Angela Merkel galt bisher bei allen Skandalen in ihrer Regierungszeit als unangreifbar: Sie erklärte die Euro-Rettung auf Kosten der europäischen Steuerzahler für „alternativlos“ – und die Abgeordneten folgten ihr willenlos. Sie sagte, dass Europa scheitere, wenn der Euro scheitert, und ganz Europa applaudierte. Sie ließ ihren Untergebenen Roland Profalla erklären, dass sich die US-Geheimdienste stets an die deutschen Gesetze hielten. Die Debatte schien beendet.
Doch nun ziehen dunkle Wolken über der mit Abstand beliebtesten Politikerin Deutschlands auf. Der Grund: Der Bundesnachrichtendienst hat offenbar nicht nur europäische Unternehmen ausspioniert, sondern auch die befreundete französische Regierung und die EU-Kommission.
Und plötzlich wenden sich ihre treuesten Freunde gegen sie: Die Bild-Zeitung bildete Bundesinnenminister Thomas de Maiziere mit einer Pinnochio-Nase ab und titelte ungewohnt aggressiv: «Herr de Maizère, Sie lügen wie gedruckt!» Einen Tag später erscheint neben einem unvorteilhaften Foto von Merkel die Frage: «Wer vertuscht was im BND-Skandal?»
Die Ereignisse könnten das strahlende Image der Kanzlerin erheblich beschädigen: Der BND soll dem US-Geheimdienst NSA jahrelang bei der Spionage gegen die französische Regierung und gegen die EU-Kommission geholfen haben. Die Abhörstation des Bundesnachrichtendienstes in Bad Aibling sei zum Ausspähen hochrangiger Beamter des französischen Außenministeriums, des Präsidentenpalastes und der EU-Kommission in Brüssel missbraucht worden, berichteten Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR am Mittwoch. Sie beriefen sich auf «interne Untersuchungen von Nachrichtendienst und Kanzleramt».
Die Opposition wirft der Bundesregierung vor, den Bundestag bewusst über die Vorgänge getäuscht zu haben. «Das Parlament wurde offensichtlich jahrelang gezielt belogen», sagte Linksfraktionsvize Jan Korte am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Auch die Grünen fühlen sich von der Regierung betrogen. Hintergrund sind mehrere Antworten auf parlamentarische Anfragen der Linksfraktion, in denen die Regierung nach Ansicht der Opposition wissentlich falsche Angaben gemacht haben soll. Die wies den Vorwurf der Lüge vehement zurück.
Vor einer Woche waren erste Vorwürfe ans Licht gekommen, wonach der BND der NSA über Jahre half, europäische Unternehmen und Politiker auszuforschen. Demnach fiel dem BND schon seit längerem auf, dass von den Amerikanern vorgegebene Suchmerkmale (Selektoren) für die Überwachung des Datenverkehrs - etwa IP-Adressen von Computern oder Namen - gegen deutsche oder europäische Interessen verstießen. Das genaue Ausmaß der Spionageaffäre ist noch nicht klar.
Alle von den USA seit Beginn der Kooperation 2002 angelieferten Suchworte werden nun noch einmal überprüft. Ihre Zahl ist riesig: Allein 2013 waren es 690.000 Telefonnummern und 7,8 Millionen IP-Suchbegriffe. In einer sogenannten Ablehnungsdatei landeten 40 000 auffällige Suchbegriffe, zu denen keine Informationen geliefert wurden.
Das Kanzleramt übermittelte dem Parlament inzwischen wichtige interne BND-Unterlagen zu der Affäre. In den seit Mittwochmittag in der Geheimschutzstelle des Bundestages stehenden Aktenordnern fehlen nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur allerdings die für die Aufklärung wichtigen Listen mit Suchbegriffen.
Die Opposition aus Linken und Grünen sowie die SPD pochen auf eine schnelle Herausgabe der Listen. Das Kanzleramt hat bei den US-Behörden angefragt, ob die NSA-Listen den Abgeordneten zur Verfügung gestellt werden können. Eine Antwort gibt es noch nicht.
In mehreren Antworten auf parlamentarische Anfragen der Linksfraktion hatte die Regierung in den vergangenen Monaten - und zuletzt noch Mitte April - erklärt, es gebe «keine Erkenntnisse zu angeblicher Wirtschaftsspionage durch die NSA». Dabei wusste das Kanzleramt seit Jahren - und in detaillierter Form seit März - von rechtswidrigen Spähversuchen des US-Geheimdienstes gegen europäische Politiker und Firmen, wie sich herausgestellt hat.
