Politik

Feindseligkeit gegen Türken: „Totale Enthemmung“ in Österreich

Lesezeit: 2 min
27.08.2016 02:05
In Österreich und Deutschland haben Politiker nach dem Putschversuch in der Türkei unerwartet heftige Attacken gegen türkischstämmige Bürger geritten. In Österreich wurde den Türken sogar die Ausreise nahegelegt. Die Reaktion der Österreicher: Ein übler Volkszorn, der sich unmittelbar im Alltag der Betroffenen niederschlägt. Murat Durdu von der Arbeiterkammer will die Entwicklung nicht einfach hinnehmen.
Feindseligkeit gegen Türken: „Totale Enthemmung“ in Österreich
Murat Durdu.
Foto: Kadir ALTINTAS

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was hat Sie im Verlauf der aktuellen Situation in Österreich besonders aufgeregt? Wir erleben Sie das Ganze?

Murat Durdu: Die Sozialdemokraten und Christdemokraten sind alle nach rechts abgedriftet. Innerhalb der österreichischen Bevölkerung kommt es zu Attacken gegen Menschen, die die Täter für „Muslime“ oder „Türken“ halten. Ich kann hier ein Beispiel anführen. Mein Vater und meine Mutter wollten in einem Restaurant gemeinsam etwas essen. Als mein Vater bezüglich eines Gerichts nachfragte, ob da Schweinefleisch sei, antwortete der Ober: „Wissen Sie eigentlich, in welchem Land Sie leben?“ Anschließend eskalierte die Lage. Insbesondere die erste Generation der Austro-Türken hat diese Behandlung schlichtweg nicht verdient. Das ist zutiefst ungerecht. Der Integrations- und Außenminister Sebastian Kurz und Bundeskanzler Kern - einschließlich der Parteien, sagen nicht nur, dass sie uns weghaben wollen. Sie meinen das, was sie sagen. Doch ich bin Österreicher, aber mit türkischen Wurzeln und kein Gastarbeiter. Ich bin Österreicher und weder Gast noch Arbeiter. Bei unserem Offenen Brief geht es nicht um Erdogan. Es ist eine Reaktion auf die Aufforderung der Politiker, Österreich zu verlassen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist die Stimmung gegenüber den Türken in Österreich besonders aufgeheizt?

Murat Durdu: Wir erhalten Berichte über verbale und physische Angriffe gegen Frauen mit Kopftüchern. Doch vieles sickert nicht durch, weil die Menschen keine Anlaufstelle haben. In den Schulen wird das Thema Erdogan offensiv thematisiert, was immer darin endet, dass die türkischstämmigen Schüler den Schikanen der Mitschüler und Lehrer ausgesetzt sind. Auch dort gibt es unter dem Vorwand der Erdogan-Kritik flächendeckende Übergriffe. Es findet eine totale Enthemmung statt, die durch die Politik genährt wird. Vorfälle, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren, sind mittlerweile Alltag. Allerdings kann man noch nicht von einer Pogromstimmung reden, da wir noch nicht um unser Leben fürchten müssen. Eine gezielte Verfolgung gibt es noch nicht. Schließlich kann man sagen, dass wahrscheinlich die Hälfte der Österreicher gegen diese Politik ist, und sie nicht mitträgt – auch wenn sie schweigen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Steckt vielleicht auch ein politisches Kalkül hinter der aktuellen Kampagne gegen die Austro-Türken?

Murat Durdu: Im Oktober soll ein neuer Bundespräsident gewählt werden. Es geht bei dieser Kampagne auch um diese Wahl und wir sind hier der Sündenbock, auf dessen Rücken alles ausgetragen wird. Den Politikern ist es völlig egal, ob sie dem inneren Frieden beschädigen. Sie wollen die Wahl gewinnen und wollen verhindern, dass die FPÖ den Kanzler stellt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was halten Sie von dem Aufruf der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, wonach die Deutsch-Türken ihre Loyalität zum deutschen Staat unter Beweise stellen sollen?

