Obschon sie über das Wochenende zwei Tage Zeit hatte, sich vorzubereiten, konnte die chinesische Führung den größten Einbruch des Aktienmarktes nicht verhindern. Der CSI-Future fällt um das maximal erlaubte Tageslimit von 10%. Die Führung hat kein Konzept. Sie erlaubte zwar erstmals Pensionskassen, Aktien zu kaufen. Gleichzeitig lieferte aber die Notenbank keine Veränderung der Geldpolitik, vor allem keine Kürzung des Reservesatzes. Die Vorgehensweise der Behörden löst einen totalen Vertrauenszusammenbruch in China selber aus. Trotz gewaltiger staatlicher Käufe, short-selling Verbote, anderer Maßnahmen kann der Markt nicht stabilisiert werden.
Warum ist dies signifikant? Zum ersten Mal zeigt sich ungeschminkt, dass die Führung sich komplett verrannt hat. Dutzende von Millionen von Chinesen verlieren Geld, manche ihr Erspartes. All die falschen Erklärungen und Vorwürfe verpuffen. Drohungen gegen Hedge Funds, Short-Sellers, Verkaufsverbote. Die Wahrheit ist, dass der Markt anfängerhaft dereguliert wurde. Man hat ahnungslose Kleinanleger zur Kreditaufnahme für Aktienkäufe gedrängt, mit dem Effekt einer Blase im Stil von 1929. Und Fakt ist, dass der Markt gemessen an allen Kriterien heillos überbewertet war und jetzt erst recht ist. Im Effekt werden sich der private Konsum und die Nachfrage nach Wohnungen verlangsamen. Exporte und Investitionen sind bereits deutlich rückläufig, jetzt wird auch Konsum schwächer werden, und damit gesamtwirtschaftlich eine rezessive Tendenz auslösen – mit Gewinneinbrüchen auf breiter Front.
Mit Marktstützungs-Massnahmen ist dem nicht beizukommen. Die Probleme Chinas sind viel fundamentaler. Es ist ein Wachstumsmodell in der Krise. Was als Wachstumsalternative gedacht war, nämlich die Deregulierung der Finanzmärkte und eine von Vermögensgewinnen getragene Konsumbelebung, löst sich im Nichts auf. Die Führung wird angesichts der Panik möglicherweise verzweifelt oder mit einem Befreiungsschlag zu reagieren versuchen. Das ist schwierig vorauszusehen. Wenn, wird es eine Kombination monetärer Lockerung und neuer Infrastruktur-Investitionen betreffen. Der Markt kann dann scharf zurückschnellen. Mittelfristig stellt es nur eine neue Ausstiegsgelegenheit für diejenigen dar, die noch nicht verkauft haben.
Der Effekt geht weit über China hinaus. China ist von der Größe her eine den USA und Europa vergleichbare Volkswirtschaft. Das Land ist der zweitgrößte Importeur der Welt. Wenn China einen Konjunktureinbruch erleidet, eine richtige Rezession, dann schlägt dies auf seine Nachfrage. Bisher galt die Überproduktion am Erdölmarkt vor allem als angebotsseitig bedingt. Bei einer an sich sehr starken Nachfrage führte die maximale Produktionsausweitung großer Produzentenländer zu rekordhoher Überproduktion. Jetzt wird sich die Nachfrage von China und von den Erdölländern selber aus abschwächen. Dann vergrößert sich die Überproduktion noch, das Potential für einen weiteren Preiseinbruch wird noch grösser. Was für Erdöl gilt, trifft mutatis mutandis auch für andere Rohstoffe wie Industriemetalle zu. Ein richtiger Crash der Preise.
Damit trifft es die große Zahl von Schwellenländern, die hauptsächlich auf den Export von Rohstoffen spezialisiert sind. Ihnen droht ein Zusammenbruch ihrer Exporteinnahmen. Deshalb die Krise der Produzentenländer, die sich im Fall der Währungen und in der Freigabe der Wechselkurse wie in Kasachstan äußert. Hinzu werden wachsende Zweifel an der Bonität von Schuldnern kommen, die Risiko-Spreads werden sich weiten.
