Die EU-Spitzen versuchen nach Brexit die Fassade der Union zu wahren. Der Schein trügt: Die Integration wird seit Jahren sabotiert – und zwar von allen Staaten, nicht nur von Großbritannien. Man sollte endlich Farbe bekennen. Ist die EU, wie sie derzeit gedacht ist, tatsächlich gewünscht, dann muss sie auch realisiert werden. Ist dies nicht der Fall, dann bedarf es einer anderen Konzeption der Gemeinschaft. Beide Varianten können erfolgreich sein. Zum Scheitern verurteilt ist eine Struktur, in der Nationalstaaten im Korsett einer Union ihre Eigenständigkeit verteidigen.
Die beleidigte Reaktion auf die Abstimmung der Briten für den Austritt aus der EU ist fehl am Platz. Das Ende der EU wurde bereits vor elf Jahren durch ein Referendum eingeläutet, in dem die Franzosen am 29. Mai 2005 die damals geplante Europäische Verfassung abgelehnt haben, weil diese die Souveränität der Mitgliedstaaten eingeschränkt hätte. Es gab also lange vor Brexit bereits eine Art Frexit. Am 1. Juni 2005 folgte eine Abstimmung in den Niederlanden, die das gleiche Ergebnis brachte. In diesem ersten Halbjahr 2005 wurde allgemein angenommen, dass vor allem Großbritannien bremsen werde. Dass aber die beiden Gründungsländer Frankreich und Niederlande mit Nein stimmten, machte die Anhänger der europäischen Integration fassungslos.
Aber auch bei den anderen Staaten war die Begeisterung für eine funktionierende EU nicht extrem stark entwickelt. Die Staats- und Regierungschefs aller damaligen Mitglieder hatten am 29. Oktober 2004 bei einem feierlichen Akt in Rom ein lautstarkes Bekenntnis zur Europäischen Verfassung abgegeben, das neue Europa schien also beschlossene Sache zu sein. Vorweg hatten allerdings eben diese Staats- und Regierungschefs einen kleinen, aber entscheidenden Paragrafen in den Verfassungsentwurf eingefügt: Alle Entscheidungen können nur mit Zustimmung des Rats, also mit Zustimmung der Regierungen der Mitgliedstaaten erfolgen.
Die Franzosen und Niederländer stimmten somit gegen einen Vertrag ab, den es nur in der öffentlichen Diskussion gab: Unter dem Vorsitz des früheren französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing hatte ein Verfassungskonvent ein Konzept erarbeitet, das den demokratischen Grundsätzen der Gewaltentrennung entsprach. Demnach beschließt das gewählte Parlament die Gesetze, die Regierung hat zu verwalten. Dieses Prinzip sollte auch in der EU und folglich für das EU-Parlament, den EU-Rat der Regierungen und die EU-Kommission gelten. Davon war schon am 29. Oktober 2004 bei der Feier in Rom nicht mehr die Rede und im Gefolge der negativen Abstimmungen wurde keine Verfassungsvariante beschlossen.
Gegen eine klare Definition der Aufgaben. Das Scheitern von „Qui fait quoi?!
Aber auch eine andere Initiative des Konvents wurde nicht umgesetzt: Giscards großes Anliegen neben der Gewaltentrennung zielte auf eine klare Verteilung der Aufgaben zwischen den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten ab. „Qui fait quoi?“ – Wer macht was? – wurde zu einer Art Schlachtruf. Im Gespräch erinnerte sich Giscard gerne an seine Zeit als französischer Präsident von 1974 bis 1981. Die Gemeinschaft umfasste die sechs Gründungsmitglieder – Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Benelux-Länder – und die drei 1973 hinzugekommenen Großbritannien, Irland und Dänemark. „Damals konnte man bei einem guten Abendessen in Paris die europäische Politik steuern.“
2001 bis 2003, als der Verfassungskonvent tagte, umfasste die EU bereits 15 Staaten. Und vor allem stand die Osterweiterung mit der Aufnahme von Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und der Republik Zypern am 1. Mai 2004 bevor.
Außerdem wurden 2004 auch die Verhandlungen mit Rumänien und Bulgarien abgeschlossen, die 2007 ebenfalls Mitglieder wurden. Giscard wurde nicht müde zu betonen, dass unter diesen Umständen nette Diners in Paris kein angemessenes Instrument mehr sein können und Europa eine Verfassung mit klaren Regeln braucht.
Die Politiker beschlossen in ihrer Ohnmacht, der Bürokratie die Macht zu übertragen
Dazu bekannten sich aber auch jene Regierungen und Parlamente nicht, die lautstark Giscards Initiative begrüßten. In der Folge wurde statt der Verfassung im Dezember 2007 der „Lissabonner Vertrag“ beschlossen, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. In diesem Vertrag wurden zwar die Rechte des EU-Parlaments erweitert, aber festgeschrieben, dass ohne Zustimmung des Rats der Regierungen keine Beschlüsse gefasst werden können.
