Politik

Erdogan unter Druck: Kapitalflucht aus der Türkei

Die Türkei gerät auf den Finanzmärkten unter Druck. Internationale Investoren verlassen das Land auf breiter Front. Dem Land droht der finanzielle Kollaps. Spekulanten dürften es genau darauf abgesehen haben.
22.07.2016 12:20
Lesezeit: 2 min

Hinter den Kulissen der Finanzwelt gerät der türkische Präsident Erdogan gewaltig unter Druck. Offenbar hat auch die kurzfristige Sperrung des US-Luftraums für die Maschinen der Turkish Airlines ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Anleger fürchten eine weitere Eskalation und ziehen auf breiter Front aus der Türkei ab. Der Tourismus ist bereits schwer getroffen. Wenn es Erdogan nicht gelingt, das Land zu stabilisieren, droht der Türkei der finanzielle Kollaps. Sujata Rao und Asli Kandemir liefern bei Reuters dazu einen interessanten Hintergrund-Bericht aus London und Istanbul:

Noch bis vor einigen Wochen konnte die Türkei mit einer florierenden Wirtschaft und hohen Auslandsinvestitionen glänzen. Doch der gescheiterte Putsch und Sorgen vor einer Alleinherrschaft werden nach Einschätzung von Experten ihre Spuren hinterlassen. Die Unsicherheit hat sich zuletzt schon nach den Anschlägen in Istanbul auf den Flughafen und auf Touristen erhöht. Investoren sprechen deshalb von gestiegenen Risiken.

In der Folge droht der Türkei ein Abfluss ausländischer Investitionen von Hunderten Milliarden Dollar. Seit Ende 2003 investierten dem Institut of International Finance zufolge Anleger mehr als 150 Milliarden Dollar in türkische Aktien- und Anleihenmärkte. „Das Risiko einer Kapitalflucht bleibt solange bestehen, bis die Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, klar offengelegt werden“, sagt Özlem Derici, Chefvolkswirt beim Finanzdienstleister Deniz Investment in Istanbul.

Ein Großteil der Investitionen in die Türkei ist auf die Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor über zehn Jahren zurückzuführen. Als er 2003 Regierungschef wurde, verabschiedete das Parlament weitreichende Reformen zur Demokratisierung des Landes – eine Abschaffung der Todesstrafe, Kampf gegen Folter, Erweiterung der Meinungsfreiheit und die weitere Annäherung der Türkei an die Europäische Union.

Erdogan kann jetzt per Dekret regieren

Nun fürchten die Anleger Erdogans Reaktion auf den gescheiterten Militärputsch vor einer Woche. Seitdem wurden in der Türkei rund 60.000 Soldaten, Polizisten, Beamte und Lehrer suspendiert oder festgenommen. Mit dem am Mittwochabend verhängten Ausnahmezustand kann Erdogan sogar per Dekret regieren. Grundrechte und Freiheiten können eingeschränkt oder aufgehoben werden. Internationale Kapitalgeber überdenken ihr Engagement in der Türkei. Bei einem Kapitalabfluss wird auch die türkische Währung Lira verstärkt unter die Räder kommen. Die Preisbeschleunigung dürfte anhalten und das Wirtschaftswachstum leiden.

Nach Verhängung des Ausnahmezustands zogen sich bereits Anleger aus dem Land zurück. Der Leitindex der Istanbuler Börse fiel am Donnerstag um bis zu 3,8 Prozent auf ein Fünf-Monats-Tief von 72.065 Punkten. Damit summiert sich das Minus seit dem gescheiterten Putsch auf rund 13 Prozent. Das ist der größte Kursrutsch der Geschichte.

Die Rating-Agentur Standard & Poor's (S&P) stufte wegen der politischen Turbulenzen die Kreditwürdigkeit der Türkei auf „BB“ von „BB+“ herunter – und damit tiefer in den spekulativen Bereich. Zudem drohte S&P weitere Schritte an. Auch dies dürfte die Investoren abschrecken, so Derici. Auf Ratings fokussierte Fonds zögen ihr Kapital ab.

Die Fonds Aviva und GAM reduzierten zuletzt bereits ihr Engagement in der Türkei. Die Banken Morgan Stanley, Societe Generale, BNP Paribas und Citigroup deuteten an, sich zurückziehen zu wollen. Patrick Mange, Fondsmanager bei BNP Paribas Investment Partners, sieht türkische Anlagen kritisch. Er will sie in seinem Portfolio „untergewichten“, bis es Klarheit über die Entwicklung in der Türkei gibt. Er erwarte für die nächste Zeit eine Neuverteilung der Fondsgelder.

Bei den meisten Fonds regiert zunächst Vorsicht

Nicht alle sehen die Entwicklung in der Türkei so pessimistisch. Die Vermögensverwalter Aberdeen, Baring und Berenberg sehen in den jüngsten Kursrückgängen eine Chance für Schnäppchenjäger angesichts des langfristigen Potenzials des Landes. Für die Vermögensverwaltung der UBS bleibt die Türkei ein bevorzugter Aktienmarkt in Schwellenländern. Die Bewertungen der dortigen Papiere seien günstig im Vergleich zu anderen Schwellenländern. Die Risiken seien bereits einberechnet.

Viele andere Fonds bleiben jedoch vorsichtig. Dazu zählen jene, die normalerweise nicht in Schwellenländern investieren, allerdings in den vergangenen Jahren in den Sektor durch hohe Anleihe-Renditen gelockt wurden. Diese Fonds warten für ihre Investitionsentscheidung auf die Bewertung der Rating-Agenturen Fitch und Moody's im kommenden Monat. Die US-Bank JP Morgan geht davon aus, dass eine Herabstufung durch die Bonitätswächter Fonds dazu bewegen dürfte, sofort türkische Anleihen im Volumen von rund zehn Milliarden Dollar abzustoßen.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Technologie
Technologie Arbeitsmarkt: Top-Berufe, die es vor 20 Jahren noch nicht gab
31.03.2025

Eine Studie von LinkedIn zeigt, wie Künstliche Intelligenz (KI) neue Jobs und Fähigkeiten schafft, Karrieren und Arbeitswelt verändert:...

DWN
Finanzen
Finanzen Commerzbank-Aktie: Kurs knickt nach Orcel-Aussage deutlich ein
31.03.2025

Die Commerzbank-Aktie muss nach einer starken Rallye einen Rückschlag hinnehmen. Unicredit-Chef Andrea Orcel hatte zuvor einen möglichen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft EU vor Herausforderungen: Handelskriege könnten die Wirtschaft belasten – der Ausweg heißt Binnenmarkt
31.03.2025

Die protektionistischen Maßnahmen der USA und mögliche Handelskonflikte belasten die EU-Wirtschaft. Experten wie Mario Draghi fordern...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Betonblock: Lego verklagt Hersteller von Anti-Terror-Betonklötzen
31.03.2025

Lego verklagt das niederländische Unternehmen Betonblock. Die Anti-Terror-Blöcke des Herstellers erinnerten zu sehr an die...

DWN
Technologie
Technologie Neue EU-Vorschriften: Plug-in-Hybriden drohen deutlich höhere CO2-Emissionen
31.03.2025

Mit der Einführung neuer, verschärfter Emissionsmessungen für Plug-in-Hybride (PHEVs) wird die Umweltbilanz dieser Fahrzeuge erheblich...

DWN
Politik
Politik Marine Le Pen wegen Veruntreuung zu Fußfesseln verurteilt - FN-Chef Bardella: "Hinrichtung der französischen Demokratie"
31.03.2025

Marine Le Pen wurde in Paris wegen der mutmaßlichen Scheinbeschäftigung von Mitarbeitern im Europaparlament schuldig gesprochen - das...

DWN
Technologie
Technologie Balkonkraftwerk mit Speicher: Für wen sich die Investition wirklich lohnt
31.03.2025

Balkonkraftwerk mit Speicher: eigenen Strom gewinnen, speichern und so Geld sparen. Doch so einfach ist es leider nicht, zumindest nicht...

DWN
Finanzen
Finanzen US-Börsen: Der Handelskrieg gefährdet die US-Ausnahmestellung
31.03.2025

Da Investitionen nach neuen Möglichkeiten abseits der zuletzt florierenden US-Finanzmärkte suchen, wird an der Wall Street diskutiert, ob...