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Alle Augen auf Deutschland: In den nächsten sechs Monaten entscheidet sich die Zukunft unseres Landes

Lesezeit: 10 min
19.07.2020 12:22  Aktualisiert: 19.07.2020 12:22
DWN-Gastautor Helmut K. Anheier zeigt auf, dass Deutschland zwar gut durch die Corona-(Wirtschafts)Krise gekommen ist, bei genauerem Hinsehen jedoch viele Schwächen hat und auf tönernen Füßen steht. Die nächsten sechs Monate werden zeigen, ob unser Land sich auf seine Stärken besinnen und eine Führungsrolle in Europa einnehmen kann - oder ob uns unser Wohlstand durch die Finger rinnt.
Alle Augen auf Deutschland: In den nächsten sechs Monaten entscheidet sich die Zukunft unseres Landes
Deutschland: Ein großes, starkes Land mit vielen Schwächen, das entscheidende Monate vor sich hat. (Foto: dpa)

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In diesem Monat hat Deutschland erstmals seit 13 Jahren die rotierende Präsidentschaft des Europäischen Rats übernommen (bis Ende Dezember, also sechs Monate lang - Anm. d. Red.). Seine Aufgabe wird es sein, die Europäische Union durch eine Zeit tiefer Unsicherheit zu führen. Wie der Rest der Welt, ringt auch Europa mit der anhaltenden COVID-19-Pandemie und dem schlimmsten wirtschaftlichen Abschwung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die europäischen Unternehmen und Institutionen stehen vor Herausforderungen, die viel größer sind als jene während der globalen Finanzkrise vor zehn Jahren. Und komplizierter wird die Sache noch dadurch, dass sich die geopolitische Lage weiter verschlechtert – aufgrund der Zerstörung des transatlantischen Bündnisses, veränderter Beziehungen zu China und wachsender russischer Aggression.

Vor diesem Hintergrund sind die Erwartungen an die deutsche Amtszeit sehr hoch – sowohl im Europäischen Rat als auch allgemein. Weltweit gilt Deutschland zunehmend als Modell für die Bewältigung der Pandemie, das Herstellen von Vertrauen durch solide politische Führung, ein starkes öffentliches Gesundheitssystem und einen Grad von Krisenvorbereitung, mit dem die meisten anderen Industriestaaten nicht mithalten können.

Die sachlichen Ansprachen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel stehen in krassem Gegensatz zum narzisstischen Geschwafel des US-Präsidenten Donald Trump und der inkompetenten Führung des britischen Premierministers Boris Johnson. Während in Deutschland von Anfang an weitläufig auf COVID-19 getestet wurde, wurden der britische National Health Service und ein großer Teil des Gesundheitssystems der Vereinigten Staaten vom neuen Aufflammen des Virus (das ja durchaus erwartbar war) überwältigt.

Darüber hinaus hat die deutsche Regierungskoalition ein ehrgeiziges Stimulus-Paket in Höhe von 130 Milliarden Euro beschlossen. Darin sind nicht nur 77 Milliarden Euro an sofortiger Nothilfe für kleine und mittlere Unternehmen, für Gemeinden sowie für Familien mit Kindern enthalten, sondern auch 50 Milliarden für zukunftsträchtige Investitionen in Wasserstoffenergie, 5G-Infrastruktur, E-Mobilität, Künstliche Intelligenz, Quantencomputer und Digitalisierung. Und dieses staatliche Paket kommt noch zusätzlich zum französisch-deutschen Wiederaufbaufonds der EU, mit dem schwer getroffenen Mitgliedstaaten geholfen werden soll.

Diese jüngsten deutschen Maßnahmen sind bemerkenswert, weil sie zeigen, dass das Land endlich seine traditionelle Politik der schwarzen Null – zur Vermeidung von Staatsschulden – aufgegeben hat. Nach Jahren der Haushaltsüberschüsse hat die Regierung nicht nur ihr Staatssäckel geöffnet, sondern sogar erhebliche Kredite aufgenommen. Wie Finanzminister Olaf Scholz kürzlich erklärte, kann es sich Deutschland, weil es bisher seine Staatsfinanzen gut im Griff hatte, nun leisten, als Antwort auf den COVID-10-Notstand Defizite einzugehen. Und da die Vorschläge zur Ausgabe von Eurobonds politisches Momentum gewinnen, könnte die hellrote Linie, die die deutsche Regierung nie zu überschreiten versprach – die Gründung einer EU-weiten „Transferunion“ – etwas von ihrer Leuchtkraft verloren haben.

Allem äußeren Anschein nach ist Deutschland auf dem besten Weg. Die Innenansicht ist allerdings viel weniger rosig. Trotz der offensichtlichen Widerstandskraft des Landes zeigen die im Folgenden besprochenen vier Bücher, dass die Deutschen, was die Lage ihrer Wirtschaft, Demokratie und Institutionen angeht, vor einem düsteren Ausblick stehen. Dort wird gezeigt, dass nicht alles gut ist und in den nächsten Monaten und Jahren viel auf dem Spiel steht.

1. Gründungsfantasien

„Wohlstand für alle“, lautete der Siegesruf des deutschen Finanzministers Ludwig Erhard in den 1950ern, als die Bundesrepublik ihr Wirtschaftswunder erlebte – den schnellen Neuaufbau und die rapide Erholung nach der Zerstörung des Zweiten Weltkriegs. Erhards Vision einer „Sozialen Marktwirtschaft“, die er als zweiter westdeutscher Kanzler in den 1960ern umsetzte, schuf die Grundlage für die schnelle Rückkehr des Landes als führende Wirtschaftsmacht. Danach ging es in Deutschland aufwärts.

Dies ist zumindest das vorherrschende Narrativ. Laut der Journalistin Ulrike Herrmann ist es ein Mythos: Es habe kein Wirtschaftswunder gegeben, lediglich ein „Wirtschaftsmärchen“. Ihrer Ansicht nach verdankt Deutschland seinen Nachkriegswohlstand nicht Erhards Beharren auf haushalts- und geldpolitischer Stabilität, der Unabhängigkeit der Zentralbank und der Wettbewerbsfähigkeit der Exporte, sondern eher einer glücklichen Verbindung aus amerikanischer Unterstützung, Korporatismus und günstigen Nachfragebedingungen während des Wiederaufbaus.

Dabei betont Herrmann, das „Soziale“ in Deutschlands Marktwirtschaft habe mit Erhard, der ein erklärter Gegner der Gewerkschaften und öffentlicher Sozialleistungen war, nichts zu tun. Stattdessen sei es die Idee des ersten, lang regierenden deutschen Kanzlers Konrad Adenauer gewesen, dessen römisch-katholischer Glauben ihn dazu bewegt habe, den Massen soziale Sicherheit zu geben. Adenauer sah demnach, dass soziale Stabilität nötig war, um Westdeutschland in das von den USA angeführte westliche Bündnis zu integrieren und dem sowjetischen Einfluss vorzubeugen.

Die Tragödie, so argumentiert Herrmann, ist, dass der Mythos des deutschen „Nachkriegswunders“ die Wirklichkeit verdeckt hat. Obwohl Erhard seit über einem halben Jahrhundert von der politischen Bühne verschwunden ist, glaubt sie, sein Erbe müsse unter die Lupe genommen und letztlich bloßgestellt werden. Andernfalls werde Deutschland weiterhin die wirtschaftspolitischen Fehler wiederholen, die schon lang hätten korrigiert werden müssen.

Beispielsweise zeigt Herrmann, dass Deutschlands Methode, auf die Wirtschaftskrisen seit den 1960ern zu reagieren, immer dieselben zentralen Bestandteile enthält: eine Bundesbank, die sich fest auf den Kampf gegen die Inflation konzentriert; eine Regierung, die, wenn es um Sozialprogramme geht, sogar bei Stimulus-Ausgaben vernünftiges Haushalten betont; und eine Wirtschaft, die auf Kosten der Inlandsnachfrage auf Exporte ausgerichtet ist.

