Finanzen

Ein Desaster: Auch Trump wird US-Gesundheitssystem nicht retten

Lesezeit: 7 min
19.03.2017 01:00
US-Präsindet Trump will mit der Abschaffung von Obamacare das US-Gesundheitswesen retten. Er dürfte zu spät kommen, weil die Explosion der Kosten nicht mehr verhindert werden kann.

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Donald Trump hat eine wirtschaftspolitische Agenda, die in vielem den „Reagonomics“, der Wirtschaftspolitik unter dem früheren Präsidenten Reagan, entspricht. Doch die Bedingungen heute und damals sind völlig verschieden. Auch ohne finanzpolitische Maßnahmen droht die Staatsverschuldung aus dem Ruder zu laufen. Die von Präsident Trump angekündigten Steuerkürzungen und Ausgabenerhöhungen würden deshalb zu einer Staatsschuldenexplosion führen.

Trump hat zudem ein gravierendes Problem geerbt, welches unter Reagan nicht ins Gewicht fiel: Die Explosion der Gesundheitskosten, die sich auch bei den Krankenkassen-Prämien im privaten Sektor niederschlägt. In der politischen Diskussion wird dieses Phänomen mit Obamacare assoziiert, was aber nicht oder nur zu einem kleinen Teil korrekt ist.  

Der Affordable Care Act von 2010 (im Volksmund Obamacare) ist die wichtigste Errungenschaft oder Neuerung von Präsident Obama. Die Republikaner haben sie von der Diskussion bei der Einführung an mit allen Mitteln bekämpft. Zunächst natürlich mit Filibustern im Parlament. Sie gelangten unter Anderem mehrfach mit Verfassungsklagen vor Oberste Bundesgericht (und sind gescheitert). Sie haben die Neuerung auf der Ebene der republikanischen Bundesstaaten zu torpedieren versucht. Präsident Trump und die Republikaner haben im Wahlkampf versprochen, sofort bei Amtsantritt Obamacare abzuschaffen und zu ersetzen („Repeal and Replace“). Das war eine enorm zugkräftige Parole, vor allem weil die Prämiensätze für die private Krankenversicherung auch in den 2010er Jahren weiter kräftig angestiegen sind. Die Krankenkassenprämien belasten Unternehmen wie private versicherte Haushalte inzwischen enorm.

Die Republikaner wie auch Präsident Trump haben in den ganzen Jahren außer aggressiver Rhetorik nie einen konkreten Gegenvorschlag präsentiert, vor allem auch nicht im Wahlkampf. Insofern entspricht der vom republikanischen Mehrheitsführer im Kongress, Paul Ryan, nun eingebrachte Vorschlag einem Novum. Kurz nach der Präsentation ist er bereits stark umstritten, vor allem auch in den eigenen Reihen. Viele konservative Republikaner, vor allem die Tea-Party Anhänger, verspotten ihn als „Obamacare Lite“, als leicht verwässerte Form von Obamacare.

Die Diskussion um Obamacare oder eine Folgelösung enthält effektiv Explosivstoff, dies in mehrerlei Hinsicht:

  • Ohne eine Folgelösung, welche den Kongress passiert und vom Präsidenten unterzeichnet ist, können zentrale Wahlkampfversprechen von Trump überhaupt nicht angegangen werden. Präsident Trump wird seine Vorschläge für Steuersenkungen für Private und Unternehmen gar nicht einbringen, ohne dass vorgängig eine kostensenkende Nachfolgeregelung für Obamacare gefunden und verabschiedet worden ist. Das hat er bereits angekündigt. Auch das Infrastrukturprogramm dürfte ohne Nachfolgeregelung auf dürren Beinen daherkommen respektive nur ohne staatliche Budgetmittel realisiert werden. Insofern ist „Repeal and Replace“ das Kernstück der Präsidentschaft von Trump wie auch der republikanischen Agenda im Kongress.

  • Die Explosion der Gesundheitskosten ist nicht nur ein kurz-, mittel- und langfristiges Budgetproblem des Bundes. Sie ist ein erhebliches Problem für die Kaufkraft der privaten amerikanischen Haushalte. In den Verbraucherpreis-Index (CPI) oder den vom Fed beobachteten Ausgabendeflator des privaten Konsums (PCE) gehen die von den Haushalten effektiv bezahlten Krankenkassen-Prämien nicht ein. Diese bleiben unberücksichtigt. Es sind die Preise zu Grunde liegender Dienstleistungen wie Arzt- oder Spital-Tarife oder Medikamentenpreise, welche in der Statistik erfasst werden. Der große Teil der Gesundheits-Kosten fällt aber gar nicht bei Berufstätigen, sondern bei Pensionierten an, vor allem in den allerletzten Lebensjahren. Zudem läuft die Kostenexplosion im Gesundheitswesen so ab, dass immer mehr Leistungen verschrieben werden, die gar nicht nötig sind. Im Effekt reduziert sich das für den effektiven Konsum verfügbare Haushalteinkommen vieler privat Versicherter, welche keine oder geringe Gesundheits-Dienstleistungen konsumieren.

  • Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen belastet die Arbeitskosten vieler Unternehmen, wenn diese die Krankenkassen-Prämien ihrer Mitarbeiter bezahlen. Hierzu einige Überlegungen: Die Arbeitskosten setzen sich aus den ausbezahlten Löhnen, den Krankenversicherungsprämien sowie den Einlagen in die Pensionsfonds zusammen. Diese Lohnnebenkosten sind ein wichtiger Grund, dass gut gehende Unternehmen der verarbeitenden Industrie ihre Aktivitäten auslagern, sei dies nach China, sei dies nach Mexiko, wo sie nicht anfallen. Es gibt selbstverständlich auch wichtige steuerliche Gründe dafür. Für kleine und mittlere Unternehmen, die vor allem auf dem Binnenmarkt tätig sind, sind die Lohnnebenkosten ein wichtiger Grund, nicht zu viel Personal aufzubauen und vor allem auch Schwarz- und Leiharbeit extensiv zu nutzen.

  • Die Nachfolgeregelung ist existentiell für viele Versicherte, sowohl Gesunde wie auch Personen mit chronischen Krankheiten, von denen es in den Vereinigten Staaten besonders viele gibt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat mindestens eine chronische Krankheit. Ein Viertel der Bevölkerung hat zwei und mehr chronische Krankheiten. Chronische Kranken bedürfen der beständigen Pflege, sind umgekehrt deshalb auch die großen Kostentreiber im Gesundheitswesen. Für viele Versicherte ist die Deckung und Unterstützung durch staatliche Leistungen zentral. Als Privatpersonen könnten sie die Prämien nicht tragen.

  • Gesundheitlich und ökonomisch besonders exponiert sind die Kernwählerschichten der Republikaner in den von diesen dominierten Bundesstaaten wie auch in den Wechselstaaten, welche Trump und die Republikaner 2016 gewonnen haben. Es ist die Generation der Babyboomer, welche zwei Eigenschaften auf sich vereinen. Sie sind an der Schwelle zum Alter, zum Ausscheiden aus dem Berufsleben. Statistisch erhöhen sich die multiplen chronischen Krankheiten im Alter massiv. Das ist eine Dimension ihrer Risikoexposition. Eine andere ist ihr gesundheitlicher Zustand, der bereits häufig in der zweiten Hälfte des Berufslebens angeschlagen ist. Wie keine andere Generation je zuvor ist diese Generation mit einer hohen gesundheitlichen Risikoexposition konfrontiert, die gegenüber früheren Jahrzehnten sehr speziell ist. Politisch wäre es für Trump wie für die Republikaner Selbstmord, diese Interessen ihrer Kernklientel beiseite zu schieben. Das macht eine Lösung so schwierig.

  • Aus dieser Gesamtkonstellation ergibt sich, dass das Ringen um Obamacare respektive deren Nachfolgelösung auch für die Finanzmärkte zentral ist. Seit den Wahlen vom 9. November 2016 hat sich die Stimmung an den Finanzmärkten massiv aufgehellt. Die Aussicht auf Steuersenkungen für Private und Unternehmen, auf Deregulierung, steuergünstige Repatriierung von im Ausland gehaltenen Cash der Gesellschaften und auf wirtschaftsfreundliches Klima hat die Aktienmärkte in einen regelrechten Rausch versetzt. Dies obschon die Gewinne der Gesellschaften seit rund 6 Jahren stagnieren, die aktuellen Konjunkturdaten enttäuschend sind, und die Zentralbank eine geldpolitische Straffung eingeleitet hat. Sollte sich dieses berauschende Narrativ nicht erfüllen, wäre wohl zumindest mit einer heftigen Korrektur, wenn nicht einer regelrechten Baisse zumindest am Aktienmarkt zu rechnen. Denn die Bewertungen liegen außerhalb jeder historischen Komfortzone, und enthalten jede Menge aufgeblasene Luft.

Von daher rechtfertigt sich, die Kosten des Gesundheitswesens in den USA in allen Facetten etwas vertieft zu analysieren.

