Am 03.09.12 las man z. B. in den DWN:
„Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erwartet, dass das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe kommende Woche den Euro-Rettungsfonds ESM und den EU-Fiskalpakt durchwinken werde. … Schäuble sagte am Montag bei einer Konferenz in Straßburg, er sei sicher, dass das Gericht die europäischen Vereinbarungen nicht blockieren werde. Die Bundesregierung habe beide Verträge gewissenhaft geprüft und keinen Verstoß gegen das Grundgesetz festgestellt.“
Die Bundesregierung hat mit Sicherheit beide Verträge intensiv geprüft. Hätte sie sie aber wirklich gewissenhaft geprüft, wäre der Verstoß gegen das Grundgesetz offenkundig. Die Verfassungswidrigkeit des ESM folgt zwingend aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Zum Verständnis dieser Behauptung muss man etwas wissen, was in der Öffentlichkeit weithin unbekannt ist. In Karlsruhe geht es (neben dem Fiskalpakt) im sozusagen „ersten Zug“ gar nicht um den ESM selber. Vielmehr richten sich die Verfassungsbeschwerden auch gegen die deutsche Ratifikation jener Regelung, die überhaupt erst die formale Grundlage für den ESM schafft. Es handelt sich um einen Text, der jetzt als Abs. 3 des Artikel 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eingefügt werden soll, und der wie folgt lautet:
„Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“
Dass diese Norm grundgesetzwidrig ist, ergibt sich völlig eindeutig aus dem Urteil vom 07.09.2011, Az. 2 BvR 987/10 (hier). Das Gericht hatte damals zwar die Einführung der EFSF (sowie die Griechenlandhilfe und den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus - EFSM -) gebilligt. Es hat aber auch klargestellt (Abs. 127):
„Eine [verfassungsmäßig] notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume ….. besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung … trifft und dauerhaft „Herr seiner Entschlüsse“ bleibt. Zu diesem Grundsatz stehen Gewährleistungsermächtigungen, mit denen die Zahlungsfähigkeit anderer Mitgliedstaaten abgesichert werden soll, in einem erheblichen Spannungsverhältnis.
Das Bundesverfassungsgericht hatte also gewarnt: Die vorliegenden, zeitlich befristeten Rettungsaktionen tragen wir ausnahmsweise noch mit. Wenn ihr aber so weiter macht, wird es eng.
Wesentlich für die Beurteilung, dass der ESM im Gegensatz zum EFSF nach der Grundgesetz-Auslegung des Verfassungsgerichts rechtswidrig ist, sind folgende Unterschiede:
– Der EFSF war zeitlich befristet; der ESM ist unbefristet.
– Der EFSF war betragsmäßig begrenzt. Der ESM ist zwar in der aktuellen Version ebenfalls begrenzt; die politische Debatte zeigt jedoch, dass diese Grenzen schon sehr bald dramatisch erhöht werden.
– Der EFSF und die Griechenlandhilfe waren Kredite, von denen man theoretisch behaupten konnte, dass sie von den Empfängerländern zurückgezahlt werden würden. Der ESM ist (zwar noch nicht in seiner gegenwärtigen Form, aber von Angela Merkel auf dem Brüsseler Gipfel bereits fest zugesagt) jedenfalls teilweise von vornherein als Einstieg in eine Transferunion angelegt (Direktrekapitalisierung der Banken).
Noch stärker als diese Unterschiede spricht aber ein ganz anderes Argument dafür, dass das BVerfG in der Konsequenz seiner eigenen damaligen Äußerungen jetzt den ESM ablehnen muss: Das Bail-out-Verbot des Art. 125 AEUV soll abgeschafft werden.
Die Art, wie die Politik dieses Ding gedreht hat, ist ein intellektueller Faustschlag ins Gesicht des Verfassungsgerichts. Die rechtliche Konstruktion entspricht dem Intelligenzniveau eines Kleinkindes, das sich die Hände vor die Augen hält und sagt: „Jetzt kann mich niemand mehr sehen“. Das Bail-out-Verbot bleibt nämlich einerseits bestehen, andererseits wird es abgeschafft. Klingt irre, ist aber Fakt.