Für Hermann sind dies letztlich Positionen, die eine grundlegende Wahrheit leugnen: Die deutsche Wirtschaft ist erfolgreich, weil sie in die EU und die Eurozone integriert ist. Was Deutschland braucht, so schließt Hermann, ist eine Entmystifizierung seiner wirtschaftlichen Vergangenheit und Gegenwart. Obwohl der heutige deutsche Wohlstand durch die europäische Integration erst möglich wurde, sei der gemeinsame Fortschritt auf regionaler Ebene durch die hausgemachten Mythen des Landes immer wieder blockiert worden. Diese Botschaft stößt in den meisten anderen EU-Ländern, insbesondere in Griechenland und Italien, sicherlich auf offene Ohren.

2. Grimmige Realitäten

Im institutionellen Kontext der EU und der Eurozone konnte Deutschland durch seine Exportorientierung einige seiner Probleme auf andere Mitgliedstaaten abwälzen und so zumindest zeitweise den wirtschaftlichen und sozialen Druck im Inland erleichtern. Dies war bei den so genannten Hartz- IV-Arbeitsmarktreformen im Jahr 2005 der Fall, die im Mittelpunkt von Christoph Butterwegges „Die zerrissene Republik“ stehen. Butterwegge, der heute emeritierter Professor der Universität von Köln ist, verließ die SPD in dem Jahr, in dem die Hartz-IV-Reformen eingeführt wurden. Danach kandidierte er 2017 für Die Linke als Kandidat zum Bundespräsidenten, und kam dabei hinter dem ehemaligen Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier auf den zweiten Platz.

Laut Butterwegge hat Hartz-IV das Land grundlegender und weitreichender beeinflusst als alle anderen innenpolitischen Entscheidungen seit den 1950ern. Auch wenn die Befürworter dieser Maßnahme den nachfolgenden wirtschaftlichen Aufschwung und die Verringerung der Arbeitslosigkeit nach 2005 für sich verbuchen, meint Butterwegge, diese offensichtlichen Errungenschaften seien auf Kosten der Gleichheit gegangen. Indem Hartz-IV einen riesigen Niedriglohnsektor verursacht habe, um die Arbeitskosten zu verringern und die Exporte anzukurbeln, habe es die deutsche Wirtschaft amerikanisiert und das Land unsozialer und ungleicher gemacht, als es sonst geworden wäre.

Letztlich hat Hartz-IV laut dem Verfasser durch strengere Regeln und sozialpolitische Sanktionen die Arbeitssuchenden dazu gezwungen, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Dies habe nicht nur einen enormen Druck auf die Langzeitarbeitslosen erzeugt, sondern auch zu realen (inflationsbereinigten) Einkommensverlusten geführt – insbesondere bei gering verdienenden Haushalten.

Damit wurde Hartz-IV zu einem Werkzeug der Klassendisziplinierung. Durch sinkende Löhne sei – insbesondere in den Exportmärkten – die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie verbessert, aber auch ein neues Prekariat unsicherer, unterbezahlter Arbeitnehmer geschaffen worden. So wurde Deutschland laut Butterwegge entlang wirtschaftlicher und sozialer Fronten immer stärker polarisiert (wenn auch nicht so stark wie die Vereinigten Staaten oder Großbritannien).

Die zerrissene Republik leitet ihren Titel aus der Analyse und Interpretation des deutschen Wandels seit den Zweiten Weltkrieg ab. Obwohl Deutschland nicht mehr in erster Linie ideologisch zerrissen ist – wie zwischen 1949 und 1989, als sich West- und Ostdeutschland als Gegensätze definierten – sei das Land durch seine Ungleichheit im Inneren zerrissen. Butterwegges Empfehlungen zur Lösung des Problems sind höchst ehrgeizig, aber nicht besonders überraschend: Er schlägt einen Mindestlohn vor, der ausreicht, um menschenwürdig leben zu können; ein steuerfinanziertes universales Versicherungssystem, das Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Renten- und Arbeitsunfähigkeitsversicherung sowie Langfristpflege abdeckt; und eine effektive Einkommens- und Wohlstandsumverteilung durch eine Reform des Steuersystems. Er ist zuversichtlich, dass diese Maßnahmen insgesamt erheblich dazu beitragen können, die deutsche Gesellschaft gleicher zu machen und für einen stärkeren Zusammenhalt zu sorgen.