Der Anstieg der Gesundheitskosten ist zunächst einmal ein weltweites Phänomen. Dieser Anstieg spiegelt wie überall die Alterung der Gesellschaft wider. In den USA kommen aber spezifische Faktoren hinzu, welche das ganze System besonders teuer und ineffizient machen. Sie sorgen nicht nur für rasch steigende staatliche Gesundheitskosten, sondern vor allem auch für explodierende Krankenkassenprämien privat Versicherter – sowohl für die Unternehmen als auch für die Privaten.

Aus der Grafik gehen zwei Besonderheiten des amerikanischen Gesundheitswesens hervor:

Die USA (Säule ganz links) haben die mit Abstand höchsten Gesundheitskosten pro Kopf der Welt. Die Distanz zur Schweiz, an zweiter Stelle liegend, ist bereits beträchtlich. Verglichen mit dem OECD-Durchschnitt (grau/grüne Säule in der Mitte) erreichen die Gesundheitsausgaben deutlich mehr als das Doppelte. Doch der Gesundheitszustand der amerikanischen Bevölkerung ist bestenfalls unterdurchschnittlich, wenn nicht sogar schlecht – an einer breiten Auswahl von Indikatoren gemessen. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt, ein Indikator, der gerne als Synthese für die Gesundheit der Bevölkerung verwendet wird, beträgt 79 Jahre gegenüber 82-85 Jahren in anderen fortgeschrittenen OECD-Ländern. Die Lebenserwartung liegt damit im untersten Viertel der OECD-Länder.

Neben den hohen Kosten für das Gesundheitswesen ist die Aufteilung zwischen privater und öffentlicher Versicherung einzigartig. Nur die Vereinigten Staaten haben einen derart hohen Anteil privat Versicherter (hellblauer Säulenteil) unter den großen Industrieländern. Die privat Versicherten setzen sich dabei in den USA mehrheitlich aus Haushalten zusammen, die durch das Unternehmen versichert sind, wo ein Familienmitglied beschäftigt ist. Der Rest sind effektiv privat versicherte Haushalte.

Im Wahlkampf wurde der starke Anstieg der Krankenkassenprämien in den letzten Jahren von den Republikanern als Folge von Obamacare dargestellt. Deshalb erscheint vielen die Forderung populär, Obamacare abzuschaffen und zu ersetzen. In Wirklichkeit ist dies eine Ablenkung von den tatsächlichen Problemen des Gesundheitswesens. Obamacare betrifft nur einzelne Probleme an der Oberfläche. Darunter sind viel stärkere Trends verborgen, die in der öffentlichen Diskussion, vor allem der wissenschaftlichen Analyse, sehr wohl bekannt sind, in der politischen Debatte aber konsequent verschwiegen werden und stattdessen auf Feindbilder wie Obamacare projiziert werden.

Der rasante und ungebremste Anstieg der Gesundheitskosten geht weit über einige zweifellos vorhandene Designfehler von Obamacare hinaus. Effektiv hat sich der Anstieg seit 2010 gegenüber den beiden vorangegangenen Jahrzehnten sogar verlangsamt – genauso übrigens wie in den 1990er Jahren unter Präsident Clinton. Unter jedem anderen Präsidenten haben die Gesundheitskosten seit 1960 praktisch jedes Jahr zugelegt, vor allem stark unter den Republikanern Reagan/Bush 1/Bush 2.

Die Gesundheitskosten in den USA sind über die letzten 55 Jahre enorm angestiegen: von rund 5 Prozent 1960 auf inzwischen 17.8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2015, der letzten erhältlichen Zahl. Dieser Trend ist ungebrochen und wird sich weiter fortsetzen. Vor allem für 2017 sind die Versicherungsprämien explosionsartig angestiegen, sodass nicht ausgeschlossen ist, dass sie 19 Prozent übersteigen könnten. Die Schlussfolgerung dieses Artikels wird sein, dass sie auch weiter steigen werden – und zwar kräftig, weil die Treiber oder Faktoren ungebremst dafür sorgen werden. Ähnliche Gründe sind in anderen Ländern auch vorhanden, treffen dort in dieser Intensität aber nicht zu. In den anderen fortgeschrittenen OECD-Ländern betragen die Kosten des Gesundheitswesens zwischen 9 und 11.5 Prozent des BIP. Die Vereinigten Staaten stellen somit einen einsamen Ausreißer dar.