Die Abschaffung des Bail-out-Verbots erfolgt durch den oben zitierten neu vereinbarten Art. 3 Abs. 3 AEUV. Trotzdem lässt man - zur Täuschung der Bürger und der höchsten deutschen Richter - den Artikel 125 mit seinem Bail-out-Verbot auf dem Papier stehen. Auf die wesentlichen Passagen verkürzt lautet der allgemein als „Bail-out-Verbot“ bezeichnete Artikel 125 AEUV:
„Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen ..… . Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen ….. und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.“
Das BVerfG hat in seiner EFSF-Entscheidung (Abs. 129) unmissverständlich klargestellt, dass
a) Art. 125 AEUV als Bail-out-Verbot zu verstehen ist. Das war insofern wichtig, als es manche die Vorschrift anders auslegen wollten. Angeblich enthalte sie lediglich ein „Verbot einer Verpflichtung zur Finanzhilfe“, eine freiwillige Finanzhilfe sei deshalb erlaubt.
Indem das Gericht jedoch schreibt:
„Auch weitere … Vorschriften zur Ausgestaltung der Währungsunion sichern . verfassungsrechtliche Anforderungen des Demokratiegebots. Zu nennen sind . insbesondere ….. das Verbot der Haftungsübernahme (Bail-out-Klausel)“
hat es ein für allemal klargestellt, dass der Art. 125 AEUV ein Verbot enthält, für andere Länder einzutreten.
Und weil das Verfassungsgericht dieses Bailout-Verbot sogar als „verfassungsrechtliche Anforderung des Demokratiegebots“ bezeichnet, hat es diese Klausel für unabdingbar erklärt, damit die Währungsunion für Deutschland überhaupt verfassungsgemäß ist. Anders gesagt: Ohne Bail-out-Verbot verstößt die Währungsunion gegen das Demokratiegebot und ist daher grundgesetzwidrig.
Wie hat die Politik dieses (aus ihrer Sicht:) „Problem“ gelöst? Der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und seine europäischen Kumpane haben die Verbots-Klausel auf dem Papier stehen gelassen. Und zugleich haben sie jene andere Vorschrift eingefügt, welche im Ergebnis das Bail-out-Verbot nicht nur aufhebt, sondern de facto sogar eine Bailout-Pflicht begründet. Auch wenn in Art. 136,3 das Wort „können“ verwendet wird: In der Praxis ist Deutschland jetzt dazu verpflichtet, anderen Ländern bei Finanzproblemen zu helfen. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Sachverhalt mit Sicherheit durchschaut. Deutschland und die gesamte Welt würden über ein Gericht lachen, das sich mit einem derart primitiven Formulierungstrick „vorführen“ lassen wollte.
Die Bundesregierung, die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen und ebenso ihre scheinoppositionellen Spießgesellen von SPD und Grünen wissen, dass der ESM-Vertrag schon wegen dieser verfassungswidrigen Rechtsgrundlage nicht verfassungsgemäß sein kann. Wenn sie ihn trotzdem unterzeichnet bzw. gebilligt haben, dann nicht nach „gewissenhafter Prüfung“. Sie haben im vollen Bewusstsein mit dem Vorsatz gehandelt, einen Rechtsputsch gegen das deutsche Grundgesetz zu begehen.
Falls sich das Bundesverfassungsgericht in dieser Lage auf einen Wink des Finanzministers einspannen lässt, ist es kein Gericht mehr, von dem das Deutsche Volk sein Recht erwarten kann. Dann müssen wir unser Widerstandsrecht nach Artikel 20 Abs. 4 GG prüfen.
Nähere Erläuterungen zur Auslegung der BVerfG-Entscheidung vom 7.9.11 finden sich im Blog des Verfassers. In Kurzfassung unter „Die Verfassungswidrigkeit des ESM folgt zwingend aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“; ausführlich als „Amicus Curiae Brief an Karlsruhe: Feste Burg der Demokratie oder größte Heißluftfabrik der Welt? Wenn das Bundesverfassungsgericht seine eigene EFSF-Entscheidung vom 07.09.2011 ernst nimmt, wird es am 12.09.2012 die Einführung der Bailout-Vorschrift in Art. 136,3 AEUV und Deutschlands Beitritt zum ESM stoppen“.