Murat Durdu: Ich denke, dass Frau Merkel vor allem innerparteilich zu dieser Aussage gedrängt wurde. Die türkischstämmigen Minderheiten in Deutschland und Österreich sind nicht illoyal. Dieser Vorwurf stimmt einfach nicht. Es gibt hier einen wichtigen Unterschied zwischen Merkels und Kerns Aussagen. In Österreich ist es nicht nur ein Spruch, sondern ein ernst gemeinter Aufruf, dass wir Österreich verlassen sollen. Merkel ist aber noch nicht so weit gegangen. Aus Sicht der österreichischen Politik sind „Türken nicht integrationsfähig“. Doch was heißt hier Integration? Wenn ich meinen Glauben, meine Lebensweise und meine Identität komplett aufgeben muss, um mich unterzuordnen, sind das Formen der Zwangsassimilation und keine Integration.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sind die Austro-Türken die größte Minderheit in Österreich?

Murat Durdu: Nein, es gibt mehr Ost-Deutsche und Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Es kann auch sein, dass die Ost-Deutschen, die sich in Österreich ansiedeln, mittlerweile zahlenmäßig mehr sind als die Ex-Jugoslawen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Können Sie uns kurz schildern, welches völlig subjektive tiefe Gefühl sie umtreibt?

Murat Durdu: Wissen Sie, wir wissen was in den 1920er Jahren in Österreich passiert ist, wie die Stimmung schrittweise gegen eine Gruppe aufgebaut wurde. Ganz ehrlich: Ich habe das Gefühl, dass ich jederzeit dazu verdammt werden könnte, mit einem gelben Halbmond auf der Brust herumzulaufen. In diesen Zeiten wünscht man sich, dass es nur einen einzigen in der Politik gibt, der aufsteht und sagt: „Hört nicht auf die. Ihr seid ein Teil von Österreich und Österreich ist ein Teil von euch.“

Murat Durdu ist der Generalsekretär der Vorarlberger Arbeiterkammer-Fraktion NBZ (Neue Bewegung für die Zukunft).


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Halbzeit Urlaub bei ROBINSON

Wie wäre es mit einem grandiosen Urlaub im Juni? Zur Halbzeit des Jahres einfach mal durchatmen und an einem Ort sein, wo dich ein...

DWN
Politik
Politik DWN-Kommentar: Eine Welt ohne Europa?
04.05.2024

Der Krieg in der Ukraine und die Spannungen im Nahen Osten gefährden die Zukunftsfähigkeit der EU. Nun steht sie an einem Scheideweg:...

DWN
Finanzen
Finanzen Platzt die ETF-Blase – was dafür, was dagegen spricht
04.05.2024

Kaum eine Investmentform konnte in den zurückliegenden Jahren die Gunst der Anleger derart erlangen wie dies bei Exchange Traded Funds,...

DWN
Immobilien
Immobilien Streikwelle auf Baustellen droht: Gewerkschaft kündigt Massenstreiks an
04.05.2024

Die Bauindustrie steht vor Massenstreiks: Gewerkschaft kündigt flächendeckende Arbeitsniederlegungen mit rund 930.000 Beschäftigten an.

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Chinas Einfluss in Südostasien: Herausforderung für deutsche Firmen
04.05.2024

Deutsche Unternehmen suchen verstärkt nach Alternativen zum chinesischen Markt und richten ihr Augenmerk auf die aufstrebenden...

DWN
Technologie
Technologie CO2-Speicherung: Vom Nischenthema zum Wachstumsmarkt
04.05.2024

Anreize durch die Politik, eine neue Infrastruktur und sinkende Kosten: CO2-Speicherung entwickelt sich zusehends vom regionalen...

DWN
Politik
Politik Wahljahr-Turbulenzen: Biden im Kreuzfeuer der Gaza-Proteste
04.05.2024

Seit Monaten sind bei fast jedem öffentlichen Auftritt von Präsident Joe Biden propalästinensische Demonstrationen zu sehen, die sich im...

DWN
Politik
Politik Mindestlohn: Neues Streitthema köchelt seit dem Tag der Arbeit
04.05.2024

Im Oktober 2022 wurde das gesetzliche Lohn-Minimum auf zwölf Euro die Stunde erhöht. Seit Jahresanfang liegt es bei 12,41 Euro, die von...

DWN
Technologie
Technologie Deutsches Start-up startet erfolgreich Rakete
04.05.2024

Ein deutsches Start-up hat eine Rakete von zwölf Metern Länge entwickelt, die kürzlich in Australien getestet wurde. Seit Jahrzehnten...