3. Die ausgehöhlte Mitte

Auch in Daniel Goffarts „Das Ende der Mittelschicht“ spielt die Ungleichheit eine zentrale Rolle. Aber, wie der Titel suggeriert, geht es dort nicht so sehr um das neue Prekariat auf der untersten Stufe der Einkommensleiter, sondern eher um den Abstieg der breiten Mitte, die einst die deutsche „Erfolgsgeschichte“ geprägt hat.

Goffart, der Reporter beim FOCUS-Magazin ist (und vorher bei der Wirtschaftszeitung Handelsblatt war), beschreibt die alte deutsche Klassenstruktur der Vorkriegszeit als zwiebelförmig – mit kleinen Enden, die das obere und untere Ende der Einkommensverteilung darstellen, und einer dicken Mitte, die die überwiegende Mehrheit der Haushalte umfasst. Das Problem ist seiner Meinung nach, dass die Zwiebel zu einer Birne mit einer engen Spitze und einem wulstigen Boden geworden ist.

Goffart liefert hier einen bereits bekannten Bericht über selbstsüchtige Eliten, die der Mittelklasse das Leben immer schwerer machen. Während Unternehmensleiter heute zehn Mal so viel verdienen wie noch vor dreißig Jahren, hat sich das Medianeinkommen kaum verändert. Einst konnte eine Durchschnittsfamilie von einem einzelnen Einkommen gut leben, aber heute braucht sie zwei davon – nur um sich eine Zweizimmerwohnung in einer der großen deutschen Städte leisten zu können.

Wie können diese Trends erklärt werden? Goffart nennt zwei hauptsächliche Einflussfaktoren: die Demographie und die Digitalisierung, deren negative Effekte von einer fehlgeleiteten Politik noch verschärft wurden. Ab den 1980ern, gerade als die Deindustrialisierung in Schwung kam, seien die geburtenstarken Jahrgänge in Deutschland (die während der Wachstumszeit der 1950er geboren waren – ein Jahrzehnt später als diejenigen in anderen Ländern) in großer Zahl auf den Arbeitsmarkt geströmt. Qualifizierte Produktionsjobs wurden durch Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor ersetzt, die weniger Geld und Sicherheit boten. Große Teile der Mittelklasse wurden finanziell degradiert und um ihre Qualifikationen gebracht.

Verschlimmert wurde dies durch eine Steuerpolitik, die die Reichen bevorzugte und wenig für die Mittelklasse tat. Was einst ein progressives Steuersystem war, nahm für die meisten Haushalte regressive Züge an. Heute erreicht eine Person den Höchststeuersatz, wenn sie nur das 1,3-fache des Durchschnittseinkommens verdient, verglichen mit dem 20-fachen in den 1950ern. Darüber hinaus hätten sich seit den 1990ern widrige Arbeitsmarktentwicklungen mit dem zweiten Faktor überschnitten – der Digitalisierung, auf die sich Goffart besonders konzentriert.

Goffart zitiert lange Passagen aus einer Rede des Siemens-CEO Joe Kaeser, der befürchtet, die Digitalisierung könne die Mittelklasse in der ganzen Welt zerstören und alle Gesellschaften – und nicht zuletzt Deutschland – dazu zwingen, sich dem Problem der wachsenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Polarisierung zu stellen. Eine relativ kleine Gruppe von Softwareentwicklern, Digitalunternehmern und anderen werde davon profitieren, aber die meisten in der Gesellschaft werden verlieren, da viele berufliche Fähigkeiten nicht mehr benötigt werden. Unternehmen die Politiker nichts gegen das wachsende Konfliktpotenzial, könnte sozialer Unfrieden von der Art, wie sie in den USA und anderen Ländern bereits sichtbar ist, unvermeidlich werden.