Korte sagte: «Dass das Parlament belogen wurde, muss Konsequenzen haben.» Der Grünen-Obmann im NSA-Ausschuss, Konstantin von Notz, sagte der dpa, es handele sich nicht um einen Einzelfall. «In den vergangenen Jahren hat sich eine Kultur etabliert, dem Parlament nicht die Wahrheit zu sagen.»
Beantwortet hatte die Anfragen das Bundesinnenministerium - unter Beteiligung anderer Stellen wie dem Kanzleramt. Innenressortchef Thomas de Maizière (CDU) war von 2005 bis 2009 selbst Kanzleramtschef gewesen. Der Vorwurf der Täuschung richtet sich daher auch gegen ihn.
De Maizière wies die Anschuldigungen zurück. «Ich stelle mich selbstverständlich dieser Verantwortung und möchte gerne zur Aufklärung des Sachverhalts vollumfänglich beitragen.» Regierungssprecher Steffen Seibert sagte: «Die Behauptung, die Regierung habe die Unwahrheit gesagt, weise ich nachdrücklich zurück.»
Angela Merkel selbst schweigt noch zu dem Thema. Sie dürfte versuchen, sich selbst über die Dinge zu stellen. Es ist nicht auszuschließen und würde ihrer bisherigen Praxis entsprechen, dass der eine oder andere frühere Weggefährte über die Klinge springen muss. Das ist nicht unnatürlich in der Politik, sogar eher der Normalfall.
Merkel hat einen feinen Instinkt für den Moment, in dem sich der Wind dreht: Im Fall der Russland-Krise hat Merkel zumindest ansatzweise den blinden Gehorsam gegen die von den USA vorgegebene harte Haltung aufgegeben: In Minsk hat sie, an der Seite von Francois Hollande, mit Putin verhandelt, obwohl die Hardliner in der US-Administration lieber die Waffen sprechen lassen wollten.
Merkel wird allerdings nicht so weit gehen, einen eigenständigen Kurs in der deutschen Außenpolitik zu fahren. Sie denkt in langen Zeiträumen: Die Militär-Doktrin der Bundeswehr wurde erst vor einigen Monaten umgestellt, weil Russland nun als Feind gilt. Dies liegt auf der Linie der US-Militär-Doktrin, die Russland ebenfalls als Bedrohung sieht, wie übrigens die ganze Welt.
Merkel hofft, dass das Gewitter vorüberzieht und die Öffentlichkeit mit dem nächsten Event abgelenkt wird. Es könnte allerdings sein, dass sie die Lage erstmals falsch einschätzt. Jean-Claude Juncker hat in erfrischender Offenheit erklärt, dass die Lüge ein geradezu zwingendes Mittel jeder erfolgreichen Politik sei. Doch ihm wurde damals die Volksweisheit entgegengehalten, dass man dem, der einmal lügt, nie mehr glauben kann.
Dass in Politik und Wirtschaft gelogen wird, dass sich die Balken biegen, ist eine Binsenweisheit. Sie ist allgemein bekannt und wird flächendeckend praktiziert. Die öffentlichen Lügen heißen natürlich nicht so: Man spricht von PR oder Krisenkommunikation.
Die vergiftete Form der kollektiven Irreführung, dieses ständige Tarnen und Täuschen um des eigenen Vorteils willen, ist Teil des öffentlichen Welttheaters. Es ist erlaubt – bis zu einem Punkt: Wer erwischt wird, ist beschädigt. Das war in der Geschichte immer so. Fast jeder politische Absturz wird mit den Worten eingeleitet: „Ich geben Ihnen mein Ehrenwort, ich wiederhole: mein Ehrenwort!“
Merkel war lange im Amt. Von den Wählern wird sie niemals mehr abgewählt, weil die Wähler dankbar sind für die Illusion von Stabilität und Vertrautheit. Doch Merkels politische Widersacher haben mit der NSA-Affäre unverhofft Rückenwind bekommen: Die SPD hat aktuell keine Chance gegen Merkel, wenn nichts Außergewöhnliches passiert. Gelingt Merkel der Balanceakt im Fall des Ausspionierens von Freunden, von dem sie selbst gesagt hatte, „Freunde ausspionieren, das geht gar nicht!“, dann kann sie Kanzlerin bleiben, nochmals kandidieren, gewinnen, und irgendwann UN-Generalsekretärin oder Papst werden (wenn es nach der Bild-Zeitung ginge). Schafft sie es jedoch nicht, könnte die Blitze am Berliner-Frühlingshimmel die Vorboten einer veritablen Kanzlerinnen-Dämmerung sein.