China ist aber nicht nur für die Rohstoff- Produzentenländer wichtig, sondern auch für seine asiatischen Nachbarn mit einer starken Basis in der verarbeitenden Industrie – für Japan, Korea, Singapur, und auch für die Länder auf tieferer Stufe wie Thailand, Vietnam, die Philippinen. Es wird mit anderen Worten eine regionale Rezession geben. Etwas besser sieht das Bild lediglich für Indien aus. Dessen Importe von Erdöl verbilligen sich, und das Land ist wenig exportorientiert ist.
Doch nicht nur Schwellenländer und Asien sind betroffen, sondern auch die Kernmärkte. Dies obschon die Konjunktur vorübergehend ganz gut zu laufen scheint. So sind die letzte Woche veröffentlichten PMI’s in der Eurozone und in den USA gar nicht schlecht ausgefallen, im Gegenteil. Die tieferen Energiepreise und Zinsen helfen definitiv. Verschiedene sehr wichtige Sektoren für Aktien- und Obligationenmärkte sind dennoch hart betroffen. Dazu gehören die Energie- und Rohstoffkonzerne. Bei Erdölpreisen um die 60 Dollar pro Fass galt die Devise, die Dividende beizubehalten und dafür die Investitionen zusammenzustreichen. Bei Erdölpreisen um die 40 Dollar wird dies schon nicht mehr aufrecht zu erhalten sein. Gehen die Erdölpreise weiter hinunter, müssen Dividende und Investitionen gnadenlos gestrichen werden.
Damit sind die Kapitalgüter-Hersteller als zweiter Sektor massiv betroffen. Denn der Energie- und Minensektor ist sehr kapitalintensiv und stellt rund 30% des weltweiten Investitionsvolumens der Unternehmen dar. Die Investitionspläne werden über den Energiesektor hinaus überprüft oder gekürzt werden. Ein anderer Sektor ist die Autoindustrie. Vor allem die in China und in den Schwellenländern stark engagierten Unternehmen werden eine Vollbremsung vornehmen.
Auch im Technologiebereich wird es unliebsame Überraschungen geben. Apple will im September das iPhone 6s vorstellen, sein Hauptprodukt. Dieses wird mit einem viel aufwändigeren Verfahren einer Aluminiumlegierung hergestellt, welches die Produktion teurer macht. Wird die entsprechende Kostensteigerung voll auf die Preise umgelegt, brechen die Verkäufe ein. Wenn nicht, dann leidet die Marge. Das Chaos auf den Devisenmärkten wird über diese speziell exponierten Sektoren hinaus die Investitionsneigung verringern. Niemand kann vorhersagen, wo die Produktionsbedingungen auf relativer Basis nachher noch attraktiv sind.
Ein weiterer Sektor, der sehr stark betroffen sein wird, umfasst die Banken und Versicherer. Die Banken, vor allem europäische, haben hohe Ausstände in Schwellenländern. Generell gilt, dass die Kombination von Nullzinsen und regulatorischen Anforderungen für Mindesterträge eine Risikokonzentration in Aktien, Junk-bonds und Aktiven in Schwellenländern bei Asset-Managern wie Banken, Versicherungen oder Pensionskassen herbeigeführt hat. Diese Anlagen waren „alternativlos“. Jetzt realisieren diese Asset-Manager, dass alle gleichzeitig am selben Ort positioniert sind und eine entsprechende Risikokonzentration aufweisen. In diesem Umfeld kommt es zu raschen Stürzen der entsprechenden Finanzmarktpreise. Alle wollen sich absichern, am einfachsten über Futures, und damit wird der Gesamtmarkt in die Tiefe getrieben. Wer vorher vorsichtig war, und sich über Optionen abgesichert hat, löst jetzt beschleunigte Verkäufe der unterliegenden Titel aus. Die Optionen-Teams der Banken müssen das erhöhte Delta oder Gamma absichern.
Im Markt werden wieder Risikoprämien eingepreist. Eine Unterstützung durch die Geldpolitik wird es nur in bescheidenem Ausmaß geben können. Die Zinsen sind schon bei Null, und die EZB ist schon in einem aggressiven Programm der quantitativen Lockerung. Die Fed mag ihre angekündigte Zinswende fürs Erste verschieben, das ist alles an Unterstützung, was zunächst kommen kann. Makroökonomisch deutet die Baisse aller Finanzmärkte auf eine scharfe globale Konjunkturabkühlung auch in den OECD-Ländern hin. Wird eine Rezession eingepreist, werden die Märkte noch viel tiefer gehen.