Goffarts erschütternde Beschreibung unserer Gegenwart und nahen Zukunft ist eine bittere Pille. Aber er bietet uns auch vierzig Seiten mit Lösungsvorschlägen. Diese werden in Form von „Zehn Geboten“ dargestellt, laufen aber auf die Vision eines völlig neuen Sozialvertrags hinaus.

Letztlich ruht Goffarts Reformprogramm auf zwei Säulen. Die erste besteht aus Regulierung: Alle Länder brauchen seiner Meinung nach stärkere, umfassendere Regulierungsmaßnahmen, um die globalen Technologiegiganten und allgemein die multinationalen Konzerne unter Kontrolle zu bringen. Seit Jahren nutzen diese Konzerne alle möglichen Schlupflöcher und Bilanzierungstricks aus, um Steuern und öffentliche Verantwortung zu vermeiden. Nur wenn sie gezwungen werden, sich an die gleichen Regeln zu halten wie alle anderen und daher auch ihren fairen Anteil an Steuern zahlen, können sie zum Teil der Lösung werden.

Zweitens zeigt Goffart die Notwendigkeit neuer öffentlicher Einkommensquellen auf. Die Regierungen brauchen mehr Ressourcen, um die Gefahren des 21. Jahrhunderts erfolgreich zu bewältigen, aber sie sind weiterhin abhängig von indirekten Steuern und individueller Einkommensbesteuerung. Laut Goffart sollte die Steuerreform ein Projekt auf europäischer Ebene sein – mit enger Koordinierung zwischen den EU-Regierungsinstitutionen und allen Mitgliedsländern. Kein Land könne allein die Macht der Konzerne brechen oder Trittbrettfahrer verhindern.

4. Reformen gut, alles gut

Im Gegensatz zu den ersten drei Autoren zeichnet der Historiker Edgar Wolfrum von der Universität Heidelberg ein viel positiveres Bild von Deutschland seit der Wiedervereinigung. Der Titel seines Buches Der Aufsteiger soll ein Bild von Höhenflug und Ehrgeiz vermitteln – wie ein Bergsteiger, der von Hindernissen oder Wetterbedingungen unberührt bleibt. Nach seinem Vorgänger Die geglückte Demokratie festigt auch diese Veröffentlichung Wolfrums Position als einer der führenden akademischen Vorreiter Nachkriegsdeutschlands.

Obwohl Wolfrum sehr optimistisch sein kann, bietet „Der Aufsteiger“ auch eine willkommene Dosis kritischer Reflexion. Wie andere sorgt auch er sich, dass Deutschland zu unsicher sei und seine Rolle in Europa und der Welt immer noch zu zögerlich ausfülle, obwohl seine geopolitische und internationale Statur seit 1990 gewachsen sei.

Verglichen mit den anderen hier erwähnten Verfassern geht es Wolfrum nicht so sehr um die deutsche Wirtschaft, sondern eher um die Innenpolitik und den internationalen Zusammenhalt. Wie Herrmann betrachtet er die Wiedervereinigung als Erfolg und kommt zu einer vorsichtigen, aber positiven Einschätzung dessen, wie sich die Ost- und Westdeutschen heute aufeinander beziehen. Besorgt zeigt er sich über den Aufstieg rechts-konservativer Parteien wie der AfD. Auch wenn das Land den plötzlichen Zustrom einer Million Einwanderer und Flüchtlinge im Jahr 2015 bewältigen konnte, blieben die langfristigen Folgen dieses Schocks ungewiss, so der Autor.

Was Hartz-IV betrifft, sieht Wolfrum die damalige rot-grüne Koalition des ehemaligen Kanzlers Gerhard Schröder als die proaktivste und reformorientierteste deutsche Regierung seit der Zeit von Willy Brandt in den 1970ern. Butterwegge würde natürlich argumentieren, dass es genau diese Reformen waren, die die SPD-Basis entfremdet und den Niedergang der Partei beschleunigt haben.

