Politik

Ökonomen zum Brexit: „Jetzt herrscht erst einmal Panik“

Lesezeit: 4 min
24.06.2016 08:01
Die Chefvolkswirte der Banken sind sich einig: Der Austritt Großbritanniens aus der EU wird zu einer langen Phase der Unsicherheit bei allen Marktteilnehmern führen. Einige sprechen sogar von Panik. Doch die meisten sehen die langfristigen Folgen eher gelassen.

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Beim Brexit-Referendum hat sich eine Mehrheit der Briten für einen Austritt Großbritanniens aus der EU ausgesprochen. Ökonomen sagen in ersten Reaktionen:

JÖRG KRÄMER, COMMERZBANK-CHEFVOLKSWIRT:

„Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.

Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.

Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet.“

THOMAS GITZEL, VP BANK:

„Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.

Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt.“

CARSTEN BRZESKI, CHEFVOLKSWIRT ING-DIBA

„Es sieht so aus, als ob Europas schlimmster Alptraum Wahrheit geworden ist. Sollte sich das Ergebnis bewahrheiten, werden die wirtschaftlichen und politischen Folgen noch lange zu fühlen sein. Die erste Marktreaktion gibt schon einen guten Vorgeschmack. Es steht ein langer, schwieriger und dreckiger Scheidungsprozess an.“

MICHAEL MENHART, CHEFVOLKSWIRT MÜNCHNER RÜCK:

„Die Entscheidung des britischen Volkes ist ein schwerer Schlag für die EU. Sie wird die Konjunktur vor allem in Großbritannien stark belasten. Das britische Wachstum wird bis 2018 jährlich vermutlich um etwa einen Prozentpunkt niedriger ausfallen. Auch das Wirtschaftswachstum in der EU wird leiden, wenn auch in geringerem Umfang.

Was besonders langfristige Anleger wie Versicherer treffen wird, ist Folgendes: Die US-Notenbank Fed könnte nun mögliche Zinsschritte nach oben und damit die Rückkehr in ein normaleres Umfeld weiter verschieben.

Auf die Versicherungswirtschaft wird sich die Entscheidung vermutlich nicht so stark auswirken wie auf andere Branchen. Der Finanzplatz London wird aber Gewicht an Hubs wie Singapur oder New York verlieren, und das betrifft auch die Versicherer.“

UWE BURKERT, LBBW:

„Die Austrittsverhandlungen stellen für den Europäischen Rat einen Ritt auf Messers Schneide dar. Sollte der Rat bei den Forderungen Großbritanniens kein Entgegenkommen zeigen - etwa nach dem Motto des deutschen Finanzministers Schäuble 'In is in and out is out' -, dann drohen beide Verhandlungspartner ohne Ergebnis auseinanderzugehen. Aufgrund der immensen Verflechtung Großbritanniens mit der EU - knapp die Hälfte der britischen Warenexporte geht in einen anderen EU-Staat -, würde in einem solchen Rosenkrieg-Szenario in erster Linie Großbritannien der Leidtragende sein, aber auch die Wirtschaft in den verbleibenden EU-Staaten dürfte spürbare Einbußen erleiden.“

OTMAR LANG, CHEFVOLKSWIRT TARBOBANK:

„Die Aktienmärkte stehen auch unabhängig vom Brexit immer mehr unter Druck: Vor allem die zunehmende politische Fragilität und die anhaltende - tatsächliche - weltweite Konjunkturschwäche übertragen ihre negativen Schwingungen auf die Börsen. Der Brexit ist also nur der letzte Auslöser, der für den Start einer Korrektur gefehlt hat.

Die Europäische Union ist schwer beschädigt, die bereits bestehenden wirtschaftlichen und auch politischen Risiken könnten sich nun weiter potenzieren.“

CLEMENS FUEST, IFO-PRÄSIDENT:

„Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft. Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt. Es ist wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibt.“

STEFAN BIELMEIER, CHEFVOLKSWIRT DZ BANK:

„Nun gilt es, den unabwendbaren Schaden für alle Beteiligten möglichst klein zu halten. Europa muss jetzt zu seinen Werten stehen, seine innere Fragmentierung stoppen und eine erneuerte europäische Idee entwickeln. Dies sollte ohne die europakritischen Tendenzen in Großbritannien sogar leichter möglich sein. Nur ein geschlossenes und handlungsfähiges Europa wird es seinen gegenwärtigen geopolitischen Einfluss erhalten können.

Die Finanzmärkte dürften kurzfristig mit hoher Volatilität auf die Entscheidung reagieren. Vor allem wird aber die nun bevorstehende Phase der Unsicherheit über die Modalitäten des Austritts die Kapitalmärkte belasten.“

JAMES KNIGHTLEY, ING:

„Die entscheidende Frage wird sein: Kann eine Scheidung Großbritanniens von der EU im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen, was die ökonomischen Schmerzen lindern würde, oder wird es einen Scheidungskrieg geben. Falls Letzeres eintreten sollte, könnte dies die politische Stimmung vergiften und zu langwierigen Verhandlungen führen, was für das Vereinigte Königreich und Europa wirtschaftlich weitreichende Folgen haben dürfte.“

HOLGER SCHMIEDING, CHEFVOLKSWIRT BERENBERG BANK:

„Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft. Der Aufschwung in Großbritannien dürfte weitgehend zu Ende sein. Auch die Euro-Zone wird die Folgen spüren: Der Aufschwung wird schwächer, geht aber weiter. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien.“

HOLGER SANDTE, EUROPA-CHEFVOLKSWIRT NORDEA BANK:

„Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik.“


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