Politik

NZZ-Chef: "Die Zeit der liberalen Kreuzzüge ist vorbei."

Am Sonntag wurde dem Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Eric Gujer, in der Frankfurter Paulskirche der Ludwig-Börne-Preis 2022 verliehen. In seiner Dankesrede spart er nicht mit Worten der Kritik an westlicher Geopolitik.
23.05.2022 16:18
Aktualisiert: 23.05.2022 16:18
Lesezeit: 1 min
NZZ-Chef: "Die Zeit der liberalen Kreuzzüge ist vorbei."
Der langjährige Auslandschef der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Eric Gujer, ist seit 2015 Chefredaktor der Schweizerischen Wochenzeitung – seitdem gilt das Medium den einen als neues "Westfernsehen", den anderen als einem "Rechtsruck" erlegen. (Foto: dpa)

"Der Westen ist auf seine eigenen schönen Worte hereingefallen", kritisierte Eric Gujer, der Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, am Sonntag laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeine Zeitung den bisherige westliche Geopolitik in einer Dankesrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises 2022 in der Frankfurter Paulskirche.

Über drei Jahrzehnte lang hätte sich die westliche Welt eingeredet, dass es so etwas wie eine liberale Weltordnung gebe. "Doch sie war nie mehr als eine Chimäre", beteuert Gujer. Sein Ratschlag: "Der Westen muss erst wieder lernen, sich in einer Umwelt zurechtzufinden, in der Regeln und Werte weniger zählen als die harte Währung der Macht."

Dazu gehöre auch der Wille zur Verteidigung der liberalen Ordnung. Anderenfalls würde das Verhalten des Westens als Schwäche wahrgenommen – und provoziere so Vorfälle wie den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan oder den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wenn dies aber nicht in vollem Umfang möglich sein sollte, habe der Westen sich nach Gujers Ansicht "bescheidenere Ziele" zu setzen: "Die Zeit der liberalen Kreuzzüge ist vorbei. Jetzt ist Realismus angesagt."

Schließlich mahnt der NZZ-Chef noch, dass die Abkehr von Russland wiederum nicht zu einer neuen Abhängigkeit, dieses Mal von China, führen dürfe. Beide Länder würden den Westen herausfordern. Kritik erntete Gujer prompt seitens des ersten Inhabers des Börne-Preises. So warf der Politikwissenschaftler Claus Leggewie Gujer im Gespräch mit "Deutschlandfunk Kultur" vor, dass sich die NZZ unter seiner Ägide für ein Publikum geöffnet habe, das nicht mehr einen gesunden Konservatismus zu vertrete, sondern weiter rechts stehe.

Die NZZ selbst hingegen betrachtet sich eigentlich gar nicht als konservativ, sondern vielmehr als liberal. Und tatsächlich klingen die Thesen Gujers doch verdächtig nach dem Neorealismus des US-Strategen John J. Mearsheimer, der für seine kompromisslose Kritik am geopolitischen Kurs des Westens berüchtigt ist – und auch Mearsheimer ist dem eigenen Ermessen nach ein Liberaler.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Unternehmen
Unternehmen Starbucks dreht den Spieß um: Mehr Baristas statt mehr Maschinen
10.05.2025

Starbucks gibt auf die Maschinen auf: Statt weiter in teure Technik zu investieren, stellt das Unternehmen 3.000 Baristas ein. Nach...

DWN
Panorama
Panorama EU-Prüfer sehen Schwächen im Corona-Aufbaufonds
10.05.2025

Milliarden flossen aus dem Corona-Topf, um die Staaten der Europäischen Union beim Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie zu unterstützen....

DWN
Finanzen
Finanzen Estateguru-Desaster: Deutsche Anleger warten auf 77 Millionen Euro – Rückflüsse stocken, Vertrauen schwindet
10.05.2025

Immobilien-Crowdfunding in der Vertrauenskrise: Estateguru kann 77 Millionen Euro deutscher Anleger bislang nicht zurückführen – das...

DWN
Politik
Politik Landtagswahlen Baden-Württemberg 2026: AfD liegt vor den Grünen – eine Partei gewinnt noch mehr
09.05.2025

Die AfD überholt erstmals laut Insa-Umfrage die grüne Partei in Baden-Württemberg, die seit 13 Jahren regiert und die größte...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Kunstmarkt: Familienangelegenheiten im Auktionshaus Lempertz - und was Unternehmer davon lernen können
09.05.2025

Lempertz in Köln ist das älteste Auktionshaus der Welt in Familienbesitz. Isabel Apiarius-Hanstein leitet es in sechster Generation. Erst...

DWN
Immobilien
Immobilien Wohnquartiere als soziale Brennpunkte: Armut, Migration und Überalterung – Ghettobildung nimmt zu
09.05.2025

Armut, Migration, Wohnungsmangel, Überalterung und Einsamkeit: Immer mehr Wohnquartiere in Deutschland sind überfordert. Eine neue Studie...

DWN
Finanzen
Finanzen Commerzbank-Aktie auf Rekordkurs nach starkem Quartalsgewinn – und nun?
09.05.2025

Die Commerzbank-Aktie hat zum Start in den Börsenhandel am Freitag zugelegt – und im Handelsverlauf ein neues Jahreshoch erreicht. Das...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft EU schlägt zurück: Diese US-Produkte stehen nun im Visier von Brüssel
09.05.2025

Die Europäische Kommission hat eine umfassende Liste von US-Produkten veröffentlicht, auf die im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen...