Politik

Türkei hängt sich aus Angst vor starkem Russland an die USA an

Lesezeit: 3 min
03.10.2015 23:16
Die Nahost-Politik der Türkei ist nach Ansicht des Direktors am Washington Institute for Near East Policy Soner Çağaptay gescheitert. Die russische Intervention und der daraus möglicherweise resultierende Bedeutungsverlust der USA bringen den türkischen Präsidenten Erdogan auf die Verliererstraße.
Türkei hängt sich aus Angst vor starkem Russland an die USA an
Soner Çağaptay schaut mit Pessimismus auf den syrischen Konflikt. (Foto: BBG Strategy)

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie schätzen Sie den Umgang der Türkei und der EU im Umgang mit der Flüchtlingskrise ein?

Soner Çağaptay: Es ist völlig unerheblich, wie stark die Grenzen bewacht werden. Die syrischen Flüchtlings-Ströme werden unvermindert weiterlaufen. Die Menschen fliehen sowohl vor dem IS als auch vor dem Assad-Regime. Die Hauptursache liegt in der Tatsache, dass sich Syrien in einem Prozess befindet, der das Land regelrecht menschenleer werden lässt. Die Türkei hat in der Flüchtlings-Frage eine Politik der „offenen Tür“ umgesetzt. Viele Flüchtlinge in der Türkei leben mittlerweile außerhalb der Flüchtlingslager. Doch die Flüchtlinge haben mittlerweile erkannt, dass die Türkei an die Grenzen ihrer Möglichkeiten angelangt ist. Das ist der Grund dafür, warum so viele syrische Flüchtlinge aus der Türkei in die EU gelangen möchten.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie würden Sie die Rolle der Türkei in der Syrien-Krise einstufen?

Soner Çağaptay: Die Türkei hat sowohl im Irak als auch in Syrien eine geradlinige und freimütige Politik verfolgt. Diese Politik ist gescheitert. Die Türkei hat in der Region keine vertrauenswürdigen Erfüllungsgehilfen mehr. Eine Ausnahme bildet die Autonome Regierung Kurdistans im Nordirak (KRG). Wir können einen Bumerang-Effekt beobachten. Der Flüchtlingszustrom in die Türkei führt dazu, dass jene Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak auch ihre ethnischen und konfessionellen Konflikte in das Land importieren. Weiterhin gibt es eine neue regionale Allianz zwischen Russland, Syrien, dem Irak und dem Iran. Diese Allianz oder „Achse“ untergräbt die türkische Politik in Syrien. Die Türkei will den Sturz Assad, doch diese Allianz ist dagegen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was ist ihre Prognose für die anstehende Türkei-Wahl am 1. November?

Soner Çağaptay: Ich denke, dass wir dasselbe Ergebnis wie bei der Wahl am 7. Juli sehen werden. Die AKP wird wohl etwas über 41 Prozent erhalten. Die CHP könnte kleine Zugewinne verzeichnen und sowohl die HDP als auch die MHP werden annähernd auf dasselbe Ergebnis wie am 7. Juli kommen.

Die Türkei wird erneut ein Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse haben. Keine der Parteien wird die legislative Mehrheit erreichen. Die Türkei tritt leider in eine Periode der politischen Unklarheit ein, es sei die CHP und die AKP koalieren nach der Wahl. Zusammen würden beide Parteien etwa 70 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Die eine Seite steht für die Sozialkonservativen und die andere Seite für die Säkularen und Liberalen. Ein derartiger Koalitions-Block würde eine große Legitimation haben, um Reformen durchzusetzen und die beiden ungleichen und sich gegenseitig bekämpfenden Hälften in eine Kultur der Koexistenz zu bringen. Das wäre eine positive Entwicklung für die Türkei.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie würden Sie die Beziehungen der Türkei zu Russland, der EU und den USA einstufen?

