Politik

Ex-Kanzler Schröder: Nato darf nicht die Russland-Politik Europas bestimmen

Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder fordert, dass die EU und Russland wieder Partner werden müssten.
09.05.2015 17:14
Lesezeit: 3 min

„Sicherheit in Europa gibt es nur mit Russland, nicht gegen Russland. Und den Weg, den beide Seiten dabei einschlagen müssen, der führt nur über Dialog und Kooperation“, sagte Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder bei der Tagung „Im Osten nichts Neues?“ am Freitag in der Evangelischen Akademie Bad Boll. „Auf diesen Weg müssen alle Beteiligten zurückfinden. Ansonsten wird das europäische Haus keine sichere Heimat für uns und die nachfolgenden Generationen sein.“

Schröder sagte: „Die heute politisch Handelnden auf beiden Seiten müssen die Gefahren eindämmen, die im Ukraine-Konflikt liegen. Die Gefahr nämlich, dass dieser Konflikt wieder eskaliert. Dazu ist auch eine verbale Abrüstung auf beiden Seiten notwendig. NATO und EU auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite sind keine Feinde. Sie müssen wieder Partner werden“, sagte Schröder. „Wir dürfen uns - auch im Westen - nicht in eine Spirale der Aufrüstung begeben, nur weil das einige Militärs fordern. Und es ist dringend notwendig, dass auch Russland wieder zurückfindet zu einer Politik und einer Sprache der Verständigung und des Ausgleichs.“

Einen „wesentlichen Grund“ für den Prozess der gegenseitigen Entfremdung, der schon vor Jahren begonnen habe, sieht Schröder „in einer Neuausrichtung der amerikanischen Russlandpolitik in der Präsidentschaft von George W. Bush.“ Für die USA sei Russland vor allem „ein globaler Konkurrent, den es klein zu halten gilt“, sagte Schröder. „Dazu passt der provozierende Satz von Präsident Obama, Russland sei nur eine ‚Regionalmacht‘. Eben das ist der falsche und gefährliche Ton, der die Begleitmusik von Eindämmung und Einkreisung ist.” Für die EU sei Russland ein unmittelbarer Nachbar. Schröder: „Für uns sind die europäisch-russischen Beziehungen eine Frage existenzieller Natur.“

Als verhängnisvoll bewertete Schröder den Versuch der USA, „Staaten wie Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen.“ Zwar habe die Bundesregierung 2008 eine sofortige Aufnahme Georgiens und der Ukraine verhindert, den Ländern aber eine solche Aufnahme grundsätzlich versprochen. „Ob das klug war, sei dahin gestellt. Denn eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine vor dem historischen und kulturellen Hintergrund des Landes war und ist problematisch. Das Land ist gespalten zwischen Ost und West, zwischen einer Orientierung nach Europa oder Russland.“ Ein Annäherungsprozess der Ukraine an die NATO und die Europäische Union könne nur dann erfolgreich sein kann, „wenn sich auch Europäische Union und Russland annähern. Deswegen wäre es von der EU richtig gewesen, nicht nur mit der Ukraine, sondern auch mit Russland über ein Assoziierungsabkommen zu verhandeln.“ Langfristig sei eine solche Assoziierung von Russland und der EU nötig, „um Frieden, Stabilität und Wohlstand auf dem ganzen Kontinent zu sichern“.

Die „Annexion der Krim durch Russland“ bewertete Schröder als Bruch des Völkerrechts. „Aber wer in Osteuropa nun mit dem Finger auf seinen Nachbarn Russland zeigt, sollte sich an die eigene Irak-Entscheidung erinnern“, sagte er. Die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg hätten gezeigt, dass Verständigung und Versöhnung möglich seien.

Das heute noch bestehende Ordnungssystem des Kalten Krieges sei nicht mehr geeignet, Frieden und Stabilität im globalen Maßstab zu garantieren – weder im Nahen und Mittleren Osten noch in Europa. „Es ist uns – und da schließe ich meine Amtszeit ausdrücklich mit ein – nicht gelungen, in Europa eine stabile Friedens- und Sicherheitsarchitektur zu schaffen.“ Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent seien nur in einer Sicherheitspartnerschaft mit Russland realisierbar, die auf Interessen und dem Ausgleich von Interessen basieren müsse.

„Wir sollten schon aus eigenem Sicherheitsinteresse ein stabiles Russland unterstützen, auch wenn es nicht unseren Wertmaßstäben entspricht“, sagte Schröder. „Stabilität ist die Voraussetzung dafür, dass sich Demokratie und Menschenrechte entwickeln können. Das gilt für Russland wie für die Ukraine, ebenso gilt das für die Länder des Arabischen Frühlings.“

Mit Sorge beobachte er die Abwendung Russlands von Europa und die Hinwendung zu China. „Für Russland ist das auch keine gute Perspektive, denn China kann zwar ein Partner bei der wirtschaftlichen und technologischen Modernisierung sein.“ Einen größeren ökonomischen Zugewinn hätte Russland aber durch eine Partnerschaft mit Europa. Schröder bezweifelt, dass Russland eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit China anstrebe. „Aber eine solche Achse könnte eine Folge der Politik des Westens werden.“

Noch bis zum Sonntag dauert die Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll, bei der außer Gerhard Schröder auch der Bundesminister a. D. Prof. Dr. Erhard Eppler, Ministerpräsident a. D. Dr. Günther Beckstein, Dr. Ricarda Vulpius, Charis Haska, Dr. Diana Sieber (Initiative Demokratische Ukraine) sowie PD Dr. habil. Markus Kaim (Stiftung Wissenschaft und Politik) sprechen werden. Neben einer Analyse der historisch-kulturellen Hintergründe der Konfliktlage im Osten werden politische und wirtschaftliche Interessen der Beteiligten beleuchtet. Darüber hinaus wird das Echo des Konflikts in den Medien untersucht und die Situation der Zivilgesellschaften diskutiert.

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