Des Bundes neue Kleider

Alle vier dieser aktuellen deutschen Geschichtsinterpretationen sind gut geschrieben und vollständig durchgearbeitet. Aber sie sind auch kontrovers und wurden deshalb bereits stark kritisiert. Liest man sie zusammen, kommt man allerdings nicht umhin, ein eklatantes Paradox zu bemerken: Während sich Europa und die Welt in vielerlei Hinsicht grundlegend verändert haben, scheint Deutschland weitgehend gleich geblieben zu sein. Während Merkels langer Kanzlerschaft gab es keine großen Reformen, außer als Reaktionen auf plötzliche Schocks – wie die japanische Nuklearkatastrophe in Fukushima von 2011, die die deutsche Energiepolitik radikal veränderte. Die deutsche Politik fand ad hoc statt, ohne eine größere proaktive Vision.

Ob die Argumente dieser Autoren einen Unterschied machen, bleibt abzuwarten. Herrmann bietet bestechende Argumente dafür, warum Deutschland aus seinem Nachkriegs-Narrativ ausbrechen und sich der wirtschaftlichen Realität stellen muss. Butterwegge wirft dringend benötigtes Licht auf das Problem der wachsenden Ungleichheit. Goffart warnt vor den sinnlosen Versuchen des Landes, einen Status Quo beizubehalten, der nicht mehr existiert. Und Wolfrum erinnert uns daran, dass Deutschland immer noch in der Lage ist, sich selbst nach eigenem Wunsch neu zu erschaffen.

Nach allem, was wir gehört haben, ist Deutschland jedenfalls verletzlicher, als viele Beobachter glauben. Wenn sich das Land nicht auf ernsthafte, zukunftsorientierte Weise reformiert – etwas, das seit Jahren nicht mehr geschehen ist – werden sich die verbleibenden Dividenden des vergangenen Wohlstands bald verflüchtigt haben. Dies wäre für Deutschland, Europa und die ganze Welt eine schlechte Nachricht. Anders ausgedrückt, ohne größere Veränderungen könnte Deutschland nicht in der Lage sein, die Führung zu bieten, die viele gern von ihm hätten. Sollte es in Trägheit und Tatenlosigkeit verfallen, wird es seine Chance, in Europa eine nachdrücklichere, wegweisendere Rolle einzunehmen, verpassen.

Die COVID-19-Krise ist für solche Veränderungen eine gute Gelegenheit. Bereits jetzt haben Merkel und Scholz Schritte unternommen, die noch vor wenigen Monaten undenkbar waren. Bis jetzt waren ihre Reformen auf die Wirtschafts- und Haushaltspolitik beschränkt. Aber es ist nicht zu spät, größer zu denken und die Probleme des verlorenen sozialen Zusammenhalts, der Digitalisierung und der Sicherheitspolitik anzugehen – sowohl zu Hause als auch auf EU-Ebene. Deutschland hat nun sechs Monate lang den Vorsitz im Europäischen Rat und kann zeigen, dass es sich dieser Herausforderung stellt.

Die besprochenen Bücher:

1. Ulrike Herrmann, Deutschland, Ein Wirtschaftsmärchen, Frankfurt: Westend, 2019

2. Christoph Butterwegge, Die zerrissene Republik: Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Weinhem, Basel: Beltz-Juventa, 2020.

3. Daniel Goffart, Das Ende der Mittelschicht – Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell, Berlin: Berlin Verlag, 2019.

4. Edgar Wolfrum, Der Aufsteiger: Eine Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute, Stuttgart: Klett-Cotta, 2020.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Helmut K. Anheier ist Professor für Soziologie an der Hertie School of Governance in Berlin und am Max-Weber-Institut der Universität von Heidelberg.

Copyright: Project Syndicate, 2020.www.project-syndicate.org


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