Soner Çağaptay: Das türkisch-russische Verhältnis ist schizophren. In Syrien sind beide Staaten im Rahmen eines Stellvertreter-Kriegs direkte Konkurrenten. Doch beide Staaten haben sehr enge wirtschaftliche Beziehungen. Außerdem ist das Verhältnis zwischen Putin und Erdogan von gegenseitiger Empathie geprägt. Im Endeffekt hat Erdogan aus historischen Gründen Angst vor Russland. Das Osmanische Reich hat 20 sieglose Kriege gegen Russland geführt, von denen alle die Russen begonnen hatten. In Syrien will die Türkei keinen Konfrontationskurs gegen Russland fahren.

Die Türkei hat Angst vor einem Wiedererstarken Russlands - wie in Syrien und der Ukraine. Deshalb werden Russlands Schritte die Türkei dazu verleiten, näher an die USA zu rücken. Allerdings wird Obama unter keinen Umständen Bodentruppen nach Syrien entsenden. Die Türkei wird versuchen, ihre Syrien-Politik im Rahmen der Nato auszurichten. Die US-Streitkräfte gehören in Washington mittlerweile zu den schärfsten Kritikern der Türkei. Dieses Verhältnis wird sich wahrscheinlich so lange nicht verbessern, so lange die AKP die Regierung stellt. Aber das Weiße Haus, US-Außenministerium und weitere US-Behörden haben immer noch ein gutes Verhältnis zur Türkei.

Das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei befindet sich im politischen Niemandsland. Dasselbe kann man nicht für das Verhältnis der Türkei zu Russland und den USA sagen. Erdogan hat sich von der EU abgewendet, als er gemerkt hat, dass Deutschland und Frankreich eigentlich kein Interesse an einer Vollmitgliedschaft der Türkei haben. Er will keine Zeit mit der EU vergeuden.

Soner Çağaptay ist Direktor des Türkei-Programms am Washington Institute for Near East Policy, Washington DC. Seine Forschungsschwerpunkte sind derzeit die türkisch-amerikanischen Beziehungen und die türkische Innenpolitik. Er ist Absolvent der Yale-University und spricht neun Sprachen.


Mehr zum Thema:  

DWN
Panorama
Panorama Alarmierende Umfrage: Kriege und Klimakrise belasten Schüler in Deutschland
24.11.2024

Eine neue Umfrage zeigt: Viele Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind von Sorgen geplagt. Kriege, Klimakrise und Leistungsdruck...

DWN
Politik
Politik Nato-Generalsekretär trifft sich in Florida mit Trump
24.11.2024

Die zweite Amtszeit von Donald Trump wird in der Nato von vielen Alliierten mit Sorge gesehen. Schon vor dem Machtwechsel reist der...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Leerstand in Innenstädten: Decathlon setzt auf Expansion gegen die Krise
24.11.2024

Leerstand prägt deutsche Innenstädte. Doch Decathlon sieht Chancen: Bis 2027 sollen mehr als 60 neue Filialen entstehen – viele davon...

DWN
Finanzen
Finanzen DWN-Sonntagskolumne: The Rational Investor - warum Emotionen bei der Geldanlage schaden
24.11.2024

Als ich gehört habe, dass in einer Umfrage des ZDF vor der US-Präsidentschaftswahl am 5. November 2024 über 70 Prozent der Deutschen...

DWN
Politik
Politik Christian Lindners Vorwurf lautet: SPD strebt "Zerstörung" der Liberalen an
24.11.2024

Seit dem Bruch der Ampel-Koalition herrscht ein scharfer Ton zwischen SPD und FDP. Nun legt der entlassene Finanzminister nach. Die SPD...

DWN
Unternehmen
Unternehmen VW hält an Werksschließungen fest - Sparansage auch bei Bosch
24.11.2024

Im Streit um Einsparungen bei VW bleibt das Unternehmen hart: Die Kapazitäten sollen schnell runter. Die IG Metall reagiert in der...

DWN
Panorama
Panorama Sammelkarten als Wertanlage: Das Geschäft mit begehrten Karten
24.11.2024

Sammelkarten sind weit mehr als nur ein Zeitvertreib. Besonders seltene Karten erzielen zum Teil Rekordpreise. Was steckt hinter diesem...

DWN
Panorama
Panorama Migration, Terrorgefahr und Krieg: Die größten Sorgen der EU-Bürger
24.11.2024

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wird von Menschen in Osteuropa als ernste Bedrohung wahrgenommen. Doch betrachtet man die...