Nach nunmehr 16 Jahren wird Noch-Kanzlerin Angela Merkel in Kürze von ihrem Amt zurücktreten. Während in anderen Ländern die Präsidenten und Premierminister kamen und gingen, gelang es der heute 67-Jährigen, ihr Amt vier Wahlperioden lang mit hoher Akzeptanz in der Bevölkerung zu behaupten.
Merkel wuchs als Kind eines evangelischen Pfarrers auf, der aus Überzeugung von Westdeutschland in die kommunistische DDR ausgewandert war, genoss dort mit ihrer Familie Privilegien, durfte in der DDR studieren, nach Moskau reisen, und gehörte bis zum Alter von 35 Jahren in der FDJ zur kommunistischen Jugendelite ihres Landes. Als die CDU sich für den bevorstehenden Wahlgang im Jahr 1991 in den neuen Bundesländern etablierte, gewann Helmut Kohl die geschickte Nachwuchspolitikerin für seine Partei. Von dort aus kam sie mit seiner Unterstützung sogleich in höchste Staatsämter und wurde schließlich im Jahr 2000 seine Nachfolgerin als Vorsitzende der CDU. Später, im Jahr 2005, gelang es ihr, die Kanzlerschaft zu erringen und Gerhard Schröder abzulösen.
Obwohl sie zu keinem Zeitpunkt ihrer Karriere eine Erdung im marktwirtschaftlichen System erlangte, war sie beim Wahlkampf gegen Schröder mit einem strammen marktwirtschaftlichen Wirtschaftsprogramm angetreten, mit Hilfe dessen sie die von Schröder bereits durchgesetzten Arbeitsmarktreformen zu erweitern versprach. Wegen der hohen Lohnersatzleistungen des Sozialsystems hatte Deutschland Anfang der 2000er Jahre bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten an der Spitze aller Industrieländer gestanden, mit dem zeitweilig niedrigsten Wachstum der EU und dem Ruf, der kranke Mann Europas zu sein. Die Schröderschen Reformen erwiesen sich als Riesenerfolg, denn sie ließen das Land in den nachfolgenden Jahren wirtschaftlich gesunden und reduzierten die Arbeitslosigkeit in allen Segmenten des Arbeitsmarktes.
Angela Merkel selbst hatte an diesen Erfolgen allerdings keinen Anteil, obwohl sie in ihre Amtszeit fielen, denn sie hat ihre Ankündigungen nicht wahrgemacht, weil sie merkte, dass die Medien nichts davon hielten. Während Schröder den impliziten Mindestlohn, der im Lohnersatzsystem steckte, durch Lohnzuschüsse gesenkt hatte, führte sie einen gesetzlichen Mindestlohn ein.
Im Laufe der Jahre wandte sich die Kanzlerin mehr und mehr von marktwirtschaftlichen Positionen ab und übernahm stattdessen traditionelle Positionen der SPD, die ihr näher lagen. Damit gelang es ihr zwar, im linken Spektrum Wähler zu gewinnen, doch beschädigte sie den Markenkern der CDU, die seit dem zweiten Weltkrieg maßgeblich für die marktwirtschaftliche Orientierung der Bundesrepublik Deutschland gestanden hatte. Sie drückte die SPD an den linken Rand und frönte dem grünen Neodirigismus. Rechts ließ sie so viel Platz, dass mit der AfD eine neue Partei entstand, deren Stimmen ihren Nachfolgern nun fehl(t)en. Dass zum Schluss nur noch wenige Menschen die leere Hülle der CDU wählen wollten, die Angela Merkel zurück ließ, kann nicht verwundern.
Angela Merkel verstand es meisterlich, die verschiedenen Positionen der Politik auf nationaler wie auf internationaler Ebene auszubalancieren. Geschickt kooperierte sie mit den Meinungsmachern und ließ sich wöchentlich von Meinungsforschern beraten. Wie noch kein Kanzler vor ihr, verzichtete sie auf eine eigene Politik und machte sich stattdessen mit dem medialen Mainstream gemein. Auf diese Weise schaffte sie es zwar, die so gewonnene Gunst der Medien in Wahlerfolge umzumünzen, doch blieben die ökonomische Rationalität und die Verantwortungsethik im Sinne Max Webers dabei vielfach auf der Strecke.
So reagierte sie auf die mediale Hysterie, die durch die Havarie von Fukushima entstanden war, mit einem Atomausstieg, obwohl sie wissen musste, dass es ohne die Kernenergie keine überzeugende Strategie beim Kampf gegen den Klimawandel geben würde. Da sie inzwischen von der EU und den Grünen gezwungen wurde, auch noch Deutschlands Ausstieg aus sämtlichen fossilen Energiequellen zuzustimmen, hinterlässt sie ihr Land auf dem Weg in ein energiepolitisches Nirwana.
Als 2015 die Wirtschaftsflüchtlinge aus dem arabischen Raum kamen, ließ sie sich von den Medienbildern zu einer Politik der offenen Grenzen bewegen, die die Osteuropäer und die Briten in Aufruhr versetzte. Die Flüchtlingsströme nach Europa waren das Zünglein an der Waage für die Brexit-Entscheidung. Als ihr britischer Kollege David Cameron sie um Unterstützung bei seinen Vorschlägen zu Begrenzung der Sozialmigration in Europa bat, um den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU zu ermöglichen, zeigte sie ihm die kalte Schulter.
Zu loben ist, dass Angela Merkel wie alle ihre Vorgänger den Ausgleich mit Frankreich gesucht hat. Sie hat mit den drei französischen Präsidenten, mit deren Amtszeiten sich ihre Kanzlerschaft überlappte, stets ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt.
Der Freibrief, den sie der EZB auch auf Drängen der französischen Nachbarn für ihre Rettungspolitik ausstellte, war allerdings problematisch. Damit erlaubte sie der EZB, den Maastrichter Vertrag zu unterlaufen, der eine Monetisierung der Staatsschulden verbietet. Die Aktionen der EZB setzten die Schuldenbremse der Märkte außer Kraft, die darin besteht, dass überschuldete Länder durch höhere Zinsen von der exzessiven Verschuldung abgehalten werden. Wenn die Konsequenz der ausufernden Staatsschulden und der geradezu explosiven Vergrößerung der Geldmenge in den kommenden Jahren eine Inflation sein sollte, so trägt die Kanzlerin dafür eine Mitverantwortung.
Deutschland steht wegen seiner niedrigen Geburtenrate wie viele europäische Länder vor erheblichen demographischen Problemen, die nicht nur die Stabilität seines Rentensystems, sondern auch die Stabilität seiner Gesellschaft ernsthaft gefährden. Die Problematik war der Kanzlerin stets bewusst, doch es war nicht ihre Art, von sich aus Themen vorzubringen, die dem Mainstream nicht behagten. Sie ließ sich vom Wind der Geschichte tragen und hat die ökonomischen und naturwissenschaftlichen Realitäten dieser Welt nur in dem Maße berücksichtigt, wie die Wähler es taten.
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