie im Ukraine-Krieg bleibt Präsident Selenskyj optimistisch und setzt auf die...

DWN
Politik
Politik Corona-Aufarbeitung: Spahn spricht sich für breite Analyse aus mit allen Blickwinkeln
10.05.2024

Im deutschen Parlament wird zunehmend eine umfassende Analyse der offiziellen Corona-Maßnahmen, einschließlich Masken und Impfnachweisen,...

DWN
Politik
Politik Pistorius in den USA: Deutschland bereit für seine Aufgaben
10.05.2024

Verteidigungsminister Boris Pistorius betont in Washington eine stärkere Rolle Deutschlands im transatlantischen Bündnis. Er sieht den...