Die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung der USA leidet an mindestens einer chronischen Krankheit. Herz-/Kreislaufkrankheiten wie Schlaganfälle oder Herzinfarkte, Krebs, Diabetes Typ 2, Fettleibigkeit und Arthritis sind die häufigsten Formen. Ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung hat zwei chronische Krankheiten kombiniert. 12 Prozent haben drei oder mehr chronische Krankheiten kombiniert. Als chronisch werden Krankheiten von der amerikanischen Gesundheits-Statistik (U.S. Center for Health Statistics) bezeichnet, welche länger als mindestens drei Monate andauern. Sie können typischerweise weder durch Impfungen vorbeugend verhindert noch medizinisch geheilt werden und verschwinden auch nicht einfach wieder.

Das hat gravierende Konsequenzen: 86 Prozent der gesamten Kosten des amerikanischen Gesundheitssystems entstehen durch Patienten mit diesen chronischen Krankheiten, weil sie dauernde Behandlung erfordern. Vor allem die Patienten mit multiplen chronischen Krankheiten absorbieren das Gros der Gesundheitskosten. Darunter sticht vor allem die relativ kleine Gruppe von Patienten mit 5 oder mehr chronischen Krankheiten noch hervor.

Hinter dem Anstieg der Gesundheitskosten steckt also eine starke Zunahme chronischer Krankheiten. Diese sollen im Folgenden genauer umrissen werden. Zunächst: Wen treffen die chronischen Krankheiten? Geschlecht, Ethnie und Alter lassen diesbezüglich einige wesentliche Unterschiede erkennen:

  • Der Gesundheitszustand von Frauen ist im Allgemeinen schlechter als der von Männern. Sie haben signifikant höhere statistische Anteile bei allen Stufen von chronisch Kranken. Die Differenzen sind klar erkenntlich, aber nicht sehr ausgeprägt.

  • Nicht spanischsprachige Weiße sowie nicht-spanischsprachige Afro-Amerikaner haben gleichermaßen die schlechtesten Gesundheitswerte für alle Stufen von chronisch Kranken. Asiaten und Spanischsprechende haben mit Abstand bessere Werte, die ungefähr gleich gut oder schlecht sind. Hier sind schon klar erkennbare Differenzen vorhanden. Vor allem die asiatisch-stämmigen Bewohner haben ganz ausgeprägt bessere Gesundheitswerte als etwa nicht-hispanische Schwarze oder auch nicht-hispanische Weiße. Das deutet vor allem auf die Ernährung hin.

  • Bei den Altersgruppen zeigen sich die mit Abstand größten Unterschiede – bei allerdings bereits ungünstigen Ausgangswerten. So sind nicht wenige Personen in der ersten Hälfte des Berufslebens (18- bis 44-Jährige) bereits angeschlagen. Mehr als ein Viertel dieser Altersgruppe hat bereits mindestens eine chronische Erkrankung, 5 Prozent haben zwei chronische Krankheiten und 2 Prozent drei und mehr.

  • Bei den Personen in der zweiten Hälfte des Berufslebens (45- bis 65-Jährige) sind nur mehr 37 Prozent ohne chronische Krankheiten. 30 Prozent dieser Altersgruppe haben eine, 19 Prozent zwei und 14 Prozent drei chronische Erkrankungen. Das ist eine ganz massive Verschlechterung.

  • Bei den über 65-jährigen Personen haben nur noch 14 Prozent keine chronische Erkrankung. 25 Prozent haben nur eine, 28 Prozent zwei und 33 Prozent drei oder mehr chronische Erkrankungen. Das sind katastrophal schlechte Werte. Noch etwas mehr detailliert stellt sich dies graphisch folgendermaßen dar.

Durch den Alterungsprozess nimmt also der Anteil mehrfach chronisch Kranker massiv zu. Bei den jungen Beschäftigten sind 2 Prozent mit drei oder mehr chronischen Krankheiten konfrontiert, bei den Personen in der zweiten Hälfte des Berufslebens sind es bereits 14 Prozent, bei den über 65-Jährigen sind es 30 Prozent.

Für die zukünftigen Gesundheitskosten hat dies massive Konsequenzen: Durch die anstehende Pensionierung bzw. allein durch das Älterwerden der geburtenstarken Jahrgänge, der Babyboomer, werden die chronischen Erkrankungen in den nächsten zwei Dekaden deutlich, wenn nicht sogar explosionsartig ansteigen. Denn je älter, desto höher ist der Anteil mit zwei, drei oder mehr chronischen Krankheiten. Diese erfordern umfangreichere Behandlung und erhöhen damit selbstverständlich auch die Gesundheitskosten.


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