Die gegenseitige Lähmung von EU-Parlament und EU-Rat war und ist bis heute Teil des Systems. Man nahm aber zur Kenntnis, dass unter diesen Umständen Entscheidungen noch schwerer gefasst werden können, Einigungen noch länger dauern – und so wurde beschlossen, die EU-Kommission zu stärken.
Das EU-Parlament legt in Abstimmung mit dem Rat der Regierungen nur mehr „Prinzipien“ fest, die entscheidenden Bestimmungen werden von der Kommission beschlossen. Um diese Konstruktion zu ermöglichen, wurden die sogenannten „delegierten Rechtsakte“ eingeführt, mit denen das EU-Parlament die Zuständigkeit für die Schaffung der Normen an die Kommission „delegiert“. Die Kommission erhielt das Recht, Verordnungen zu erlassen, die unmittelbar in der gesamten EU gelten. Die Parlamente der Mitgliedstaaten haben diese Verordnungen nur zur Kenntnis zu nehmen, sie dürfen keine Korrekturen vornehmen. Das EU-Parlament hat sich selbst mit der Delegation aus dem weiteren Rechtsfindungsprozess im Wesentlichen ausgeschaltet.
Somit entscheiden die Beamten der Kommission, welche Vorschriften gelten und bestimmen auch die Form der Umsetzung und vor allem die Strafen bei Nichteinhaltung. Die Perversion ist total: Giscard wollte mit der Verfassung die Gewaltenteilung auf europäischer Ebene durchsetzen, im Lissabonner Vertrag wurde dieses bis dahin in der EU ohnehin nur schwach entwickelte Grundelement der Demokratie ausgehebelt und die Bürokratie zur bestimmenden Macht aufgewertet.
Die derzeit in ganz Europa kritisierte Regulierungswut, die auch maßgeblich zur Brexit-Entscheidung beigetragen hat, ist in dem aktuellen und unerträglichen Ausmaß eine Folge des Lissabonner Vertrags. Propagandistisch dargestellt werden die zahllosen Bestimmungen als Beiträge zur Schaffung des Binnenmarktes und zum Ausbau der Integration der EU, gleichsam zur „Vertiefung“ der Integration.
Bekommen nun die Regierungen der Staaten die totale Macht in der EU?
Als Reaktion auf den Brexit hat nun Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Beruhigung der Gemüter verkündet, es werde keine weitere „Vertiefung“ der Union geben. Aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten kommt die Forderung nach einer Schwächung der Kommission und nach einer Stärkung des Rats der Regierungen. Die Zeichen stehen auf Desintegration und nicht auf Integration. In dieser Endzeitstimmung wirkte Montag ein Treffen wie die Erinnerung an bessere Zeiten: Die Vertreter der drei entscheidenden Gründungsmitglieder Frankreich, Deutschland und Italien, François Hollande, Angela Merkel und Matteo Renzi gaben in Berlin gemeinsam ein Bekenntnis zur EU ab.
Der immer stärker werdende Geist der Desintegration hat sich auch schon bei den Bemühungen gezeigt, die EU-Ablehnung in Großbritannien zu besänftigen: Man akzeptierte – letztlich ohne Erfolg – eine Reihe von Alleingängen, insbesondere bei der Aufnahme von Flüchtlingen und der Einschränkung des Zuzugs von Arbeitskräften aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten. Der Ruf nach einer Stärkung des Rats weist in die gleiche Richtung, aber für alle Mitglieder. Hier wird nur die schon bei der Einschränkung und letztlich bei der Ablehnung der Verfassung im Jahr 2004 betriebene Politik fortgesetzt.
Die Weigerung fast aller Staaten, in der Flüchtlingsfrage eine gemeinsame, europäische Lösung zu finden, ist der bisher deutlichste Beweis, dass für viele „Union“ und „Integration“ nur Worthülsen sind.
Ob man diese Entwicklung begrüßt oder bedauert, sie muss endlich zur Kenntnis genommen werden. Der in diesen Tagen zu beobachtende Versuch, die Fassade einer Union zu bewahren, ist zum Scheitern verurteilt. Auch das Bemühen, den Brexit gleichsam als einen Irrtum darzustellen, bringt keine Lösung. Offenkundig sind zahlreiche Europäer nicht an einer tatsächlichen Integration des Kontinents interessiert. Länder, in denen diese Ausrichtung bestimmend ist, können nicht Mitglieder der EU sein, wie sie derzeit konzipiert ist.
Folglich gibt es mehrere Möglichkeiten:
- Diese Länder verlassen die EU
- oder die EU findet eine neue Konzeption, die auf die Zusammenarbeit eigenständig agierender Staaten abstellt.
- Oder man schafft ein Kerneuropa, das zum Bundesstaat mit einer zentralen Regierung wird, und
- mit anderen, nicht integrationswilligen Staaten Kooperationen vereinbart.
Europa steht also wieder vor der Notwendigkeit, eine Verfassung zu beschließen, und bekommt nun die Quittung für den mit dem „Lissabonner Vertrag“ versuchten Etikettenschwindel.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.